Protocol of the Session on September 30, 2015

häufiger als Mädchen zur Diagnose und Therapie vorgestellt.“

Das liegt aber einfach daran, dass sich Jungen in der Diagnose etwas expressiver verhalten, während Mädchen eher unaufmerksam sind oder eine schüchterne Zurückhaltung an den Tag legen. Ich glaube nicht, dass das wirklich besser ist oder dass sich die Diagnose daraufhin wesentlich verändert.

Es gibt ein paar Punkte, die mich in der Anfrage ein bisschen geärgert haben. Da ist das Thema „wenige männliche Erzieher“. Ich rufe Sie wirklich dazu auf, von der Vorstellung Abstand zu nehmen, dass das biologische Geschlecht der Personen entscheidend dafür ist, ob Kinder Vorbilder haben. Es ist egal, ob es Männer oder Frauen sind. Ich glaube, dass nicht nur Männer Kindern, insbesondere Jungen, ein Vorbild durch ihr Verhalten sein können. Das ist meiner Meinung nach eine veraltete Vorstellung von Genderpolitik, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD)

Zum Thema „sexuelle Belästigung“. Ich muss sagen, da haben Sie leider recht. Hier fehlt meiner Wahrnehmung nach tatsächlich ein durchstrukturiertes und überall verfügbares Angebot für Jungen. Das in der Anfrage erwähnte Projekt im Oberbergischen Kreis oder das Theaterstück „Mein Körper gehört mir“ sind sicherlich gute Ansätze. Aber das ist ausbaufähig; denn jedes Kind, das Opfer sexueller Gewalt wird, ist definitiv eines zu viel.

Zum Schluss: Insgesamt zeigen die Formulierungen der Fragen eine teilweise etwas eingeschränkte Sichtweise auf das Thema „Gender“, indem immer noch zu häufig auf das Vorhandensein von männlichen Erziehern, Lehrern und Sozialarbeitern abgestellt wird und diese mit männlichen Rollenvorbildern gleichgesetzt werden. Das kann ich so nicht teilen.

Vielleicht noch eine Klarstellung, weil ich das gerade erwähnt habe: Da ich sowohl einen Sohn als auch eine Tochter habe, stehe ich nicht im Verdacht, nur eine Mädchenmutter zu sein und rein weibliche Interessen zu vertreten. – Ich bin gespannt auf die weitere Diskussion und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Danke schön, Frau Jansen. – Für die grüne Fraktion hat nun Frau Paul das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Walter Kern, ich glaube, die Große Anfrage und auch die Beantwortung der Großen Anfrage sind durchaus ein guter und geeigneter Aufschlag, um in dieses Thema inhaltlich ein bisschen weiter einzusteigen. Wir haben im Ausschuss für Frauen, Gelichstellung und

Emanzipation ähnliche Themen schon auf verschiedene Art und Weise diskutiert.

Jeder und jede, der bzw. die dabei war, wird wissen: Ich habe durchaus nicht bei allen Aufschlägen gedacht, dass sie besonders geeignet seien. In diesem Fall würde ich aber sagen: Damit können wir erst einmal arbeiten; denn das Anliegen ist wichtig, und es ist auch richtig, Jungen und ihre speziellen Lebenslagen in den Blick zu nehmen.

Nichtsdestotrotz muss man auch festhalten, dass Nordrhein-Westfalen an dieser Stelle durchaus gut und in gewisser Hinsicht auch vorbildlich aufgestellt ist. Wir haben die LAG Jungenarbeit, die in sehr guter Zusammenarbeit mit der LAG Mädchenarbeit das Thema ganzheitlich in den Blick nimmt.

Wir haben die FUMA Fachstelle Gender, und wir haben auch unterschiedliche Projekte aus dem Bereich LSBTTI; denn zu den Lebenslagen von Jungen gehört neben der geschlechtlichen Identität auch die sexuelle Identität. Ich glaube, da sind wir in Nordrhein-Westfalen sehr gut aufgestellt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wichtig ist natürlich auch, zu betonen – bei aller Fokussierung in Ihrer Anfrage; aber ich habe durchaus wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass bei den Fragen ganz oft in Klammern „und Mädchen“ stand –: Wir müssen darüber reden, dass Genderpolitik eine Querschnittsaufgabe ist und dass es nicht passieren darf, dass Jungen- und Mädchenarbeit sowie Jungen- und Mädchenpolitik gegeneinander ausgespielt werden.

Das unterstelle ich Ihnen auch gar nicht. Aber es ist relativ einfach, den Schritt zu gehen und zu sagen: Wir müssen jetzt etwas für die Jungen machen, für die Mädchen haben wir doch schon was. – Das Ganze muss ein Nebeneinander und ein Miteinander sein; es darf keinesfalls ein Gegeneinander sein.

(Beifall von den GRÜNEN)

Deshalb ist es so wichtig, dass wir im Bereich der Bildung und in der Kinder- und Jungendarbeit in vielfältiger Art und Weise gendersensible Ansätze haben; das heißt Ansätze, die sowohl die Lebenswelt und Lebensrealität von Mädchen als auch die von Jungen – samt allem, was damit sozial und kulturell konnotiert ist – in den Blick nehmen.

Ich denke, so verstanden – mit Blick auf eine Querschnittsaufgabe, mit Blick auf die Lebenslagen von Jungen und Mädchen – sind gendersensible Bildung und gendersensible Jugendarbeit auch ein elementarer Beitrag zur Demokratieerziehung; denn Gendergerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit – wir als Ausschussmitglieder wissen das vielleicht noch besser als manch anderer in diesem Hause – fallen nicht vom Himmel, sondern sie müssen erarbeitet und erstritten und nicht zuletzt auch erlernt werden.

Das gilt gleichermaßen für die Themen LSBTTI und Diversity. Das sind Dinge, bei denen die Bildung einen ganz wichtigen Beitrag leistet, der vielleicht an der einen oder anderen Stelle durchaus ausbaufähig ist. Unsere Gesellschaft ist bunt und vielfältig. Das zeigt sich nicht nur im Bereich der Geschlechter, sondern auch bei LSBTTI und Diversity. Dementsprechend ist es ein Auftrag von Bildung und Demokratieerziehung, dem Rechnung zu tragen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Große Anfrage macht noch einmal deutlich, dass nicht nur Mädchen ein Geschlecht haben – sonst reden wir immer von „Mädchenpolitik“ und von „Frauenpolitik“ –, sondern dass sich – erstaunliche Erkenntnis – auch Jungen mit gesellschaftlichen und sozialen Zuschreibungen konfrontiert sehen, die nicht immer zu ihrem Vorteil sind.

Trotzdem müssen wir geschlechterspezifische

Auswirkungen auf die Lebensrealitäten von Mädchen und Jungen – ich will es noch einmal unterstreichen – in einem Zusammenhang diskutieren – nicht im Gegeneinander. Sie haben es auch gesagt; die „Bildungsverlierer Jungen“ werden so oft angesprochen.

Wir müssen trotzdem festhalten, dass Frauen nach wie vor weniger verdienen, dass sie nach wie vor in Berufen unterwegs sind, die weniger Karrierechancen mit sich bringen, und dass sie nach wie vor ein eingeschränkteres Berufswahlspektrum haben.

Ein Satz sei auch zu der von Ihnen richtigerweise formulierten Forderung gesagt, wir bräuchten mehr Jungen und junge Männer in sozialen, pflegerischen und erzieherischen Berufen. Dem würde ich mich auf jeden Fall anschließen. Wir wollen mehr Jungen und junge Männer in diesem Bereich haben.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Dazu muss es natürlich eine Attraktivitätssteigerung in den Berufsbildern geben, aber nicht – das will ich noch einmal ganz deutlich sagen –, damit wir mehr Jungen und Männer in diese Berufe bekommen, sondern weil sie gesellschaftlich wichtig sind, und weil die Menschen, die dort arbeiten – im Moment sind es eben mehrheitlich Frauen –, das auch verdient haben.

(Beifall von den GRÜNEN und Daniela Jan- sen [SPD])

Es gilt aber natürlich auch, wie von Ihnen richtigerweise beschrieben, die Jungen in ihren Lebenslagen in den unterschiedlichen Bereichen mehr in den Blick zu nehmen, beispielsweise Jungen und Emotionalität; denn der Spruch „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ ist überholt und veraltet. Selbstverständlich kennen Indianer auch Schmerz, und selbstverständlich dürfen auch Jungen Schmerzen und Emotionen kennen. Diese gilt es in den Blick zu nehmen und gesellschaftlich abzubilden. Immer noch haben Jungs mit Vorurteilen zu kämpfen, dass

sie die „harten Männer“ sein müssen. – Das müssen sie vielleicht nicht unbedingt sein.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sie haben das Risikoverhalten und ebenso die unterschiedlichen gesundheitlichen Aspekte angesprochen. Hier müssen wir die Jungen anders in den Blick nehmen. Das Suchtverhalten stellt sich bei Mädchen und Jungen unterschiedlich dar.

Auch das Thema „sexuelle Gewalt“ muss noch einmal spezialisiert angegangen werden. Ich möchte da den Sport aufgreifen, den Sie in Bezug auf einen anderen Aspekt genannt haben. Der Landessportbund hat mit seinem Projekt „Schweigen schützt die Falschen“ explizit Jungen in den Blick genommen. Das ist eine vorbildliche Herangehensweise. Sonst müsste man bei der Sportförderung vielleicht noch einmal hinschauen, ob es nicht doch eher eine Jungenförderung ist, und ob wir an der einen oder anderen Stelle nicht doch mehr auf die Mädchen achten müssen.

Zusammenfassend sei gesagt: NRW ist bislang gut aufgestellt. Vieles ist auf dem Weg. Trotzdem würde ich sagen: Ihre Große Anfrage ist durchaus ein Steinbruch, in dem wir zu den unterschiedlichsten Bereichen sicherlich noch weiterarbeiten werden. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vielen Dank, Frau Paul. – Nun spricht Frau Schneider für die FDPFraktion.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor Kurzem stand in einer Zeitung in meinem Wahlkreis ein Artikel mit der Überschrift „Öl im Feuer des Geschlechterkriegs“. In diesem Bericht schildert die Leiterin des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes des Kreises Unna ihre Erfahrungen, die sie aus den letzten Schuleingangsuntersuchungen gewonnen hat. Fazit: In allen Disziplinen haben deutlich mehr Jungen Defizite als Mädchen.

Eine kleine Kostprobe: Fast jedes vierte Kind hat eine Sprachstörung. Der Anteil der Jungen beträgt rund 30 %, wohingegen der Anteil der Mädchen bei nur gut 19 % liegt. Jedes zehnte Kind fiel durch motorische Defizite auf. Auch hier schneiden unsere Jungs mit knapp 14,5 % wesentlich schlechter ab als die Mädchen mit 6 %. Hier liegt etwas im Argen; denn auch landesweit sehen die Zahlen nicht viel anders aus.

Ich bin meinen Kollegen der CDU-Fraktion in gewisser Weise dankbar, dass sie die Initiative der FDP-Landtagsfraktion in diesem Haus aufgegriffen haben. Wir haben zu diesem Thema bereits zwei Anträge gestellt; einer befindet sich noch im parlamentarischen Verfahren. Mit der Großen Anfrage

machen sie sich nun ebenfalls um das ausgemachte Missverhältnis in der NRW-Gleichstellungspolitik Gedanken.

Mein Eindruck hat sich über die Jahre in diesem Haus, über die Jahre mit der rot-grünen Landesregierung verfestigt: Wenn es um Gleichstellungspolitik geht, ist ausschließlich von Frauen- und Mädchenpolitik die Rede.

(Zuruf von Josefine Paul [GRÜNE])

Bereits in der Vorbemerkung der Antwort der Landesregierung lese ich, dass „ein wesentlicher, die Persönlichkeit prägender und in der pädagogischen Förderung relevanter Aspekt“ das Geschlecht sei – Gedankenstrich.

Bis hier bin ich noch dabei. Danach steige ich aber aus. Die Regierung setzt nämlich nach zitiertem Satz einen Gedankenstrich, um deutlich zu machen, dass wir uns nun und in der folgenden Beantwortung der Anfrage mit dem Geschlecht in biologischer wie auch sozialer Variante zu befassen haben. Ich würde sagen, dass damit schon zu Beginn die falschen Voraussetzungen gelegt werden.

Zur Verdeutlichung darf ich aus einem jüngst im „FOCUS“ veröffentlichten Interview mit dem Evolutionsbiologen Ulrich Kutschera zitieren. Kutschera antwortet auf die Frage, ob es ein soziales Geschlecht gäbe, das sich dem wissenschaftlichen Zugriff des Biologen entziehe, wie folgt:

„Der Glaube an ein von der Biologie und Evolution des Menschen losgelöstes (…) ‚Gender‘ sei der ‚Kernpunkt der Gender-Mainstreaming

Ideologie‘ und entstamme einer ‚radikalfeministischen Sekten-Esoterik der 1990er Jahre. Sie entbehrt jeglicher naturwissenschaftlichen

Grundlage.‘„

(Josefine Paul [GRÜNE]: Kommt darauf an!)

Die weiter folgenden Ausführungen werde ich uns an dieser Stelle besser vorenthalten.