Protocol of the Session on October 8, 2020

Umso nachdenklicher macht es uns und gleichzeitig umso entschlossener ist unser Engagement, wenn antiliberale Kräfte des Rückschritts von rechts genauso wie von links die Werte unseres Grundgesetzes hier und andernorts bedrohen und das Erbe der wechselvollen deutschen und europäischen Freiheitsgeschichte abwickeln wollen,

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

die Dialogfähigkeit sowie die Toleranz unserer freiheitlichen Gesellschaft negieren und den Geist der friedlichen Revolution für ihre Ideologie missbrauchen wollen. Das lassen wir nicht zu.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Wir dürfen und können stolz auf unser Land und das in den vergangenen 30 Jahren Erreichte sein. Denn ungeachtet von Geschlecht, Abstammung, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben und politischen Anschauungen gilt: Wir sind das Volk, und wir sind ein Volk.

Der 3. Oktober ist ganz sicher ein Tag der Würdigungen und Freude, aber auch der Tag des Aufbruchs gegen zum Beispiel Unzufriedenheit mit demokratischen Institutionen, gegen einen Eindruck von Ohnmacht und Abgehobenheit. Er ist insbesondere auch der Auftrag, die Werte unseres Grundgesetzes und unserer Demokratie friedlich und leidenschaftlich zu verteidigen und dafür zu kämpfen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt doch ganz wesentlich an uns, an jedem Einzelnen von uns. Die Geschichte ist noch nicht geschrieben. Jede und jeder Einzelne entscheidet, ob wir lediglich Beobachter und Chronisten sein und damit Angriffe auf unsere freiheitlichen, demokratischen Werte widerstandslos hinnehmen wollen oder ob wir die Werte unseres Grundgesetzes engagiert verteidigen und unsere Geschichte aktiv demokratisch, freiheitlich mitgestalten und somit auch den Auftrag aus der Einheit unseres Landes erfüllen wollen.

Meckernd auf dem Sofa ändert man nichts. Politik, die unser Land voranbringt, muss ein Wettbewerb der Ideen sein und den Gestaltungswillen für Gesellschaft und Wirtschaft erkennen lassen.

Seien wir offen für andere und neue Partizipationsformate. Binden wir Bürgerinnen und Bürger wieder stärker ein. Demokratie ist anstrengend – das wissen wir –, manchmal auch unbequem. Sie fordert jedem Einzelnen etwas ab, ist mit Rückschlägen verbunden, führt einen durch alle Höhen und Tiefen. Aber das lohnt!

Für mich ist die deutsche Einheit der Beweis, dass wir friedlich, mutig, engagiert und vielleicht mit etwas Fortune – das kann nie schaden – wirklich Dinge gestalten und verändern können.

Die Wiedervereinigung Deutschlands, die Einigung Europas und die Überwindung des Kalten Krieges sind Nahrung für meine, für unsere politische Zuversicht und Motivation, aktiv an der Verbesserung unserer Gesellschaft mitzuwirken. Das sind Freiheit und Verantwortung, ohne die wir nicht leben wollen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion der Grünen hat nun die Abgeordnete Frau Paul das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich will mit einer persönlichen Grenzerfahrung anfangen. Ich bin 1982 in Helmstedt geboren. Diese Kleinstadt war damals ein Ort an der deutsch-deutschen Grenze. Der eine oder die andere mag vielleicht noch Erinnerungen an den Grenzübergang Helmstedt/Marienborn haben.

Auch aus westdeutscher Perspektive war dort für uns damals die Welt – in Häkchen – „zu Ende“. Wann immer wir Besuch bekommen haben, ist man GrenzeGucken gefahren, weil Westdeutsche auf diese Art und Weise die deutsche Teilung erleben konnten; denn die Westdeutschen waren in ihrer Lebensrealität nicht unbedingt damit konfrontiert. Aber dort an der deutsch-deutschen Grenze, am Grenzzaun, am Grenzübergang wurde sie für alle erfahrbar.

Vielleicht hatten sich viele in Westdeutschland auch damit abgefunden, dass es zwei deutsche Staaten gibt, weil man es auf dieser Seite von Grenze und Mauer nicht so bemerkt hat.

Heute liegt meine Geburtsstadt Helmstedt mitten im wiedervereinigten Deutschland. Aber ich frage mich schon: Wo stehen wir jetzt eigentlich, wenn sich der Rauch der festlichen Feuerwerke verzogen hat? Wie lebendig ist die deutsche Einheit, auch und gerade aus westdeutscher Perspektive?

Deshalb ist es gut, dass wir auch hier im Landtag immer wieder Anlässe haben, um miteinander über die friedliche Revolution und die deutsche Einheit zu sprechen. Das darf aber nicht nur eine historische Rückschau sein, sondern es muss auch darum gehen, wie wir Räume schaffen können, um über Gemeinsamkeiten, über Herausforderungen und über die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu diskutieren.

Denn auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es immer noch zwei unterschiedliche Erzählungen über die deutsche Einheit, die Wende, die friedliche Revolution.

Die ostdeutsche Perspektive nimmt sehr stark Bezug auf die friedliche Revolution, auf die Montagsdemonstrationen und schließlich auf die Wende, auf den Mauerfall, aber eben auch – Carina Gödecke hat darauf hingewiesen – auf den 9. Oktober.

Das ist für uns in Westdeutschland kein so entscheidendes Datum, obwohl es eigentlich historisch bedeutsam ist. Denn an diesem 9. Oktober hat sich bei der großen Demonstration in Leipzig entschieden,

dass die friedliche Revolution überhaupt möglich war; es hätte auch eine blutige Niederschlagung wie auf dem Tian’anmen-Platz geben können. Das heißt, der 9. Oktober war entscheidend für die friedliche Revolution und damit auch später für die deutsche Einheit. Er hat in der westdeutschen Perspektive aber oft keinen Platz. Da sehen wir den 3. Oktober, und wir sehen den 9. November.

Im wiedervereinigten Deutschland hat diese Leistung viel zu wenig Anerkennung gefunden. Das gehört auch zur gesamtdeutschen Geschichte. Es geht um die Frage, ob der Westen – wenn man das so pauschalisierend sagen darf – die Leistung, die der Osten zur Demokratisierung unseres gesamten Landes beigetragen hat, genug gewürdigt und genug gesehen hat. Denn die Erfahrungen mit der Wiedervereinigung, die den Osten und die Ostdeutschen prägen, sind deutlich andere als die der Westdeutschen.

Tiefgreifende Einschnitte in das gesamte Leben, Arbeitslosigkeit und ein noch immer geringeres Lohn- und Rentenniveau sind Erfahrungen, die im Westen oft nicht gesehen werden – vielleicht sind sie den Leuten auch gar nicht bekannt – und auch nicht genügend anerkannt werden.

Fragt man heute nach den Einstellungen in Ost und West zur deutschen Einheit – die Bertelsmann Stiftung hat das gerade getan –, dann lautet das Ergebnis: 83 % der Ostdeutschen sind immer noch der Auffassung, die Menschen im Osten seien nach der Wiedervereinigung unfair behandelt worden. Im Westen sind 50 % dieser Meinung.

Ein Grund könnte darin liegen, dass die Wende, die friedliche Revolution und die deutsche Einheit für Ostdeutsche tiefgreifende persönliche Wendepunkte dargestellt haben, während wir Westdeutsche, wenn wir nicht gerade persönliche Grenzerfahrungen gemacht haben, das häufig nicht erlebt haben.

Es fehlt weiterhin eine gemeinsame Erzählung, die es schafft, die unterschiedlichen Erfahrungen, die unterschiedlichen Lebensleistungen, aber auch die unterschiedlichen Perspektiven von Ostdeutschen und von Westdeutschen auf diese Zeit gleichermaßen zu berücksichtigen. Allerdings darf sich auch diese gemeinsame Erzählung nicht nur in Gedenktagen erschöpfen, sondern Erinnerung muss weitergehen.

Aber vor allem geht es um die Frage, welche Konsequenzen wir daraus für das weitere Zusammenwachsen ziehen können, wie wir es mit Leben, aber auch mit Begegnung und Austausch, mit Zuhören und Gesprächen füllen können.

Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden: Demokratie ist ein Prozess. Sie lebt davon, dass die Menschen sich in ihr wiederfinden. Es muss ein Alarmsignal für uns sein, wenn es Menschen gibt, die sich abgehängt fühlen, die sich nicht mitgenommen

fühlen, die sich eben nicht in diesen Prozessen wiederfinden.

Das bedeutet für uns: Wir müssen die deutsche Einheit als Auftrag sehen, in einem geeinten und vielfältigen Deutschland Demokratie und Freiheit zu leben, aber immer verantwortungsvoll und mit dem verantwortlichen Blick in die Zukunft. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vielen Dank. – Für die Fraktion der AfD erteile ich nun dem Abgeordneten Seifen das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Tage des Gedenkens meinen nicht nur das Denken und Erinnern an besondere, historisch einmalige Ereignisse, sondern auch das Nachdenken und Reflektieren über grundsätzliche Zusammenhänge, die mit diesem historischen Ereignis verbunden sind.

Der gemeinsame Antrag der Altparteien leistet leider nichts, was man in dieser Hinsicht nutzen könnte. Ihr Antrag enthält nichts über die Bedeutung der Friedens- und Freiheitsbewegung in der ehemaligen DDR, über den Freiheitsdrang der durch SED und Stasi gequälten DDR-Bürger.

Sie betrachten diese Bewegung nicht als Freiheitssignal der Menschen, die sich gegen die bis ins Kriminelle hinein gehende Bevormundung und Unterdrückung der DDR-Bevölkerung gewehrt haben.

Ihr Antrag weist nicht auf die Quelle dieses Freiheitsdrangs hin, nämlich den Patriotismus der Menschen in Ost und West, das Gefühl und den Willen, zusammen mit den Bürgern des jeweils anderen deutschen Staates einen gemeinsamen Staat zu bilden und sich als Deutsche zu verstehen, die eine nationale Gemeinschaft bilden.

Ihr Antrag analysiert vor allem nicht, dass der Freiheitskampf der DDR-Bevölkerung auch die Entscheidung für ein anderes Lebensmodell war, nämlich die Ablehnung des bevormundenden Fürsorgestaates und die Hinwendung zu einem freiheitlichen Staat, in dem der mündige Bürger aufgrund seiner Leistungsfähigkeit und seiner Motivation sein Leben selbst gestalten kann.

Diese Bürger wendeten sich gegen eine menschenverachtende Ideologie, die mit ihrem Programm gottgleich den Menschen nach ihrem Bilde schaffen wollte.

Diese beiden Willenskräfte – das Nationalgefühl und der Freiheitsdrang – waren bereits die Ursache für den Aufstand am 17. Juni 1953 gegen die Fremdherrschaft der Sowjetunion und die Zwangsherrschaft der SED.

Diese beiden Willenskräfte trieben die Menschen aus der DDR heraus in den Westen, bis der Mauerbau dem ein Ende machte.

Nationalgefühl und Freiheitsdrang waren die beiden Kräfte, welche die Menschen in den 80er-Jahren zu den Friedensgebeten in die Kirchen führten und schließlich ermutigten, für ihre Freiheit und dann auch für die Wiedervereinigung friedlich auf den Straßen zu demonstrieren, obwohl überall bewaffnete Einheiten standen – bereit, auch von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, wenn die Stasi-Provokateure ihr Werk verrichtet und den Vorwand dazu geliefert hätten.

Die Massendemonstration am 9. Oktober 1989 brachte dann den Durchbruch. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie vom frühen Morgen an den ganzen Tag lang Meldungen über den Rundfunk verbreitet wurden, jede Gewaltprovokation zu unterlassen. Im fernen Münsterland zitterte man mit.

Es war wahrscheinlich den Aktivitäten von Kurt Masur und seinem Umfeld einschließlich der örtlichen SED-Leitung zu verdanken, dass die Demonstration an diesem Abend friedlich verlief.

Aus „Wir sind das Volk“ – als Antwort auf „Das ist Pack“ – wurde der Ruf „Wir sind ein Volk“.

Bereits am 9. Oktober brachen sich die beiden Willenskräfte Nationalgefühl und Freiheitsdrang Bahn und beseitigten schon an diesem Tag die geistigen Mauern zwischen beiden deutschen Staaten, welche die Mauer aus Beton und Stacheldraht ja halten sollte.

Die Entscheidung am 9. November, den Reiseverkehr zu normalisieren, war nur noch der Vollzug dessen, was Nationalgefühl und Freiheitsdrang als geistige Kräfte am 9. Oktober bereits ins Werk gesetzt hatten.

Deshalb können wir morgen, am 9. Oktober 2020, den eigentlichen Tag der Wiedervereinigung feiern. Am 9. Oktober 1989 stürzten die kommunistischen Gewaltkonstruktionen, mit denen man einen Teil der deutschen Nation unterdrückte, in sich zusammen.

Ich frage mich bereits seit Langem, warum die Regierung Kohl nicht am 9. Oktober 1990 den Einheitsprozess vollzogen und damit diejenigen geehrt hat, die all das vollbracht und die geistige Mauer durchstoßen haben. Da muss ich meiner Vorrednerin Frau Paul recht geben.

Selbstverständlich war der Sieg dieses Nationalgefühls und des Freiheitsdrangs in Deutschland erst durch die Menschlichkeit eines Gorbatschow und den Mut von Polen und Ungarn, die sich bereits Freiheitsrechte erkämpft hatten, möglich. Dafür danken wir ihnen von Herzen. Dies alles tut der Freiheits- und Nationalbewegung des 9. Oktober aber keinen Abbruch.

Schauen wir heute auf unser Land, müssen wir feststellen, dass sich neue geistige Mauern gebildet haben, dass ein tiefer Riss durch unser Volk geht.