Ich habe Verständnis für die Verunsicherung. Diese Stichwortsammlung - mehr ist es nicht - ist in einem völlig anderen Zusammenhang für eine kommunale Arbeitsgruppe im Rahmen der Diskussion um das Quotale System - wenn Sie wissen, was das ist, Herr Kalinka - erarbeitet worden. Dieses Papier taugt jetzt nicht mehr, nicht einmal als Diskussionspapier. Deshalb ist es vom Tisch, und zwar nicht erst, seit Sie das Thema erkannt haben, sondern schon früher.
Worum geht es bei der Eingliederungshilfe wirklich? Es geht, abgesehen von den ambulanten Einzelhilfen, um Leistungen für behinderte Kinder, die im Vorschulalter heilpädagogisch betreut werden. Es geht um Leistungen für behinderte Jugendliche und junge Erwachsene, die Hilfen zur Schul- und Berufsausbildung erhalten, und es geht um Leistungen für behinderte Menschen, die in einer Werkstatt beschäftigt sind oder in einem Wohnheim oder in einer Behinderteneinrichtung betreut werden.
Meine Damen und Herren, all diese Menschen - es sind etwa 20.000 in Schleswig-Holstein - erhalten Eingliederungsleistungen aus der Sozialhilfe. Und die Sozialhilfe macht heute etwa 40 % aller Rehabilitationsleistungen aus. Sie ist damit der größte RehaTräger. Sie wissen, wer die anderen sind, es sind im Wesentlichen die Versicherungen. Also, die Sozialhilfe ist der größte Reha-Träger unter allen, die infrage kommen. Landkreise und kreisfreie Städte als
Träger der Sozialhilfe haben gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden eine vielfältige wohnortnahe und leistungsfähige Infrastruktur der Behindertenhilfe geschaffen. Diese Hilfen werden von den Betroffenen geschätzt. Und ich finde, wir können stolz darauf sein, dass wir eine gute Infrastruktur haben, dass wir nicht mehr die alten Schlafsäle haben, die nicht mehr erträglich wären, und dass wir auch nicht mehr Schlusslicht in der Behindertenhilfe sind, wie wir es jahrzehntelang in Schleswig-Holstein waren.
Trotz dieses Erfolges gibt es Anlass zu großer Sorge - und zwar in allen Bundesländern. Die Ausgabensteigerungen in diesem Leistungsbereich sind dramatisch - und ich benutze dieses Wort selten. Durchgängig haben sich in den letzten zehn Jahren die Aufwendungen der öffentlichen Haushalte für die Eingliederungshilfe fast verdoppelt. Von 1998 bis 2001 sind die Kosten bundesweit um mehr als 20 % gestiegen, in Schleswig-Holstein um knapp 25 %. Herr Kalinka, bitte hören Sie einmal zu, damit Sie das mit den Zahlen wenigstens „klarbekommen“.
In Schleswig-Holstein erhöhte sich die Eingliederungshilfe von 2000 bis 2001, also in einem Jahr statt in vier, um knapp 9 % auf insgesamt 400 Millionen €. Das ist bei weitem die höchste Steigerung im Bundesgebiet. Prognosen aufgrund bundesweiter Erhebungen gehen - auch unter Berücksichtigung der Frühförderstellen und der heilpädagogischen Kindergärten; da liegt die Hauptkostensteigerung - für die nächsten fünf Jahre von Steigerungsraten zwischen 30 und 50 % aus.
Vor diesen enormen Herausforderungen dürfen wir doch nicht die Augen verschließen und so tun, als ob wir uns damit nicht beschäftigen müssten. Es ist deshalb auf jeden Fall und zuvorderst unabdingbar, dass wir die notwendigen Hilfen mit höchster Effizienz erbringen, dass wir dieses Leistungssystem - der Herr Abgeordnete Baasch hat es schon gesagt - zügig absichern, bevor es uns finanziell zusammenbricht. Da liegt unsere Verantwortung, hauptsächlich da, und da bin ich im Sinne derjenigen betroffen, die unter einer Behinderung zu leiden haben, die mit einer Behinderung leben müssen.
Unser erster Schritt muss eine sorgfältige Analyse dieser Kostensteigerung sein. Es sind einige allgemeine Aussagen möglich, die zum Teil auch schon angeklungen sind. Die größte Zahl der Menschen mit Behinderung lebt in stationären Einrichtungen. Der ungebrochene Ausbau dieser Einrichtungsart hat ver
gessen lassen oder in den Hintergrund gedrängt, dass Menschen mit Behinderung ihre Lebensweise frei wählen wollen. Deshalb müssen Wohnformen, die eine stärkere Selbstbestimmung ermöglichen - nicht aus Kostengründen, sondern aus inhaltlichen Gründen - viel stärker in die Hilfeplanung eingehen. Der individuelle Hilfeplan muss eine viel größere Rolle spielen.
Das ist eine zentrale Forderung auch der Behinderten selbst, nicht so sehr der Träger der stationären Einrichtungen. Das wurde auch in Rendsburg deutlich. Insofern sollten Sie den Punkt 2, Herr Kalinka und meine Damen und Herren von der CDU, in Ihrem Antrag wirklich noch einmal überdenken.
Eine weitere Ursache für die Kostenentwicklung ist der Wertewandel. Wir haben zunehmend Menschen mit psychischen Problemen, Suchterkrankungen, wie Frau Birk schon sagte. Deshalb haben wir immer mehr Menschen in der Eingliederungshilfe, die aufgrund psychischer Erkrankungen kommen.
Ein weiterer Grund ist, das durchschnittliche Zugangsalter behinderter Menschen geht immer mehr zurück, sie werden immer jünger. Immer mehr Kinder und Jugendliche kommen in die Eingliederungshilfe.
Als letzte Punkte möchte ich hier die höhere Lebenserwartung und den medizinischen Fortschritt nennen.
Das macht deutlich, welche Dimension wir hier sozialpolitisch vor uns haben. Das erklärt aber noch lange nicht, warum wir in Schleswig-Holstein eine so auffällige Entwicklung haben, auffälliger als überall sonst im Bundesgebiet. Deshalb ist es richtig, dass sich die Landesregierung und die Kommunen seit etwa zwei Jahren - seit etwa zwei Jahren anscheinend von Ihnen unbemerkt! - in einem gemeinsamen Steuerungsvorhaben mit der Kostenentwicklung der Eingliederungshilfe befassen. Im Rahmen dieses Benchmarking, das wir auch für die Hilfe zum Lebensunterhalt durchgeführt haben, analysieren wir unter Berücksichtigung der Prüfungen des Landesrechnungshofs - das sage ich hier einmal mit aller Vorsicht - schwerpunktmäßig Strukturen, Entscheidungsprozesse und Veränderungen in der Eingliederungshilfe. Das ist ein sehr aufwändiges Verfahren, das nicht von heute auf morgen Ergebnisse bringt. Aber ich gehe davon aus, dass wir im Laufe dieses Jahres noch eine Datenbasis erreichen, auf der wir dann die landesspezifischen Ursachen für die Ausgabenentwicklung ausfindig machen können, und auf der Grundlage wir gezielt Steuerungsmöglichkeiten entwickeln können.
Für die politischen Zielvorgaben bei diesem Steuerungsvorhaben nenne ich noch einmal vier Grundsätze:
Erstens. Ein leistungsfähiges, an den individuellen Bedürfnissen der Menschen orientiertes und qualifiziertes Angebot, muss auch in Zukunft sichergestellt werden. Das ist eine Banalität, eine Selbstverständlichkeit.
(Vereinzelter Beifall bei der SPD und Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Zweitens. Es muss gewährleistet sein, dass die öffentlichen Mittel der Eingliederungshilfe wirtschaftlich und zielgerichtet für die betroffenen Menschen eingesetzt werden.
Drittens. Die Analyse muss sich vor allem auf die Kostensteigerungen im System erstrecken, die den behinderten Menschen nicht unmittelbar zugute gekommen sind. Und ich zitiere hierzu aus der Zeitschrift „Der Eppendorfer“die nicht verdächtig ist, nicht Partei für die Behinderten zu ergreifen. Dort schreibt der Herausgeber in einem Kommentar: „Es ist noch Luft drin.“ Genau diese Luft müssen wir finden und die müssen wir rausdrücken aus dem System, damit alles, was wir an Geld haben, auch den Menschen mit Behinderung direkt zukommt. Darum geht es.
Ich wiederhole: Es gibt aus meinem Haus keinen Entwurf, keine Handlungsanweisungen und Handlungsvorschläge, die sich in irgendeiner Form mit einem Leistungsabbau befassen. Es gibt dieses Papier, von dem hier gesprochen worden ist. Ich habe die Wohlfahrtsverbände und die Verbände der Behindertenhilfe in der vergangenen Woche in einem ausführlichen Gespräch informiert. Ich habe auch dort gesagt, dass dieses Papier keine weitere Rolle spielen soll. Nebenbei gesagt stehen dort auch Punkte drin, die rechtlich gar nicht umgesetzt werden können.
Und ich werde in der nächsten Sitzung des Sozialausschusses des Landtages auf meine Bitte hin zu diesem Thema zu Gast sein. Ich möchte mich damit gern sehr viel detaillierter befassen, als das heute möglich ist. Deshalb komme ich in den Sozialausschuss. Das tue ich, mit oder ohne den Antrag der CDU.
Zu einem Kurzbeitrag nach § 58 Abs. 2 der Geschäftsordnung erteile ich jetzt Herrn Abgeordneten Kalinka das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Immer dann, wenn vonseiten der Opposition sozialpolitische Vorstöße kommen, antwortet man darauf nur mit dem Versuch der Arroganz.
Ich finde es unterhalb jeder Würde, wenn in manchem Kurzbeitrag ständig mit Hinweisen auf fehlendes Wissen und so weiter argumentiert wird.
Es tut Ihnen in Wirklichkeit weh, dass dieses Thema nicht von Ihnen auf die Tagesordnung gesetzt worden ist, sondern von der Opposition. Das ist das Problem, das wir hier im Land Schleswig-Holstein haben, Herr Baasch.
(Beifall bei der CDU - Zuruf des Abgeordne- ten Wolfgang Baasch [SPD] - Anke Spoo- rendonk [SSW]: Es gibt auch CDU- Kollegen, die Ahnung haben!)
Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt. Frau Ministerin Moser, Sie haben doch eigentlich dargelegt, dass Sie keine gute Übersicht über die Situation haben. Wenn Sie die Entwicklung seit Jahren beobachtet hätten, dann müssten Sie diesem Haus doch eigentlich eine genauere Analyse der Ursachen vorlegen können. Nichts von alledem! Wenn es in bestimmten Fragen der Sozialhilfe Luft gäbe, dann hätten die Sozialhilfeträger das doch selbstverständlich längst erkannt.
Ihr Problem ist, dass Sie die Frage nicht beantworten können, Frau Ministerin Moser, ob Sie die Standards insgeheim nicht doch herabsetzen wollen.
Denn wenn Sie bei den jetzigen bleiben, dann werden Sie damit rechnen müssen, dass es aufgrund der Mehranforderungen, die kommen werden, zu einer ungeahnten Kostenentwicklung kommen wird.
Das ist Ihr politisches Problem, vor dem Sie stehen, und das wissen Sie auch ganz genau, dass Sie diese Frage im Moment nicht beantworten können.
Dass es mit Ihrer Übersicht im Land nicht so gut bestellt ist, das haben wir ja gerade gestern beim Thema Kindertagesstätten erfahren. Sie haben ja jetzt dem Finanzausschuss mitgeteilt, Sie brauchten 3 Milli
onen € nachträglich für das Jahr 2002. Hätten Sie auf den Antrag der Union zum Haushalt 2003 gehört, hätten Sie dieses Problem gar nicht gehabt, sondern das ganze Ausmaß der Angelegenheit erkannt. Die Übersicht, die Sie zu diesen Dingen geben, ist also nicht so doll.
Letzter Punkt ist die Frage, ob das Ihr Papier ist oder nicht. Alles das, was aus Ihrem Haus kommt, Frau Ministerin, müssen Sie sich schon politisch zurechnen lassen. Dies gilt umso mehr, als dies ein Papier vom September ist, das Sie monatelang nicht zurücknehmen oder korrigieren - trotz aller Hinweise -, und dass Sie bis zu dieser Landtagsdebatte brauchen, um jetzt in dieser politischen Debatte zu sagen: Es war doch nicht so gemeint.
Das ist das Problem, vor dem Sie hier in der gesamten Diskussion stehen. Über Monate haben Sie es hingenommen, dass ein solches Papier zu großer Verunsicherung geführt hat. Erst nachdem wir Sie durch unsere parlamentarische Initiative gezwungen haben, Farbe zu bekennen, sind Sie in die Puschen gekommen. Das ist Ihr Problem und das finde ich sehr schade.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist mir wichtig, dass im Protokoll eine Richtigstellung steht. Dieses Papier ist unautorisiert veröffentlicht worden - nicht von uns, sondern vom Landkreistag. Ich bin darauf aufmerksam geworden, als es Briefe gab. Ich habe daraufhin am 6. Dezember an alle Verbände geschrieben und mitgeteilt, worum es geht und worum es nicht geht. Es tut mir Leid, wenn Sie das alles nicht wissen, vielleicht auch nicht wissen konnten. Das interessiert hier aber auch nicht.
Ich wehre mich dagegen, dass hier in dieser Debatte Unterstellungen gemacht werden, die einfach falsch sind. Dies ist nicht mein Problem, es ist vielleicht das Problem der CDU-Fraktion.
Ich möchte, dass wir in der Sache diskutieren, und ich möchte, dass wir uns wirklich informieren. Dazu
gehört dann auch ein gelegentlicher Blick in BSHG, wenn Sie hier immer über Standards reden, die die Landesregierung macht. Dazu gehört vielleicht ein Gespräch mit Ihrem Landrat; der könnte Sie über manches aufklären, denn die Kommunen zahlen im quotalen System deutlich mehr als wir. Über die „Luft“ die darin ist, darüber können wir im Detail noch einmal reden.