Protocol of the Session on January 27, 2014

Wir gedenken und erinnern uns an das, was nie mehr kommen darf.

Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

Meine Damen und Herren, die Zeit, in die wir uns gleich durch Herrn Hesdörffer zurückversetzen lassen, begann ganz schrecklich 1933 mit der Entrechtung der jüdischen Bevölkerung, auch derer, die gar nicht mehr jüdisch waren, die längst getauft waren. Alle wurden entrechtet. Ob man einen Führerschein besaß oder ein Doktordiplom, ins Schwimmbad wollte oder als Kind ins Gymnasium – alles war eingeschränkt und wurde immer schlimmer. Viele sind geflohen, haben ihr Vermögen für den berühmten Apfel und ein Ei hergeben müssen und mussten ihre Kinder „Israel“ oder „Sara“ nennen.

Die meisten antisemitischen Bestimmungen wurden vor 75 Jahren in den Wintermonaten, in denen wir uns jetzt gerade befinden, geschaffen. 1938 machten dann die Nazis Jagd auf die eigenen Bürger.

Das blieb in Europa nicht ganz ohne Resonanz. Am 21. November 1938 hat ein Abgeordneter im Unterhaus in London gesagt: „Ich bitte diese Kammer, die unmenschliche Behandlung gewisser rassischer, religiöser und politischer Minderheiten in Europa mit großer Sorge festzustellen, und angesichts der sich verschlimmernden Flüchtlingssituation, eine konzertierte Aktion mit anderen Nationen – einschließlich den Vereinigten Staaten von Amerika – anzustreben, um eine gemeinsame Politik zu erarbeiten.“

Meine Damen und Herren, es gab sie nicht. Wir sollten uns heute nicht darüber erheben, dass es sie damals nicht gegeben hat.

Wir zeigen zu der Thematik eine Ausstellung im Foyer. Die Engländer haben 10.000 Kinder aufgenommen. Die Holländer haben auch Kinder aufgenommen, die Franzosen, die Belgier, auch die Schweizer haben Kinder aufgenommen. Herr Hesdörffer, Sie gingen als 16

Jähriger mit Ihrem Bruder zunächst zu unserem Nachbarn in die Niederlande.

Meine Damen und Herren, der Frage, wie wir heute mit Verfolgten und Flüchtlingen umgehen, können wir nicht ausweichen. Wir können nicht Herrn Hesdörffer einladen, der aus Deutschland verjagt worden ist und in den Niederlanden aufgenommen wurde, ohne selbst Antworten auf das zu geben, was heute mit Flüchtlingen geschieht.

Ich möchte diesen Platz jetzt nicht missbrauchen, um eine politische Rede dazu zu halten. Ich möchte nur sagen, wir können dieser Frage nicht ausweichen.

Wer darüber urteilt, was vor 75 Jahren falsch war, der muss aktuell auch eine Antwort auf das geben, was heute richtig ist. Die Welt ist da konkret.

Herr Hesdörffer, Sie werden uns berichten, wie es gewesen ist wegzugehen, irgendwann zurückzukommen, in der Welt immer wieder neu anfangen zu müssen. Sie werden uns darüber erzählen können, wie es ist, wenn man zurückkommt und es ist keiner mehr da, kein Verwandter.

Sie werden uns darlegen können, warum Sie dennoch heute hierhergekommen sind, um dem Landtag und seinen Gästen als Zeitzeuge zu schildern, was geschehen ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen allen, dass Sie zu dieser Sitzung gekommen sind, dass Sie bereit sind, unseren Zeitzeugen zu hören und auf diese Weise ein Stück Erinnerung in Aktion umwandeln.

Wir müssen den Menschen draußen im Lande immer wieder davon erzählen. Viele von Ihnen, ich würde sagen alle, die die Schulbesuche am 9. November gemacht haben, merken, dass unsere Jugend die Erzählung, die wir noch im Herzen tragen, was es bedeutet, Verfolgung zu erleiden und etwas Neues aufzubauen, nur noch schwer akzeptiert. Deshalb freuen wir uns auf Zeitzeugen, damit wir weitersagen können, was wir von ihnen hören.

Herzlichen Dank.

(Beifall im Hause)

Musik

„Zeyt gesunt“ (trad.) Ensemble Dreydele

(Beifall im Hause)

Gedenkrede

Heinz Hesdörffer

Zeitzeuge und Auschwitz-Überlebender

aus Bad Kreuznach

Herr Hesdörffer:

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren! Wer mein Buch gelesen hat oder es lesen wird, der weiß, dass ich am 30. Januar 1923 in Bad Kreuznach geboren bin.

Am 30. Januar 1933, zu meinem 10. Geburtstag, waren auch noch zwei „arische“ Freunde eingeladen, Söhne von Fachärzten. Der eine Vater war Hals-NasenOhrenarzt, von dem anderen weiß ich es nicht mehr genau, welcher Facharzt er war. Orthopäde oder so etwas, jedenfalls waren es kultivierte Menschen.

Meine Mutter hat gesagt, der Dieter und der Eberhard sind wie immer auf dem Sofa herumgehopst. Wir waren doch Kinder, wir waren 10 Jahre alt.

Aber nach kurzer Zeit haben sie mich nicht mehr gekannt. Da waren sie in der Hitlerjugend und durften mit Juden nichts mehr zu tun haben.

Dann kam am 1. April der Boykott jüdischer Geschäfte. Da sind aber die Leute doch einkaufen gegangen. Angeblich sind sie fotografiert worden, wenigstens zum Teil. Dann kam die Bücherverbrennung.

Was sollte ich nun machen, als die Grundschulzeit beendet war? Auf das Gymnasium durften Juden nicht mehr gehen, weil sie nicht mehr studieren durften. Zu der damaligen Zeit bestand am Gymnasium an der Stadtmauer – es wird kurz Stama genannt – auch eine Abteilung Oberschule. Im Gymnasium wurde Griechisch und Lateinisch gelehrt, an der Oberschule Lateinisch und Französisch. Also habe ich mich dafür entschieden.

Ich war damals der einzige Jude unter 600 Hitlerjungen.

1934, als das erste Schuljahr zu Ende war, hat mich mein Klassenlehrer gerufen und hat gesagt: Ich kann dir dieses Jahr leider nicht den Buchpreis geben, den der beste Schüler der Klasse bekommt. Ich muss das Buch einem anderen Jungen geben. – Da hat der Lehrer noch gedacht, in der Weimarer Republik hat keine Regierung lange gehalten, vielleicht wird die Regierung Hitler auch nicht ewig da sein. Da hat er sich geirrt.

Von 1935 bis 1938 war auch nie mehr die Rede davon. Ich durfte also den Buchpreis nicht bekommen.

Mein Vater ist 1934 nach einer Operation gestorben. Damals gab es noch keine Antibiotika. Die Wunde war infiziert, wurde immer wieder geöffnet, um desinfiziert zu werden. Das hat aber alles nicht geholfen. Nach sechs Wochen hat das Herz nicht mehr mitgemacht.

Mein Vater hatte am 9. Juni Geburtstag. Meine Mutter hat ihm einen Strauß rote Rosen in das Krankenhaus mitgenommen. Als sie am 10. Juni in das Krankenhaus kam, haben die Ärzte versucht, meinen Vater zu retten, aber es war zu spät. Die Rosen hat er mit ins Grab bekommen. Da war meine Mutter allein mit zwei Kindern. Ich war 11 Jahre, mein Bruder 8 Jahre alt.

Meine Mutter war dann auf einen Bruder meines Vaters angewiesen, Onkel Ben, der als junger Mann nach Amerika ausgewandert war. Aber als der Krieg 1914 ausgebrochen ist, kam er zurück in die Heimat, um für seinen Kaiser zu kämpfen. Er hat gesagt, die Nazis können mir nichts machen. Ich habe meine Auszeichnung, mir kann nichts geschehen. Aber es ist anders gekommen.

Zuerst will ich sagen, was sie in der Schule mit mir in den Pausen gemacht haben. Sie haben mich in einen Mülleimer gestellt, sind herumgetanzt und haben gesungen: „Judd, Judd, scheiß in die Dudd, aber scheiß sie nicht so voll, sonst kriegt dein Vater ein Protokoll“. –

Geschlagen haben sie mich nicht. Aber für sie waren Gepäckmärsche und später sogar Schießübungen wichtiger, als die Hausaufgaben zu machen. Da hieß es, „Judd gib mir dein Heft zum Abschreiben“. Dafür haben sie mich nötig gehabt.

1938 durften keine Juden mehr auf deutsche Schulen gehen. Es gab in Bad Kreuznach eine Klasse mit Kindern von 6 bis 14 Jahren, sowohl Mädchen als auch Jungens, die von einem jüdischen Lehrer unterrichtet wurden, mit dem ich mich oft nachmittags unterhalten habe. Ich war verwundert, wie gut er diese Gruppe unterrichten konnte; denn es waren alles unterschiedliche Jahrgänge. Ich weiß nur, dass mein Bruder sehr schön schreiben, lesen und rechnen konnte.

Ich musste dann nach Frankfurt umziehen und bin dort auf das Philanthropin gegangen, eine jüdische Schule. Es gab dort zwei jüdische Schulen, die SamsonRaphael-Hirsch-Schule und das Philanthropin. Meine Verwandten haben direkt um die Ecke vom Philanthropin gelebt. Dort gab es eine englische Klasse. Da war ich das erste Mal mit Jungens und Mädchen zusammen; denn in Bad Kreuznach waren zu der damaligen Zeit nur Jungens auf dem Gymnasium, auch auf der Oberschule, die Mädchen waren im Lyzeum. Ein Lyzeum besteht heute nicht mehr.

Heute gehen Jungen und Mädchen auf das Gymnasium an der Stadtmauer, also das „Stama“, und es gibt ein zweites Gymnasium am Römerkastell, in dem auch Jungens und Mädchen zusammen sind. Außerdem sind wir damals auch samstags morgens in die Schule gegangen. Das hat sich alles geändert. Heute ist der Unterricht von Montag bis Freitag.

In Frankfurt bin ich in die englische Klasse gegangen. Die Jungens und Mädchen, die dort waren, hatten schon Englisch gelernt. Ich hatte kein Wort Englisch gekonnt. Ich musste alles nachholen. Aber ich habe schnell nachgeholt.

Wer dort nach zwei Jahren das Abitur gemacht hatte, konnte an jeder englischen Universität studieren, und das war meine Absicht. Dann kam aber die Pogromnacht am 9. November 1938.

Das war alles geplant. Das hat gar nichts damit zu tun gehabt, dass Herschel Grynszpan in Paris den Diplomaten vom Rath umgebracht hat. Das war vorher schon geplant.

9. November 1918, Ende des Ersten Weltkrieges, 9. November 1923, der erste Putsch von Hitler, der schiefgegangen ist. Also sollte am 9. November 1938 der Pogrom stattfinden. Danach wollte jeder aus Deutschland heraus. Die meisten Länder haben keine Juden mehr zugelassen, außer einigen südamerikanischen Staaten.

In Amerika waren die Demokraten an der Macht, Roosevelt Präsident. Nur aufgrund der Quote durften Leute hereinkommen, und die war schon aufgebraucht. Es hat sich später herausgestellt, dass er ein großer Antisemit war. Aber das hat uns nicht geholfen.

Jedenfalls hat unsere Mutter uns zwei Kinder nach Holland gehen lassen. Wir konnten nicht wählen, wohin wir wollten. Das hat die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland alles organisiert.

Ich weiß von einer Familie in Bad Kreuznach. Da ging der Junge in meinem Alter nach England und der etwas jüngere Bruder nach Frankreich. Der in England hat überlebt. Der nach Frankreich kam, ist deportiert worden und umgekommen.

Ich habe mich in Holland gleich gut durchgesetzt und für die anderen Jugendlichen vieles erreicht. Wir waren zuerst zwei Wochen in der Quarantäne Rotterdam. Dann kamen wir in das Waisenhaus Gouda. Gouda ist bekannt für Käse. Von dort wurde mein Bruder entlassen und von einer Familie in Dordrecht als Pflegesohn aufgenommen. Das war der Vorbeter der Gemeinde. Einen Rabbiner gab es nicht. Übrigens hatte er seine BarMizwa in Gouda. Das ist wie hier die Konfirmation.