Protocol of the Session on May 12, 2000

In Lübeck diskutiert man die Einrichtung einer Anlaufstelle, um Eltern mit ihren schreienden Kindern zu helfen. Gefordert wird ein niedrigschwelliges Angebot für Krisensituationen rund um die Uhr. Dabei soll es zu einer engen Zusammenarbeit von Sozialeinrichtungen, Kinderärzten und Hebammen kommen. Im Mittelpunkt eines solchen Netzwerkes muss der Aufbau guter Kontakte zu den Eltern stehen. Mir ist es wichtig zu betonen, dass ich eine enge Kooperation mit Kinderkliniken für unabdingbar halte. Beratung und medizinische Versorgung müssen eng ineinander greifen. Außerdem gebe ich zu, dass bei einer Realisierung vor Ort große Finanzierungsprobleme entstehen können. Das sollten wir in dieser Debatte nicht verkennen.

Da es sich aber um eine landesweite Problematik handelt, möchte ich nicht nur die Entwicklung in Lübeck abwarten. Wir fordern mit unserer Landtagsinitiative die Landesregierung auf, dem Landtag zu dieser Problematik einen Bericht vorzulegen, der im zuständigen Fachausschuss intensiv mit unterschiedlichen Organisationen diskutiert und ausgewertet werden soll. Ich finde es gut, dass dies zu einer gemeinsamen Landtagsinitiative aller Fraktionen geworden ist.

In Zukunft sollten zum Beispiel alle Kinderärzte so ausgebildet sein, dass sie unter anderem auch auf psychosoziale Probleme von Müttern eingehen können. Noch viel schwieriger wird es allerdings sein, auf die Probleme der Väter einzugehen, die Probleme in ihrer familiären Situation haben.

Benötigt werden auch Informationen über die familienentlastenden Maßnahmen der Sozialämter, wie zum Beispiel die vorübergehende Finanzierung von Haushaltshilfen. Außerdem ist eine Aufklärungskampagne gefordert, die Eltern auf die Gefahren eines Schütteltraumas hinweist. Dabei bin ich mir darüber bewusst, wie unendlich schwer es sein wird, diese Informationen verständlich an problembeladene Elternteile weiterzuleiten.

Meiner Meinung nach ist es das Thema wert, dass wir uns dieser Problematik annehmen. An der Problemlösung sollen nach Auffassung der CDU-Fraktion die Kinderschutz-Zentren, der Deutsche Kinderschutzbund, Familienbildungsstätten, Beratungsstellen, Kinderärzte, Psychologen und kirchliche Einrichtungen beteiligt werden. Ich freue mich auf die Diskussion im Fachausschuss und hoffe, dass wir dann auch mit unseren kommunalen Vertretern zu gemeinsamen Lösungen kommen.

(Beifall bei CDU, F.D.P., BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Herr Abgeordneter Geerdts, bevor wir zur Abstimmung kommen, haben wir noch einige weitere Wortmeldungen. Ich erteile der Frau Abgeordneten Schlosser-Keichel das Wort zu ihrem ersten Debattenbeitrag in der 15. Legislaturperiode.

(Beifall bei der SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das „Hamburger Abendblatt“ hat kürzlich die Frage gestellt: Was sind das für Eltern, die ihre Kinder misshandeln? Die Antwort, die Elisabeth Trube-Becker, ein Gründungsmitglied des Deutschen Kinderschutzbundes, in dem dann folgenden Interview gegeben hat, lautet so:

„Misshandlungen und Gewalt gegen Kinder kommen in allen Kreisen - ohne Rücksicht auf Nationalität, Volksgruppe oder Religion vor. Fromme Leute misshandeln ihre Kinder genauso wie andere, Ärzte genauso wie Hilfsarbeiter. Mutter und Vater sind oft in gleicher Weise beteiligt.“

Und „die Dunkelziffer ist sehr hoch“, heißt es weiter in dem Interview. Oft sind besonders junge Eltern betroffen oder Täter.

Die Ursache für Gewalt gegen Kinder liegt oft in Unsicherheit, auch in der Überforderung der Eltern, die ja eigentlich nur das Beste für ihre Kinder wollen, aber das mit aller Macht.

Die so genannten „Schreikinder“ fordern ihre Eltern in ihren ersten Lebensmonaten, oft im gesamten ersten Lebensjahr, in der Tat in einem unglaublichen Maß. Es gibt keine Ruhephasen mehr, denn diese Kinder schlafen üblicherweise eben nur mal eine halbe Stunde am Stück. Das bedeutet für die Mutter: nicht mehr in Ruhe essen, nicht mehr in Ruhe duschen, geschweige denn schlafen zu können. Das bedeutet - zusätzlich zu den Umstellungen, die ein Neugeborenes ohnehin fordert - Dauerstress und Überforderung für die ganze Familie.

Wie soll man nun mit dem Problem umgehen? Patentrezepte gibt es sicherlich nicht. Ein Punkt wäre: Ich bin überzeugt davon, dass wir so etwas wie eine Elternschule brauchen, die schon Jugendliche auf Konflikte in ihrer künftigen Familie vorbereitet und auch darauf, dass Kinder eben nicht immer die süßen Babys aus den Hollywood-Filmen und mit denen zu vergleichen sind.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt konkrete Ansätze dafür. Gestern hat zum Beispiel im Kreis Schleswig/Flensburg eine Fortbildungsveranstaltung des Kreisjugendamtes für Mitarbeiter aus Schule und Jugendarbeit unter dem Motto „Elternschaft lernen“ stattgefunden. Ich denke, dass dies ein guter Weg ist und dass Schule und Jugendarbeit ein richtiger Ort für diese Art von Elternschule sind. Diese Geschichte sollten wir weiter verfolgen.

(Beifall bei der SPD und des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [F.D.P.])

Wir brauchen natürlich auch konkrete Hilfestellungen, wie Thorsten Geerdts sie gefordert hat, für den Konfliktfall. Es gibt auch schon entsprechende Angebote, und ich wünschte mir, dass es dazu nicht nur den Bericht der Ministerin im Sozialausschuss gibt, sondern dass Kinderschutzbund und Familienberatungsstellen, Ärzte und Selbsthilfegruppen - ich habe gesehen: die gibt es sogar im Internet - und so weiter Gelegenheit bekommen, dem Sozialausschuss im Rahmen einer Anhörung darzustellen, dass es diese Möglichkeiten für die geplagten Eltern dieser „Schreikinder“ gibt und wo sie zu finden sind, und gegebenenfalls eben auch die Lücken aufzuzeigen.

Die Eltern müssen wissen, dass sie Anspruch auf Hilfe in Konfliktsituationen haben; aber die Eltern müssen auch wissen, dass Gewalt einfach nicht zu akzeptieren ist, so sehr die Eltern auch belastet sind. Es muss in alle Köpfe hinein, dass in unserer heutigen Gesellschaft Gewalt in der Erziehung keinen Platz mehr hat.

(Beifall)

Gewalt - das sind eben nicht nur die schweren Prügel, Gewalt sind auch die Ohrfeigen, die angeblich noch niemandem geschadet haben, und Gewalt ist auch das Schubsen, Kneifen und Stoßen. Und Gewalt ist eben auch das Schütteln, das vermeintlich so harmlos ist, das aber bei Säuglingen - Thorsten Geerdts hat es bereits gesagt - schwere gesundheitliche Schäden bis zur Blindheit bewirken und sogar tödliche Folgen haben kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt in der Erziehung darf einfach nicht länger gesellschaftsfähig sein. Deshalb hoffe ich, dass sich eine breite Mehrheit wie heute für den ursprünglichen CDU-Antrag demnächst finden wird, denn demnächst wird es in Berlin darum gehen, einen Gesetzentwurf von SPD und Grünen zu verabschieden, der Gewalt in der Erziehung ächtet und übrigens gleichzeitig auch Hilfen für die Eltern anbietet. Denn es kann dabei nicht darum gehen, die Eltern zu kriminalisieren. Es geht vielmehr darum, Gewalt in der Erziehung zu ächten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es reicht nicht aus, empört aufzuschreien, nach Hilfekonzepten zu rufen, wenn wieder einmal eine Schlagzeile darüber berichtet, dass ein Kind - ja - totgeschlagen worden ist, totgeschüttelt worden ist. Wir müssen unsere Grundeinstellung Kindern gegenüber ändern und ich bitte Sie alle - auch Sie auf der rechten Seite des Hauses -, dazu beizutragen.

(Beifall im ganzen Haus)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Dr. Garg das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Schlosser-Keichel, ich denke, dass wir bereit sind, an konstruktiven Lösungen mitzuarbeiten, haben wir schon dadurch gezeigt, dass es - was auch ich wunderschön finde - zu einem interfraktionellen Antrag gekommen ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe mir das Gesicht meines Fraktionsvorsitzenden vorgestellt, wenn ich mich heute vor ihn hinstelle und mich als Experte für „Schreikinder“ ausgebe. Dieses Grinsen wollte ich mir offen gestanden ersparen, denn er hätte ja Recht.

(Holger Astrup [SPD]: Soll er doch lieber selbst reden!)

- Ich weiß nicht, inwieweit er Experte für „Schreikinder“ ist, aber aus diesem Grund will ich mich den Worten meiner Vorrednerin und meines Vorredners weitgehend anschließen. Gestatten Sie mir, nur noch zwei Punkte anzumerken.

Ich freue mich auf die Informationen, die uns im Sozialausschuss gegeben werden, um später auch die entsprechenden Konsequenzen daraus ziehen und hoffentlich auch die richtigen Entscheidungen treffen und mittragen zu können.

Lassen Sie mich abschließend noch sagen, dass ich mich natürlich freue, dass es auch in dieser Legislaturperiode bei ganz bestimmten, auch wichtigen sozialpolitischen Themen möglich geworden ist, zu Vereinbarungen oder zu Anträgen und Initiativen zu kommen, die von allen Fraktionen dieses Hauses mitgetragen werden.

(Beifall im ganzen Haus)

Frau Abgeordnete Fröhlich, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dies ist wohl tatsächlich ein Thema, das sehr weit gespannt und sehr komplex ist. Ich nenne einmal zwei Nachrichten, die ich in der letzten Zeit - zum Teil heute - erhalten habe.

Der Kirchenkreis Husum-Bredstedt macht anlässlich des Tages der Familie auf Armut in Familien aufmerksam. 37 % der Sozialhilfeempfänger sind Kinder. Gleichzeitig führt er eine Ausstellung in der Husumer

Marienkirche unter dem Titel „Ohne Arbeit kein Vergnügen - Kinderarbeit - Arme Frauen in der Bundesrepublik Deutschland“ durch. Dies ist der eine Punkt, den ich nennen möchte. Zum anderen nenne ich einen nachdenkenswerten Beitrag von Annette Schavan für eine Rundfunkserie im Deutschlandradio unter dem Motto „Reformwerkstatt“. Die Überschrift dieses Beitrags heißt: „Die Familie in der Globalisierungsfalle“.

Ich sage das deswegen, weil ich glaube, dass wir es bei diesem Thema tatsächlich mit einem Thema zu tun haben, das sehr, sehr vielfältig und auch sehr schwer zu beackern ist.

Unsere Gesellschaft ist generell kinderfeindlich und familienfeindlich. Das ist sie seit Jahren und sie nimmt leider auch seit Jahren im europäischen Vergleich immer noch einen schlechten Platz irgendwo am Ende einer Skala ein. Das müsste uns zu denken geben. Das setzt sich aus sehr vielen und sehr unterschiedlichen Facetten zusammen. Ich habe jetzt nur einmal zwei genannt.

Wenn Wissenschaftler erklären, dass Kindheit ein relativ neues kulturelles und historisches Phänomen ist,

(Wolfgang Kubicki [F.D.P.]: Das hat damit doch nichts zu tun!)

reflektieren sie selten darüber, ob dies eigentlich ein ausschließlich positives Phänomen ist. Offen bleibt nämlich die Diskussion über die Qualität von KindSein und über die Qualitätsanforderungen an ElternSein. Ein bisschen verballhornt kennen wir das in dem Spruch von Wilhelm Busch: „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr“, der sich dann auch noch in einem Filmtitel niedergeschlagen hat. Das wird Ihnen alles im Bewusstsein sein. Das umreißt ja auf eine etwa spaßige Art und Weise eigentlich auch einen Teil des Problems. Frau Schlosser-Keichel hat darauf hingewiesen, dass wir im Grunde eher darauf vorbereitet werden, sozusagen süße Babys im Arm zu halten, aber nicht auf durchwachte Nächte, nicht auf Ängste um Fiebererkrankungen, nicht auf den Verzicht auf viele, viele Annehmlichkeiten des Lebens, die kinderlose Menschen in dieser Gesellschaft selbstverständlich genießen.

(Beifall des Abgeordneten Karl-Martin Hent- schel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Nicht nur Berichte in den Medien über erschreckende und bedauernswerte Kurzschlusshandlungen überforderter Eltern machen uns bildhaft deutlich: Kinder sind in unserer Gesellschaft nicht mehr Geschenke

(Irene Fröhlich)

Gottes, sondern sie sind eher gefährdete Produkte unserer Gesellschaft.

(Anhaltender Widerspruch bei CDU und F.D.P. - Klaus Schlie [CDU]: Was ist das denn für ein Quatsch!)

Eltern-Sein wird zu einem fast nicht mehr zu bewältigenden Balanceakt.

(Anhaltender Widerspruch)

Sie sind nur die Spitze des Eisberges. Aber bewegen Sie sich doch einmal ganz normal als Mutter oder Vater mit mehreren kleinen Kindern im öffentlichen Raum. Was schlägt Ihnen entgegen? - Mitleid, Verwunderung, Unverständnis, genervte Blicke, dumme Bemerkungen, Ärger über die Lautstärke oder den Bewegungsdrang Ihrer Kinder,

(Anhaltende Unruhe)

fast nie oder nur sehr selten Verständnis oder gar Unterstützung, wenn überhaupt, höchstens einmal von einer anderen Mutter, die sich als Leidensgenossin auf Ihrer Seite fühlt.