Protocol of the Session on January 30, 2019

Für die anschließende Aussprache haben die Fraktionen eine Grundredezeit von 25 Minuten vereinbart. Frau Staatsministerin Dr. Hubig, bitte schön.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Wie könnte man eine Regierungserklärung zur Demokratiebildung an diesem Tag, an dem vor 86 Jahren die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, anders beginnen als mit der Erinnerung? Mit der Erinnerung an das, was Henriette Kretz vor 72 Stunden in diesem Hause so bewegend geschildert hat – was sie überlebt hat, aber Millionen andere Menschen nicht? Mit der Erinnerung an Trauer und Scham und mit der Verantwortung, die daraus erwächst? – Man könnte es nicht. Man könnte es nicht, weil die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus für uns immerwährende Ermahnung und Verpflichtung sind und bleiben.

Es ist mir eine besondere Ehre, dass Frau Kretz, die im Moment noch im Foyer, aber bald, denke ich, auf der Tribüne ist, heute erneut zu uns gekommen ist, nachdem sie am Sonntag ein so eindrückliches Zeugnis wider das Vergessen abgelegt hat.

(Beifall im Hause)

Meine Damen und Herren, die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben aus der Erinnerung und im Bewusstsein der immerwährenden Verantwortung die Grundwerte unserer Demokratie geschaffen: die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Unumstößlichkeit der Menschenrechte, die Freiheit des Individuums, die immer auch die Toleranz verlangt.

Wer versucht, den „Quantensprung in der Menschheitsgeschichte des Bösen“ – wie die Erinnerungsforscherin Aleida Assmann den Holocaust bezeichnet – zu relativieren und zu verharmlosen und die Nazi-Diktatur zu einem Detail der Geschichte zu machen, dem sei gesagt: Demokratie und Erinnerung sind in unserem Land untrennbar miteinander verbunden.

(Beifall der SPD, der FDP, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der CDU)

Der Holocaust ist der lange Schatten, der über unserer Geschichte liegt und der uns für alle Zeit Auftrag sein muss und sein wird: zu erinnern und nie wieder zuzulassen. Für uns bedeutet das: Wir müssen die demokratischen Grundwerte unseres Grundgesetzes kompromisslos verteidigen, aktiv leben und entschlossen stärken gegen all das, was sie bedroht. Diese Bedrohung hat ganz konkrete Namen: Extremismus und Populismus, Rassismus und Nationalismus, Antisemitismus und Antiziganismus, Menschenfeindlichkeit und Chauvinismus – und jede Form der Missachtung freiheitlich-demokratischer Regeln des Zusammenlebens, egal aus welchen Gründen und aus welcher Richtung.

Die Kinder und Jugendlichen von heute sind die Gesellschaft von morgen. Sie werden dieses Land in 10, 15 und 20 Jahren tragen. Gemeinsam mit ihren Eltern wollen wir sie dabei unterstützen, mündige Bürgerinnen und Bürger zu werden. Wenn wir wollen, dass auch sie die Chance haben, in einer freien und gerechten Gesellschaft zu leben, dann müssen sie den Wert von Demokratie kennen. Sie müssen lernen und selbst erleben, wie Demokratie funktioniert, wie ein demokratisches Miteinander, respektvoller Umgang und gegenseitige Achtung funktionieren – und wie unverzichtbar sie sind.

Wir als Landesregierung wollen unsere Lehrkräfte und unsere Schülerinnen und Schüler in ihrem Engagement für die Demokratie bestärken. Wir wollen sie gerade in diesen Zeiten ermuntern und unterstützen, ihren Weg weiter zu gehen, aber auch neue Pfade zu beschreiten.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dafür haben wir im Bildungsministerium ein Gesamtkonzept für die schulische Demokratiebildung erarbeitet. Wir nehmen dabei drei Aspekte in den Blick. Erstens: das Erinnern an die Verbrechen der Nazi-Diktatur und das historisch-kritische Bewusstsein für unsere Geschichte und die Lehren, die daraus für das Heute und Morgen zu ziehen sind. Zweitens: das Lernen und Leben von Demokratie in unserer Gegenwart; und drittens: unser europäisches Miteinander.

Warum ist es so wichtig, gerade diese drei Aspekte in unseren Schulen zu stärken? Weil unsere Schulen ein, ja d e r zentrale Ort sind, an dem Demokratie gelernt und gelebt wird. Und was mich heute zuversichtlich stimmt, ist, welch großes Engagement für die Demokratie ich bei meinen Besuchen in den Schulen immer wieder vorfinde.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Alexander Schweitzer, SPD: So ist es!)

Ich kann Ihnen heute klar sagen: Für jeden, der auf einer Demonstration irgendwo in Deutschland fremdenfeindliche oder antisemitische Parolen skandiert, gibt es in RheinlandPfalz Schülerinnen und Schüler, die sich mit ihren Lehrkräften jeden Tag gegen Rassismus und Antisemitismus einsetzen.

Für jeden, der im Internet Hass postet, gibt es in RheinlandPfalz Schülerinnen und Schüler, die sich in ihren Schulen,

in ihrer Region und im Rahmen von Schüleraustauschen für Toleranz und Vielfalt einsetzen, und das auch in immer mehr Europaschulen und „Schulen ohne Rassismus – Schulen mit Courage“.

Und für jeden, der glaubt, das Holocaust-Mahnmal sei ein „Denkmal der Schande“, gibt es unzählige Schülerinnen und Schüler in unserem Land, die Gedenkorte besuchen, Stolpersteine verlegen und mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sprechen. Sie alle geben uns Zuversicht, und sie alle wollen wir mit unserem Konzept unterstützen.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich Ihnen unser Maßnahmenpaket erläutern. Wir werden damit mehr als 4 Millionen Euro jedes Jahr zusätzlich in die Demokratiebildung investieren. Es ist eine Investition in die Zukunft unserer freiheitlichen Demokratie.

Ich möchte mit der Erinnerungskultur beginnen: Schon heute spielt die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus eine zentrale Rolle in unseren Schulen: In den Lehrplänen ist sie fest verankert. Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte engagieren sich in zahllosen Projekten, fahren zu Gedenkstätten und Erinnerungsorten und setzen sich weit über den Unterricht hinaus ein. Ab Klassenstufe 9 sieht der Lehrplan in jedem Schuljahr einen Unterrichtstag als Demokratietag vor, der explizit auch Gedenktag sein kann. Auf all diesem Bestehenden bauen wir mit unseren Maßnahmen auf.

Im vergangenen Jahr hat uns bundesweit die Frage beschäftigt, ob Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit wenigstens einmal einen Gedenkort besuchen sollen, der an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnert. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Antwort auf diese Frage nur „Ja“ lauten kann. So wichtig das historische Lernen im Klassenzimmer ist, so wichtig ist auch das unmittelbare Erleben. Wer Hinzert und Osthofen, Buchenwald oder Auschwitz besucht oder Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hört, gewinnt viel tiefere und unmittelbarere Eindrücke. Wir alle haben es am Sonntag eindrucksvoll erlebt.

Wir müssen es den Schülerinnen und Schülern immer wieder neu ermöglichen, sich mit dem monströsen Zivilisationsbruch auseinanderzusetzen, der in ihrem Land vor nicht einmal drei Generationen begangen wurde. Wir müssen verdeutlichen und erfahrbar machen, welchen Wert unsere Demokratie darstellt und welche Errungenschaft sie ist. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, was Henriette Kretz hier so erschütternd und eindringlich beschrieben hat: dass es jedem und jeder so gehen kann und Gewissheiten von einem Tag auf den anderen wegbrechen können, ohne dass man sich irgendetwas hat zuschulden kommen lassen. All das müssen wir besonders denen vermitteln, die sich heute fragen, warum sie nach so vielen Jahren noch gedenken sollen, und jenen, deren eigene Familiengeschichte in Deutschland nicht in diese Zeit zurückreicht.

Wir sind das – das ist meine tiefe Überzeugung – auch den Menschen schuldig, die damals stigmatisiert und ermordet wurden: als Juden, Sinti und Roma, politisch Andersden

kende, wegen ihrer Homosexualität, einer Behinderung, einer psychischen Erkrankung oder aus ganz anderen, willkürlichen Gründen. Wir sind es ihnen schuldig, sie als einzelne Persönlichkeiten mit individuellen Geschichten in die Gegenwart zurückzuholen und sie nicht als Zahl in einer Statistik verschwinden zu lassen.

Deshalb soll sich jede rheinland-pfälzische Schülerin und jeder rheinland-pfälzische Schüler im Laufe des Schullebens wenigstens einmal unmittelbar mit dem Erinnern beschäftigen: Sie sollen eine Gedenkstätte oder einen anderen Lernort besuchen oder sich mit dem intensiv befassen, was Zeitzeugen, ihre Kinder und Enkel direkt oder aufgezeichnet berichten. Diesen Auftrag werden wir zum neuen Schuljahr in einer Richtlinie festschreiben und zusammen mit den Schulen umsetzen.

Wir werden zweitens auch die Rahmenbedingungen für solche schulischen Vorhaben verbessern. Wir werden die Mittel deutlich erhöhen und neue Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stellen. Fahrten fördern wir dabei zu einer breiten Anzahl von Gedenkorten, auch über die KZGedenkstätten hinaus. Die Verbrechen des Nationalsozialismus können so im Unterricht umfassend thematisiert werden. Wir werden außerdem die Unterstützung unserer Gedenkstätten für die Arbeit mit Schulen ausbauen und Osthofen mit einer zusätzlichen Lehrkraft verstärken.

Wir werden drittens zum nächsten Schuljahr eine neue zentrale Servicestelle für schulische Zeitzeugen- und Gedenkarbeit im Pädagogischen Landesinstitut einrichten. Sie steht allen Lehrkräften beratend, vernetzend und mit neuen Unterrichtsmaterialien zur Seite und baut auf die Zeitzeugenkoordinierungsstelle auf. Mit ihr war RheinlandPfalz schon vor zehn Jahren einer der Vorreiter unter den Ländern.

Gedenkstättenbesuche und moderne Zeitzeugenpädagogik werden wir, viertens, verpflichtend in der Lehrkräfteausbildung verankern. Schon heute besuchen viele Anwärterinnen und Anwärter im Rahmen der Ausbildung Gedenkorte. In Zukunft werden alle angehenden Lehrkräfte aller Lehrämter während ihrer Ausbildung eine Gedenkstätte wie Hinzert oder Osthofen oder andere vergleichbare außerschulische Lernorte besuchen.

Welche Wirkung von Gedenkorten ausgeht, haben die meisten von uns selbst erlebt. Ich durfte im vergangenen Jahr während meiner Israel-Reise für die Kultusministerkonferenz die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem besuchen. Es war ein Besuch, der mich tief bewegt hat, weil es diese Gedenkstätte in unvergleichlicher Weise schafft, der fürchterlichen Zahl von 6 Millionen entrechteter und ermordeter Juden individuelle Gesichter und Persönlichkeiten und damit ihre Würde zurückzugeben.

Die Kooperationsvereinbarung, die ich dort für RheinlandPfalz unterzeichnet habe, ermöglicht solche Besuche nun auch rheinland-pfälzischen Lehrkräften im Rahmen von Fortbildungen. Im nächsten Monat wird die erste Gruppe nach Israel aufbrechen, und schon jetzt finden Fortbildungen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Yad Vashem in Rheinland-Pfalz statt.

(Beifall der SPD, des FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Alexander Fuhr, SPD: Sehr gut!)

Auch die Vereinbarung mit der Bethe-Stiftung, für die wir sehr dankbar sind, die für Schülerinnen und Schüler Gedenkstättenbesuche in Polen, zum Beispiel in das ehemalige deutsche Konzentrationslager Auschwitz fördert, schreiben wir fort. So werden wir die Erinnerung an die Schoah im Bewusstsein auch der künftigen Generationen lebendig halten und nach vorne gewandt Lehren ziehen.

Nicht zuletzt müssen wir uns mit aller Kraft für die Bekämpfung des Antisemitismus in unserer Gesellschaft einsetzen – des alten wie des neuen. Rheinland-Pfalz ist das erste Bundesland, das mit Dieter Burgard einen Antisemitismusbeauftragten eingesetzt hat. Und auch in unseren Schulen müssen unsere Lehrkräfte kompetent einschreiten können, etwa wenn Schülerinnen und Schüler das Wort „Jude“ als Schimpfwort gebrauchen.

Die Fortbildungsangebote zur Prävention von und zum Umgang mit Antisemitismus werden die verschiedenen pädagogischen Fortbildungsinstitute in Rheinland-Pfalz deshalb noch einmal deutlich ausbauen.

Auch mehr Wissen über das Judentum brauchen wir in unserer Gesellschaft. Dafür bietet beispielsweise das Pädagogische Landesinstitut in Kooperation unter anderem mit den SchUM-Städten künftig mehr Fortbildungen an.

Nach 2009 und 2015 wird das Bildungsministerium im Jahr 2020 zudem wieder einen Schüleraustausch mit Israel durchführen, den wir danach alle zwei Jahre anbieten wollen. Daran können Schülerinnen und Schüler aus ganz Rheinland-Pfalz teilnehmen. Es geht ums Brückenbauen und Verstehenlernen auch für die künftigen Generationen. Das ist mir ein persönliches Anliegen.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich damit zur zweiten Säule unseres Gesamtkonzepts kommen: einer umfassenden Demokratiebildung, die auf Wissen ebenso wie Werte und Handeln abzielt; denn eine der größten Bedrohungen für unsere Demokratie ist die Gleichgültigkeit. Zu oft wird die Demokratie, werden die Grundrechte heute als etwas Selbstverständliches hingenommen. Wir wissen aber aus unserer eigenen Geschichte, dass das nicht so ist.

Auch die friedliche Revolution vor 30 Jahren und die Überwindung der SED-Diktatur führen uns das in diesem Jahr besonders vor Augen. Gerade von Rheinland-Pfalz sind in der Demokratiegeschichte immer wieder wichtige Impulse ausgegangen, wie etwa das Hambacher Fest.

Unsere Schülerinnen und Schüler sollten wissen, unter welchen Opfern und gegen welche Widerstände in unserem Land immer wieder für Freiheit und Demokratie gekämpft worden ist. Sie sollten wissen, dass wer Nationalismus und Spaltung predigt, wer Vorurteile gegen Minderheiten schürt, gewiss kein Anrecht auf die historischen Symbole von Einigkeit und Recht und Freiheit hat.

(Beifall der SPD, der FDP, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU)

Meine Damen und Herren, bereits zum Schuljahr 2016/2017 haben wir die Lehrpläne der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer neu erarbeitet und die Demokratiekompetenz in den Mittelpunkt gerückt.

Mit dem Landesdemokratietag des Bündnisses „Demokratie gewinnt“ haben wir zudem ein bundesweit einzigartiges Forum zum Austausch in der Demokratiebildung mit vielen bedeutenden Partnern. Derzeit wird die Einrichtung einer Geschäftsstelle für dieses Bündnis vorbereitet. Dieses Forum werden wir gemeinsam weiter stärken und ausbauen, ebenso wie die Zusammenarbeit mit dem Landtag, der eine ganz wesentliche Rolle bei der Demokratiebildung für unsere Kinder und Jugendlichen spielt. Das großartige neue Besuchsprogramm für Grundschülerinnen und Grundschüler ist nur ein Beispiel dafür.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insgesamt können über den Unterricht hinaus in den kommenden beiden Jahren im Bildungshaushalt jeweils 700.000 Euro für die Demokratiebildung ausgegeben werden, doppelt so viel wie noch vor drei Jahren. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei den Regierungsfraktionen von SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bedanken.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Alexander Schweitzer, SPD: Haben wir gern gemacht!)

Ich finde, dazu kann man sich auch applaudieren.

Zentral ist für mich, das Demokratielernen in der Schule grundsätzlich zu stärken. Dafür werden wir das tun, worüber wir hier schon häufig diskutiert haben: Wir werden die Sozialkunde ab dem Schuljahr 2020/2021 sukzessive um insgesamt zwei Wochenstunden ausbauen.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Alexander Schweitzer, SPD: Sehr gut!)

Der Sozialkundeunterricht soll künftig ein Jahr früher mit einer Stunde einsetzen, in der Regel also in der 8. Klasse, und er soll in der letzten Klassenstufe, also der 9. oder 10. Klasse, künftig mit zwei statt einer Stunde unterrichtet werden.