Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Fall Bogner, der mittlerweile zu einem Fall Lütkes geworden ist, habe ich in den vergangenen Tagen interessante Erklärungen der Sozialdemokraten vernommen. Der Fraktionsvorsitzende, Kollege Lothar Hay, verwechselt Zurückhaltung mit Rückzug. Die Sozialdemokraten fordern - wie ich meine, zu Recht -, die Unschuldsvermutung zu beachten und von Vorverurteilungen abzusehen. Im Rahmen partieller Prinzipienlosigkeit der Genossen gilt dies allerdings nur für die Ihren, während sie in Schleswig-Holstein und anderswo genau diese Prinzipien bei politischen Konkurrenten nicht gelten lassen.
Frau Ministerin Lütkes hat einen Anspruch darauf, dass der Ausbruch des Strafgefangenen Bogner und die diesen Ausbruch begünstigenden Fehlentscheidungen und Versäumnisse im Vollzug nicht zu Wahlkampfzwecken missbraucht werden. Aber Ministerin Lütkes hat keinen Anspruch darauf, dass wir auf Aufklärung verzichten und Konsequenzen nicht anmahnen, nur weil gerade Wahlkampf ist.
Ministerin Anne Lütkes muss sich an ihren eigenen Maßstäben messen lassen. Am 7. April 2000 erklärte die frisch gewählte grüne Justizministerin Anne Lütkes in einer Pressemitteilung:
„Die weitere Entwicklung des Strafvollzugs in Schleswig-Holstein ist ein zentraler Punkt meines Arbeitsprogramms und steht auf unserer rechtspolitischen Prioritätenliste ganz oben. Entwicklung des Strafvollzuges bedeutet dabei zweierlei: Zum einen geht es darum, die Sicherheit der Justizvollzugsanstalten zu gewährleisten. Zum anderen gilt es einen menschenwürdigen und humanen Vollzug zu sichern, um so den Resozialisierungsauftrag des Strafvollzugsgesetzes zu verwirklichen.“
Die Justizministerin ist gescheitert. Sie hat ihrem eigenen Anspruch nicht genügt, die Sicherheit des Strafvollzugs in Schleswig-Holstein zu gewährleisten. Sie diskreditiert durch ihr Verhalten die Möglichkeit, den Resozialisierungsauftrag des Strafvollzugsgesetzes zu verwirklichen.
men. Es war möglich, dass der Serienausbrecher Bogner aus der Justizvollzugsanstalt Lübeck fliehen und auf seiner Flucht eine arglose Person, den Landschaftsgärtner Danielsen, ermorden konnte, um dessen Identität anzunehmen. Dies war möglich, obwohl bekannt war, dass es sich bei Bogner um einen siebenfachen Ausbrecher handelte, der bereits einmal aus einer Gefängnisschlosserei ausgebrochen war, der bereits beim vorigen Ausbruch die Identität einer anderen Person angenommen hat, die seit dieser Zeit vermisst wird, der seinerzeit bereits wegen Mordes an dieser Person angeklagt worden war und nur deshalb freigesprochen wurde, weil die Leiche bisher nicht gefunden wurde.
Bereits heute steht fest: Wären im Zuständigkeitsbereich der Justizministerin nicht so viele haarsträubende Fehler geschehen, hätte das Justizministerium und hier die zuständige Abteilung 2 die fachlich gebotene Aufsicht über die Vollzugsleitung in der JVA Lübeck wahrgenommen, dann könnte Herr Danielsen heute noch leben.
Herr Kollege Puls, ich zitiere die Ministerin: „Wenn wir gewusst hätten, dass er in einer Schlosserei arbeitet, hätten wir das unterbunden.“
Es war dem Ministerium bekannt, welches Kaliber mit Bogner in Lübeck untergebracht war. Es war dem Ministerium bekannt, welche persönlichen Probleme der Vollzugsleiter hatte, den man mit der Aufgabe einer Vollzugsplanung für Bogner allein ließ. Es war bekannt, welche Sicherheitsmängel es in der Schlosserei gab und welche Personalmängel im allgemeinen Vollzugsdienst vorherrschten, weil Vollzugsbedienstete zu Verwaltungsaufgaben abgezogen wurden, die durch die Weigerung des Finanzministeriums, zusätzliche Verwaltungsstellen zu bewilligen, nach Auskunft des Justizministeriums hätten zweckentfremdet werden müssen.
Ich will jetzt keine internen Geschichten erzählen. Ich weigere mich, so etwas zu tun. Aber ich bin, wenn diese Form der Debatte anhält, gern bereit, all das, was wir aus internen Protokollen wissen, auch der Öffentlichkeit zu präsentieren, um mir nicht den Vorwurf gefallen zu lassen, wir wüssten nicht, wovon wir reden. - Trotzdem hat das Ministerium sich nicht veranlasst gesehen, seiner Fachaufsicht zu genügen und wenigstens nachzufragen, wie ein siebenmal erfolgreicher Ausbrecher in der JVA Lübeck untergebracht ist.
Die Ministerin räumt selbst ein, dass Bogner nie hätte in der Schlosserei arbeiten dürfen. Sie hat uns erklärt - ich sagte es bereits -, das Ministerium hätte dies unterbunden. Das Ministerium hätte dies wissen
Hierin liegt der zentrale Vorwurf, den ich auch als Person gegenüber einer Ministerin erhebe, die ich ansonsten in ihrer Fachlichkeit schätze, und den in Wahrheit auch die Kollegin Fröhlich in der ihr eigenen charmanten Art im Innen- und Rechtsausschuss mit der Bemerkung festgestellt hat - ich zitiere -, die Vielzahl der Fehler und Versäumnisse, die unglücklichen Umstände erzwängen geradezu eine neue Supervision. Ich habe dazwischengerufen: Das heißt zu Deutsch: Fachaufsicht. Wir stimmen ihr zu: Dies erzwingt eine neue Fachaufsicht.
Die Ministerin hat in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken versucht, ihr beziehungsweise ihrem Haus seien durch das Strafvollzugsgesetz die Hände gebunden gewesen, es sei weder Praxis noch von Gesetzes wegen geboten, sich seitens des Ministeriums in die einzelne Vollzugsplanung einzumischen. Dies ist, gemessen am Empfängerhorizont, eine schlichte und unverschämte Lüge; denn niemand will, dass das Ministerium in jedem Einzelfall Vollzugsentscheidungen trifft, obwohl es dies im Einzelfall auch könnte. Aber es ist nicht hinnehmbar, den Eindruck zu erwecken, es sei unüblich oder von Gesetzes wegen verboten, sich seitens des Ministeriums danach zu erkundigen, wie ein erfolgreicher Serienausbrecher in der JVA untergebracht ist.
Nach dem Tod von Herrn Danielsen hat das Ministerium durchaus gehandelt. Folgende Maßnahmen werden ergriffen:
Erstens. Nunmehr werden die Erhebungsbögen für die Vollzugsplanerstellung und den Vollzugsplan und seine Fortschreibung über die gesetzlichen Vorgaben des Strafvollzugsgesetzes hinaus verändert, um sicherzustellen, dass Sicherheitsbelange ausreichend geprüft und dokumentiert werden. Das Ministerium wird Überprüfungen vornehmen.
Zweitens. Bei besonders gefährlichen Gefangenen und Sicherungsverwahrten wie Bogner sind dem Ministerium die beabsichtigten Vollzugsplanentscheidungen und Fortschreibungen vorzulegen.
Hierzu stelle ich Folgendes fest: Man hat im Ministerium gelernt. Das Ministerium räumt ein, dass in der
Vergangenheit Sicherheitsbelange nicht ausreichend geprüft wurden und dass eine Überprüfung der Vollzugsplanung durch das Ministerium in besonderen Fällen notwendig ist. Es räumt ein, dass das SichHeraushalten des Ministerium aus der Vollzugsplanung besonders gefährlicher Straftäter ein Fehler war. Ansonsten machten die nun vom Ministerium angekündigten Maßnahmen auch keinen Sinn.
Der Preis für diese „Fortbildung“ des Ministerium war allerdings zu hoch. Diesen Preis bezahlte der Landschaftsgärtner Danielsen mit dem Leben.
Die Ministerin hat gesagt, sie übernehme die politische Verantwortung für die Versäumnisse in der JVA Lübeck. Sie übernimmt damit die politische Verantwortung für den Ausbruch Bogners und damit auch für den Tod Danielsens.
Die Ministerin hat den Begriff der politischen Verantwortung aber völlig entstellt: Die politische Verantwortung übernehme sie dadurch, dass sie gerade wegen der Fehler im Justizvollzug in Lübeck Ministerin bleiben müsse, um die Vorfälle um den Ausbruch aus der JVA Lübeck und den Mord am Landschaftsgärtner Danielsen aufzuarbeiten und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Sie will also das besser machen, was in der Vergangenheit schief gelaufen ist.
Aber warum hat die Ministerin dann die Anstaltsspitze suspendiert und ausgetauscht, die doch auch das besser machen wollte, was schief gelaufen war?
Darauf, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sie sich nicht verlassen beziehungsweise verlassen wollen. Sie hat die Anstaltsleitung nicht ihre Verantwortung wahrnehmen lassen, sondern ihr die Verantwortung entzogen.
Genau dies verlangen wir heute von der Ministerpräsidentin dieses Landes im Verhältnis zu ihrer Justizministerin.
Mit dem bisherigen Verhalten von Frau Lütkes übernimmt man keine politische Verantwortung, so macht man sich davon. Die Ministerin lässt in der JVA Lübeck kleinere Köpfe rollen, um einige größere Köpfe im Ministerium und ihren eigenen Kopf zu retten.
Gerade wegen meiner persönlichen und unserer politischen Nähe zur Position von Ministerin Lütkes in Justizfragen fällt es mir wirklich nicht leicht, die Forderung nach ihrer Entlassung zu erheben. Aber sie ist notwendig, wenn der Begriff der politischen Kultur, wenn der Begriff der politischen Verantwortung überhaupt noch einen Sinn haben soll.
Dabei mache ich es mir nicht so leicht wie Sozialdemokraten und Grüne anderswo, die zum Beispiel in Hamburg den Rücktritt des Justizsenators fordern, weil in einem der örtlichen Gefängnisse ein Wachturm zeitweise unbesetzt blieb. Ich mache es mir auch nicht so leicht wie die Grünen in Sachsen-Anhalt, die im letzten Jahr den Rücktritt des dortigen Justizministers forderten, weil dieser angeblich in ein Stellenbesetzungsverfahren eingegriffen haben soll. Ich mache es mir nicht so leicht wie die Sozialdemokraten in Baden-Württemberg, die den Rücktritt der dortigen Justizministerin Werwig-Hertnick forderten, die der FDP angehört, weil diese angeblich ihre Ministerkollegen über ein Ermittlungsverfahren unterrichtete, was in Schleswig-Holstein, wie ich gelesen habe, im Falle Uwe Mantik eigentlich Dienstpflicht ist.
Aber ich frage: Was kann einer Justizministerin oder einem Justizminister eigentlich Schlimmeres passieren, als dass nach einem vermeidbaren Ausbruch eines Schwerverbrechers aus einem Gefängnis, beruhend auf massiven Fehlern im eigenen Organisationsbereich, ein unschuldiger Mensch umgebracht wird?
Ministerinnen und Minister, die ihre politische Verantwortung ernst nehmen, wären längst zurückgetreten, hätten ihr Scheitern erklärt und einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger den Weg freigemacht, um die Versäumnisse aufzuarbeiten. Warum glaubt eigentlich Ministerin Lütkes als Betroffene, die Sache besser aufarbeiten zu können als ein neuer Minister, der unbefangen und ohne Rechtfertigungsdruck an die Aufklärung gehen könnte?
Der Rücktritt von Ministerin Lütkes wäre folgerichtig, aber das ist eine Frage des Charakters, das ist eine Frage der Persönlichkeit, das ist eine Frage des Mutes und das ist eine Frage der Größe.
So erklärte beispielsweise der frühere Bundesinnenminister Rudolf Seiters - der Kollege Wadephul sagte es bereits - seinen Rücktritt, nachdem bei einer Festnahmeaktion ein vermuteter terroristischer Straftäter unter nicht aufgeklärten beziehungsweise nicht aufklärbaren Umständen erschossen worden war, obwohl er dafür keine persönliche Verantwortung trug.
So hat der parteilose Justizminister von Brandenburg, Hans Otto Bräutigam, im Jahre 1998 nach dem Ausbruch des Schwerverbrechers Sergej Serow aus der JVA Potsdam unaufgefordert Ministerpräsident Stolpe seinen Rücktritt angeboten. Das tat er, obwohl ihn keine persönliche Schuld traf.
Das ist Größe. Ich stelle fest, dass die Justizministerin des Landes Schleswig-Holstein diese Größe nicht
besitzt. Das ist einem Mitglied einer schleswigholsteinischen Landesregierung nach meiner Auffassung nicht würdig. Deshalb ist Frau Lütkes zu entlassen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Gewaltverbrecher ist aus einer Haftanstalt in Schleswig-Holstein entflohen und hat einen Menschen kaltblütig ermordet. Das ist ein Anlass für alle Beteiligten und insbesondere die zuständige Ministerin, genauestens zu klären: Welche Fehler haben die Flucht des Gefangenen ermöglicht? Gibt es Fehler in der Einrichtung, in der Ausstattung oder bei den Regularien der Justizvollzugsanstalt Lübeck? Hat die Ministerin in den vergangenen Jahren alles Nötige getan, um die Sicherheit in den Haftanstalten zu gewährleisten?
Meine Damen und Herren, wer in ein Amt gewählt wird oder ein Mandat wahrnimmt, übernimmt damit eine politische Verantwortung. Das gilt für eine Ministerin genauso wie für den Fraktionsvorsitzenden einer Regierungspartei und für jeden Politiker, der an politischen Entscheidungen, auch im Parlament, beteiligt ist.
Die Frage lautet also heute nicht, ob die Ministerin oder andere hier im Raum politische Verantwortung für das tragen, was im Strafvollzug geschieht. Das tun sie. Die Frage ist vielmehr, ob die Ministerin dieser Verantwortung vor und nach der Flucht des Häftlings gerecht geworden ist. Deswegen habe ich mich mit den von mir gestellten Fragen gründlich beschäftigt.