Protocol of the Session on March 10, 2004

Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Diese Probleme werden mit der EU-Osterweiterung weiter verschärft. Wir werden es mit neuen Konkurrenten zu tun bekommen, die hungrig nach Wohlstand sind, die leistungsbereite, gut ausgebildete Arbeitnehmer, niedrige Steuern und Abgaben vorweisen können und die unmittelbar vor unserer Haustür liegen. Hinzu kommt die hohe Vitalität dieser Beitrittsländer. Das Durchschnittsalter der Polen liegt unter 30 Jahren, das der Deutschen heute schon bei 41 Jahren, Tendenz rasant steigend.

Vor diesem Hintergrund die Zumutbarkeit der Arbeitsaufnahme von Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängern an die Bedingung von Mindestlöhnen zu knüpfen, ist verantwortungslos.

(Beifall des Abgeordneten Joachim Behm [FDP])

Es gibt keinen Anspruch auf Nichtstun. Wir haben das viel zu lange geduldet, obwohl wir es uns nicht leisten konnten. Wir alle wissen, dass wir es seit Jahren nur auf Pump finanzieren. Genau diese Erkenntnis ist doch die Grundlage für die so genannten HartzGesetze.

Die Einführung von Mindestlöhnen bedeutet eine weitere Verschärfung unserer bestehenden Probleme und schadet den Arbeitsuchenden. Den von der Kollegin Aschmoneit-Lücke prognostizierten Folgewirkungen kann ich nur zustimmen.

Aber, meine Damen und Herren, die heutige Debatte über Mindestlöhne beleuchtet nur einen kleinen Teilaspekt unserer Hauptprobleme. Um wieder mehr Innovationskraft, mehr Wettbewerbskraft zu erreichen und den Herausforderungen unserer demographischen Entwicklung gerecht zu werden, brauchen wir wesentlich grundlegendere Veränderungen. Arbeitsmarkt, Sozialsysteme, Steuern, Bildung und

(Roswitha Strauß)

Forschung und Bürokratieabbau sind die Stichworte. Dass Rot-Grün dazu nicht in der Lage ist, beweist nicht zuletzt die erneute Diskussion über die Einführung von Mindestlöhnen. Und das Chaos bei der Umsetzung von Hartz IV macht auch nicht gerade hoffnungsfroh.

(Beifall bei CDU und FDP)

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hentschel.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr leer dort drüben, wirklich sehr leer! Herr Kayenburg, vielleicht können Sie dagegen etwas tun.

(Lachen bei der CDU)

Mindestlöhne! - Wieder ein Antrag der Partei der Besserverdienenden mit dem Ziel, den freien Fall von Stundenlöhnen zu beschleunigen. Ich weiß nicht, wem Sie damit imponieren wollen. Ich weiß nur, dass die Profilierung auf Kosten der Ärmsten unserer Gesellschaft ein übles Spiel ist.

Ich meine, über Mindestlöhne kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich finde es immer schade, dass dann, wenn eine Debatte stattfindet, das Erste ist was man macht, ein Antrag mit dem Ziel ist, dass die Debatte nicht stattfinden soll. Das hilft nicht weiter.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in den vergangenen mehr als 50 Jahren des Bestehens dieser Republik keine Mindestlöhne gehabt. Wir haben in dieser Zeit ein ausgesprochen gutes Tarifsystem gehabt, weitgehend flächendeckende verbindliche Tarife, von denen fast alle Arbeitsplätze erfasst waren. Jetzt haben wir eine Entwicklung zunehmender Liberalisierung mit der Folge, dass immer größere Bereiche unseres Arbeitsmarktes nicht mehr von Tarifen abgedeckt sind. Das ist eine Situation, die aus anderen Ländern, zum Beispiel aus angloamerikanischen Ländern, aber auch südlichen Ländern, durchaus bekannt ist. Nun ist es so, dass es in einem großen Teil dieser Länder durchaus Mindestlöhne gibt, auch in den USA. Diese Mindestlöhne sind nicht besonders hoch; das muss man dazu sagen. Es gibt ja diesen bekannten Witz, dass, als Präsident Clinton im Fernsehen von 7 Millionen neuen Jobs sprach, der Zuschauer sagte: Von diesen Jobs habe ich allein fünf.

Es ist also nicht so, dass die Mindestlöhne unbedingt ein Schutz gegen Verarmung sind. Aber ich finde, angesichts der Entwicklung, in der wir uns zurzeit befinden, ist die Debatte über Mindestlöhne durchaus eine ernsthafte Debatte. Damit muss man sich auseinander setzen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde, ein normaler Arbeitnehmer sollte in der Regel von seinem Nettolohn ohne Überstunden eine Familie ernähren können.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn das nicht mehr möglich ist, funktioniert der Arbeitsmarkt nicht mehr richtig. Genau an diesem Punkt muss eine Debatte darüber ansetzen, wie wir auf solche Entwicklungen reagieren können.

Es ist nun einmal so, dass die Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich, über die wir reden, nicht die Arbeitsplätze sind, die für den deutschen Export entscheidend sind.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Wo deutsche Firmen auf dem Weltmarkt bestehen, tun sie das mit Sicherheit nicht mit niedrigen Löhnen. Dort, wo deutsche Firmen auf dem Weltmarkt bestehen und riesige Exporterfolge haben - wir sind nun einmal das Exportland Nummer eins in der Welt -, geht es um hoch qualifizierte Produkte, die von hoch qualifizierten Ingenieuren produziert werden, die sehr hoch bezahlt werden. Es geht da nicht um billige Massenware. Bei Niedriglöhnen geht es um Dienstleistungen in Deutschland, die mit dem Export überhaupt nichts zu tun haben. Von daher sind diese Argumente nicht stichhaltig.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in bestimmten Branchen durchaus Mindestlöhne, die von den Tarifpartnern ausgehandelt werden, zum Beispiel im Baugewerbe. Wir haben in Schleswig-Holstein auch das Tariftreuegesetz verabschiedet, damit mindestens die hier am Ort der Leistungserbringung einschlägigen Löhne und Gehälter gezahlt werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Dieses Gesetz wurde im Landtag auf dringlichsten Wunsch aller Verbände der Bauwirtschaft verabschiedet. Sämtliche Verbände der Bauwirtschaft haben gesagt: Wir möchten ein solches Gesetz haben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

(Karl-Martin Hentschel)

Herr Schareck, der Geschäftsführer des Baugewerbeverbandes, hat jetzt einen einheitlichen Standard für alle am Bau Beschäftigten gefordert. Er ist Wortführer der vier norddeutschen Bauverbände. Auch mit diesem Argument muss man sich auseinander setzen. Auch da sollte man die Debatte nicht beenden.

Ob nun ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird oder nicht, ist unklar. Wichtig ist: Wir müssen uns mit der Frage des Lohndumpings im unteren Lohnbereich beschäftigen in einem Land, in dem ein Lebenshaltungsniveau existiert, unter das ein normaler Mensch nicht heruntergehen kann. Wir müssen natürlich die Frage stellen, wie wir sichern, dass dies in einer Zeit funktioniert, in der wir Millionen Arbeitslose haben, die keine Möglichkeit haben, einen Arbeitsplatz zu finden, und in der die Gefahr besteht, dass wir eine Spirale nach unten in Gang setzten, die dann auch erhebliche Auswirkungen auf das gesamte Sozialsystem unserer Gesellschaft hat.

Ich meine, wir werden uns mit diesem Problem befassen müssen. Ich bin dankbar dafür, dass die FDP die Anregung gegeben hat und auch damit einverstanden ist, den Antrag in den Ausschuss zu überweisen. Wir greifen das gern auf. Den Antrag, die Debatte jetzt zu beenden, lehnen wir ab.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Das Wort hat Frau Abgeordnete Hinrichsen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der SSW begrüßt die aktuelle Diskussion über die Einführung von Mindestlöhnen, denn sie weist auf ein sehr großes Problem der Beschlüsse der Agenda 2010 hin, die im Vermittlungsausschuss im Dezember gefasst wurden. Das Problem ist die im Zuge der Hartz-Reform beschlossene Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen für Langzeitarbeitslose und vor allen Dingen die damit verbundene Tatsache, dass Arbeitslose in Zukunft Arbeit annehmen müssen, die bis zu 30 % unter Tarif bezahlt werden kann. Auch wenn dies eine Forderung war, die von der CDU/CSU durchgesetzt wurde, ist es nach unserer Ansicht sehr traurig, dass eine sozialdemokratische Bundesregierung in dieser Frage zugestimmt hat.

(Beifall beim SSW)

Hier muss die Frage gestellt werden, ob man wirklich der Auffassung ist, dass bei mehr als 4 Millionen Arbeitslosen und nur wenigen Hunderttausend offe

nen Stellen eine Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln mehr Menschen in Arbeit bringt. Ich habe da sehr große Zweifel. Der SSW vertritt die Auffassung, dass Niedriglöhne nicht der Ausweg aus der deutschen Krise sind; denn sie wirken sich volkswirtschaftlich negativ auf die Binnennachfrage aus und sind damit kontraproduktiv.

Um dieser Entwicklung und diesen Beschlüssen entgegenzuwirken, gibt es jetzt seitens einiger Gewerkschafter und sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter den Ruf nach Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen in Deutschland. Nun sind Mindestlöhne grundsätzlich kein Teufelszeug, wie uns die FDP mit ihrem heutigen Antrag weismachen will. In vielen europäischen Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder den Niederlanden und sogar in den USA gibt es das Instrument der Mindestlöhne. Allerdings variiert die Höhe der Mindestlöhne ganz gewaltig. In der EU reichen diese von 416 € bis 1.338 €. Auch in den USA haben die Mindestlöhne nicht das Phänomen des „Working poor“ verhindern können, also den Zustand, dass Arbeitnehmer trotz Vollzeitbeschäftigung nicht aus ihrer Armut herauskommen.

Darüber hinaus gibt es neben den vom Staat verordneten gesetzlichen Mindestlöhnen auch eine ganze Reihe tariflicher Mindestlöhne. In Dänemark sind zum Beispiel tariflich verabredete Mindestlöhne sehr verbreitet. Auch in Deutschland gibt es bereits in der Baubranche und in anderen Branchen einen tariflichen Mindestlohn. Der SSW ist ein Anhänger der Tarifautonomie, und deshalb befürworten wir einen tariflichen Mindestlohn, der von den Tarifpartnern in einer spezifischen Branche verabredet wird. Das ist gut, weil gerade die Tarifpartner die Branchen am Besten kennen und eine angemessene Höhe für einen Mindestlohn festsetzen können, der weder die Arbeitnehmer noch die Unternehmen über Gebühr belastet. Die Einführung solcher tariflicher Mindestlöhne in Branchen, in denen es notwendig ist und die dann auch für alle EU-Bürgerinnen und -Bürger gelten sollten, die bei uns arbeiten, wäre aus unserer Sicht die optimale Lösung.

Einer gesetzlichen Einführung von Mindestlöhnen stehen wir eher skeptisch gegenüber, weil sie die Tarifautonomie verletzt und es für den Staat schwierig ist, für jede Branche eine vernünftige Höhe für einen Mindestlohn festzusetzen. Allerdings stellt sich die Situation dann anders dar, wenn es um Staaten oder Branchen geht, bei denen es kaum Gewerkschaften gibt. Das beste Beispiel ist Großbritannien, wo es Margaret Thatcher in wenigen Jahren geschafft hatte, die Macht der Gewerkschaften völlig zu brechen, sodass es in vielen Industriezweigen überhaupt

(Silke Hinrichsen)

keine Tarife mehr gab. Es war richtig, dass die neue Labour-Regierung kurz nach ihrem Regierungsantritt einen gesetzlichen Mindestlohn beschloss, um das sehr ausgebreitete Phänomen des „Working poor“ zu bekämpfen.

Aus diesem Grunde freuen wir uns jetzt auf die Ausschussberatung. Die generelle Ablehnung, die in Ihrem Antrag enthalten war, hätten wir nicht unterstützen können. Was wir aber gern möchten, ist, dass der Antrag an den zuständigen Ausschuss zur Federführung überwiesen wird. Das ist der Sozialausschuss. Zur Mitberatung sollte der Antrag an den Wirtschaftsausschuss überwiesen werden.

(Beifall beim SSW)

Ich erteile gemäß § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung dem Herrn Abgeordneten Dr. Garg das Wort.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Hentschel, ich habe mich wegen Ihres Beitrags noch einmal zu Wort gemeldet. Sie haben, als Sie Ihre Rede begannen, den Antrag als einen Antrag der Partei der Sonstwasverdienenden abgetan.

Herr Hentschel, Sie haben sich heute Morgen darüber beschwert, dass Herr Kubicki bei Ihrer Rede zum Föderalismus nicht zugehört hat. Das kann man verstehen, dass Sie sich beschweren, wenn jemand nicht zuhört und hinterher etwas dazu sagt.

Was mich aber ärgert, ist Folgendes. Als die Kollegin Aschmoneit-Lücke redete, saßen Sie im Plenum. Kollegin Aschmoneit-Lücke hat Ihnen sehr differenziert und sehr sachlich die Zusammenhänge zwischen der Entstehung von Arbeitsplätzen und der Höhe, der Flexibilität und der Starrheit von Nominallöhnen nach unten zu erklären versucht. - Herr Kollege Hentschel, ich fände es ganz nett, wenn Sie mir jetzt zuhörten.

Das hat sie jedenfalls versucht. Aber Sie gehen dann hinterher ans Pult und sagen mit einem Federstrich, es sei alles Mist, was da in unserem „Kasperleantrag“ stehe. Das disqualifiziert Ihren gesamten Redebeitrag.