Protocol of the Session on September 4, 2015

(Marcel Hafke [FDP]: Sie hätten ja einen Vor- schlag machen können!)

Das haben wir ja gemacht. Er wurde abgelehnt: Die Schuldenbremse wird gehalten. Variieren ist notwendig, Herr Hafke.

(Beifall von den PIRATEN – Marcel Hafke [FDP]: Das steht in der Verfassung!)

Ja, gut, das Grundgesetz ist aber kein Naturgesetz, und es gibt Zusammenhänge in dieser Welt, die sich uns nicht erschließen. Deshalb müssen manche Dinge vielleicht einmal in den Blick genommen werden – gerade von einer zukunftsorientierten Kommission.

Es wurde ja auch verwiesen, und in der Verfassungskommission wird das ja auch parallel diskutiert, aber dort diskutieren leider nur Juristen.

Mir kam es ein bisschen so vor – Sie werden sich vielleicht noch erinnern – wie im „Leben des Galilei“ von Bert Brecht, wo sich die Kleriker des Vatikans weigern, einen Blick durch das Fernglas zu werfen. Stattdessen kaprizierte man sich ein bisschen auf das, was nicht sein darf. Markttheologen verdammen Staatsschulden!

(Britta Altenkamp [SPD]: Selbstüberschät- zung!)

Die zweite Randbedingung: der demografische Wandel. Herr Schmitz, Sie haben es gerade gesagt: „Der demografische Wandel kommt, aber er lässt sich nicht voraussagen“ – wortwörtlich.

(Hendrik Schmitz [CDU]: Ja!)

Lange bevor der IT.NRW-Bericht kam, hatten wir den renommierten Mathematiker und Sachverständigen Gerd Bosbach, Professor der Mathematik, eingeladen, der noch einmal ganz explizit methodisch auf Stolperfallen in statistischen Voraussagen hingewiesen hat. Das wurde in den Wind geschlagen. Dadurch – das finde ich für uns alle ein bisschen schade – ist Zeit für die Kommission verloren gegangen, die man ein bisschen anders hätte verwenden können.

Man hätte sich beispielsweise noch intensiver mit dem auseinandersetzen können, was hier immer „digitaler Wandel“ genannt wird. Ich finde das ein bisschen schräg und möchte uns allen ein neues Wording vorschlagen. Wenn wir geschichtlich von der industriellen Revolution sprechen und jetzt vom digitalen Wandel, dann ist das wie Wattebäuschchenwerfen. Dazu sind wir nicht verpflichtet.

(Christian Möbius [CDU]: Machen Sie mal ei- nen Vorschlag!)

“Digitale Revolution“ ist das richtige Wording, nicht „Wandel“.

(Matthi Bolte [GRÜNE]: Hat ja noch nie je- mand benutzt!)

Wir wissen aus der Betrachtung: Die Einwohnerzahl von Nordrhein-Westfalen wird ab jetzt bis 2025 um ein knappes Prozent zunehmen. Das sind die Zahlen von IT.NRW, die Flüchtlinge noch nicht mitgerechnet.

Gerade was die digitale Revolution angeht, ist es nicht zu einer ganzheitlichen Betrachtung gekommen, die wir Piraten so gerne befürworten, sondern eher zu einer – so sage ich es mal – neoliberalen Renditeromantik. Das war nicht so schön.

(Ralf Witzel [FDP]: Oh!)

Aber glücklicherweise wird die fehlende Betrachtung zumindest teilweise durch das Sondervotum von Herrn Bontrup ersetzt.

(Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

Sehr geehrter Herr Finanzminister Norbert Walter-Borjans, Sie sind naturgemäß der erste Adressat der vielen Adressaten des Kommissionsberichts. Die Enquetekommission hat festgestellt – im Übrigen über alle Querelen hinweg; das ist durch die anderen Reden ja auch zum Ausdruck gekommen –, dass das Land NRW massiv unterinvestiert ist. Die Investitionsquoten – sowohl die investive als auch die konsumtive – sind strukturell zu niedrig.

Ich bin kein großer Freund der Bertelsmann Stiftung, im Gegenteil, aber von da kam eine Studie, die besagte, dass in diesem Jahr in NRW 3.500 Lehrer fehlen. Wie dem auch sei, auch Sie, Herr Finanzminister, gehen davon aus – Sie haben gestern sehr vorsichtig gesagt, Sie werden 2019 nicht aus dem Blick nehmen; das kann man ja immer sagen –, dass die Steuereinnahmen weiter sprudeln werden und dass die Zinsen niedrig bleiben. Das ist auch eine Form von Best-casePolitik.

In dem Zusammenhang möchte ich mit Ihnen mal einen Blick über den nordrhein-westfälischen Tellerrand werfen: In den letzten Wochen hat die chinesische Volkswirtschaft zweimal kräftig gehustet. Was, wenn daraus eine Lungenentzündung wird? Mit Sicherheit – das können wir ohne große Vorhersagekenntnisse sagen – werden die phänomenalen Wachstumsraten der letzten Jahre in China nicht zu halten sein.

Wie sollen dann hier – Stichwort „Export“, Deutschland und NRW hängen ja am Export wie ein Schwerverletzter am Infusionstropf – die Wachstumsraten gehalten werden, auch vor dem Hintergrund, dass das weltweite Finanzkapital mit einem Volumen von 3,5 bis 4 größer als die Realwirtschaft seine Renditeansprüche geltend macht und nach Investitionsmöglichkeiten sucht?

Sie, Herr Finanzminister, müssen bis 2019 – verfassungsrechtlich abgesichert – ein ausgeglichenes Budget vorlegen. Hand aufs Herz: Wie wollen Sie das machen? Wir brauchen eine expansive Finanz

politik. Ich greife nur eine Handlungsempfehlung, die sowohl im Piratensondervotum als auch in dem unseres Sachverständigen steht, heraus: Eine baldmöglichste Wiedereinführung der Vermögensteuer...

(Ralf Witzel [FDP]: Wer soll das denn bezah- len, was Sie alles fordern?)

Herr Witzel, lassen Sie mal die Renditeromantik. Hören Sie mal zu, dann können Sie noch was lernen.

(Henning Höne [FDP]: Nicht von Ihnen!)

Ich bin im Endeffekt ganz froh über den Kommissionsbericht, denn durch die beiden Sondervoten wird er eigentlich doch noch rundgemacht. Ich wünsche allen Beteiligten viel Spaß beim Lesen und bedanke mich aufs Schärfste für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Dr. Walter-Borjans.

Dr. Norbert Walter-Borjans,*) Finanzminister: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die Landesregierung schließe ich mich zunächst einmal dem Dank an, der eben den Mitgliedern der Enquetekommission gegenüber ausgesprochen worden ist.

Auch ich finde, dass es immer wieder gut ist, sich von Zeit und Zeit sehr systematische Gedanken darüber zu machen: Wie werden die nächsten Jahre, die nächsten anderthalb Jahrzehnte, die vor uns liegen, verlaufen? Es gibt eine Reihe von Dingen, bei denen man dann, wenn man diese Überlegungen nicht anstellt, doch immer nach hinten gucken und fragen muss: Was hätte man eigentlich wissen können, und was ist einfach über uns hereingebrochen?

Ich will aber dazu auch sagen – wir haben gestern schon darüber gesprochen –: Es geht hier um Flexibilität, es muss um Flexibilität gehen, aber auf einer soliden Grundlage. Ich kann für die Landesregierung zu dieser Diskussion erklären: Die gibt es auch. Es ist richtig, dass Sie die Einhaltung der Schuldenbremse als Grundvoraussetzung dafür genommen haben. Das ist eben ein paarmal unterstrichen worden, das ist richtig so, es steht im Grundgesetz. Daran haben auch wir gearbeitet. Deswegen kann ich Herrn Hafke in diesem Punkt nicht zustimmen.

Es ist immer schön, wenn man mit großen Zahlen arbeiten kann. Das ist in Nordrhein-Westfalen nun einmal so: Wir sind hinter dem Bundeshaushalt der zweitgrößte Haushalt einer – sozusagen – Gebietskörperschaft. Mit jetzt 67 Milliarden € haben wir eine Größenordnung, die es in anderen Ländern nicht

gibt. Bei 1,5 Milliarden € Kreditaufnahme – gemessen an den 67 Milliarden € – fehlen an jedem Euro gerade noch 2,5 Cent. Das muss man mit anderen vergleichen. Das hat es im Übrigen in diesem Land in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben, um das eindeutig zu sagen.

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

Ich sage auch: Was heißt „solide Grundlage“? Es gibt nicht nur den Bericht der Enquetekommission, es gibt auch einen jährlichen Nachhaltigkeitsbericht, der nach OECD-Kriterien aufgestellt wird. Er ist 2010 aufgestellt worden, als diese Regierung ins Amt kam. Der Nachhaltigkeitsbericht geht nicht davon aus, dass sich die Krise des Jahres 2008/2009 immer weiter fortsetzt, sondern er hat sich natürlich damit beschäftigt: Wie sieht denn dann die Zukunft aus?

Als wir 2010 ins Amt kamen, ging dieser Bericht davon aus, dass es noch einen Kreditbedarf von 7,4 Milliarden € im Jahr 2020 gibt. Als Sie 2013/2014 über diese Frage diskutiert haben, haben Sie schon davon ausgehen können, dass es 2020 noch einen Kreditbedarf von 0,8 Milliarden € gibt. Jetzt sind wir bei einem Nachhaltigkeitsbericht, der für das Jahr 2020 einen Überschuss von 0,2 Milliarden € vorsieht. Wenn das nicht das Schaffen einer soliden Grundlage ist, was ist es denn dann?

(Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

Wir haben gestern gesehen, auf dieser Grundlage müssen wir flexibel sein, brauchen wir Ideen und ein Nachdenken.

Ich bin sehr dankbar dafür, dass Sie 180 Handlungsempfehlungen erarbeitet und diskutiert haben. Dass dies nicht einfache Mathematikaufgaben sind, sieht man daran, dass der Bericht 200 Seiten und 100 Seiten Sondervoten hat. Auch wenn man kollegial, hinter verschlossenen Türen und zielorientiert gemeinsam arbeitet, zeigt sich: Das hat viel damit zu tun, was man erwarten muss und kann. Bei vielen der 180 Handlungsempfehlungen versucht man, nach den vorhandenen Möglichkeiten zu quantifizieren und zu überlegen, was das bedeutet, was es kostet und bringt. Aber es sind eben auch viele Handlungsempfehlungen dabei, die schlicht und ergreifend zuerst einmal nur etwas kosten. Auch da sage ich, es gibt kein Denkverbot.

(Beifall von Dr. Joachim Paul [PIRATEN])

Man darf jetzt nicht sagen: Die 180 Handlungsempfehlungen sind da. Ihr müsst euch nur hinsetzen und sie der Reihe nach abarbeiten. – Das gäbe ein ziemliches Tohuwabohu. Es geht darum, die Handlungsempfehlungen auf dieser Grundlage zu diskutieren, weiterzumachen und es nicht jetzt oder mit dem Ende einer Legislaturperiode enden zu lassen. Insofern ist das eine wichtige Arbeit.

Ich habe hier schon an mehreren Stellen gesagt, ich bin nicht nur fünf Jahre Finanzminister dieses Landes. Ich habe vor mehr als 30 Jahren meine Tätigkeit bei der Landesregierung begonnen. Wir haben 1986 einen Demografiebericht erstellt. Er war sehr detailliert und enthielt sehr viele interessante Fragestellungen und Handlungsempfehlungen. Soweit ich mich erinnere – man müsste es noch einmal genau überprüfen –, ist der Demografiebericht 1986 davon ausgegangen, dass das Land im Jahr 2000 im günstigsten Fall 15 Millionen Einwohner hat, gegebenenfalls aber auch nur 12 Millionen Einwohner. Wir wissen, dass es im Jahr 2015 nun 17,5 Millionen Einwohner sind und eine Steigerungsrate absehbar ist. Möglicherweise gibt es jetzt sogar noch einmal Überarbeitungen, die eine Vergrößerung ausweisen.

Wir werden uns nicht hinstellen und sagen können: Wir sind fertig, hier ist der Steinbruch und nun wird weitergearbeitet.

Ich finde es richtig, dass diese Arbeit geleistet worden ist. Das sage ich noch einmal. Ich finde es auch gut, wie diskutiert worden ist. Ich finde auch die angesprochenen Themen sehr gut. Sie umfassen nicht nur den finanzpolitischen Rahmen, münden aber eben immer wieder in die Finanzpolitik. Es sind Themen von Arbeit und Wirtschaft. Ja, man kann sich hinstellen und fragen: Was hätten wir erreicht, wenn wir so gewachsen wären, wie die anderen gewachsen sind? – Dann muss man sich aber auch ansehen, warum es nicht so ist. Die Formel, das liege daran, dass eine Landesregierung die Zukunftsweichen nicht richtig gestellt habe, ist für eine Opposition legitim. Sie trifft aber nicht den Kern dessen, worum es in diesem Land geht.

Auch mir macht die Tatsache Sorgen, dass es Dinge gibt, die unter dem Durchschnitt liegen. Ich möchte schon darüber nachdenken und offen diskutieren können, was man daran ändern kann. Diejenigen, die mich kennen, wissen auch, dass ich das tue. Wir wissen aber, die in diesem Land ohnehin starke Finanzkraft ist dadurch geschwächt, dass wir einen größeren Anteil von Menschen haben, der Transferempfänger und nicht Steuerzahler ist. Warum? Weil der Strukturwandel dazu geführt hat, dass Menschen diesen Wandel, der schon ein halbes Jahrhundert oder noch länger dauert, nicht mitvollziehen konnten.

Sie sprachen von der Notwendigkeit, Migranten zu integrieren und zu fördern sowie den Strukturwandel zu fördern. Man muss sagen, das machen Sie nicht mit Vorschlägen der Ausgabenminderung. Das sind teure Investitionen. Solange diese nicht fruchten, wird das gesamte Steueraufkommen – bezogen auf alle Menschen in diesem Land, nicht nur auf die Steuerzahler, sondern auch auf die anderen – im Durchschnitt unter dem Wert anderer Bundesländer liegen. Das ist aber keine Folge der Politik.

Ich stelle mich hier mit tiefer Überzeugung hin und sage: Wäre das, was in den letzten Jahrzehnten geleistet wurde, nicht geleistet worden, wäre die Gruppe derjenigen kleiner, die Arbeit haben und in modernen Industrien und Dienstleistungen arbeiten, und die Gruppe der Transferabhängigen größer. Dann wäre der Durchschnitt schlechter. Dass es hier noch Luft nach oben gibt, muss uns umtreiben, bis wir sagen können, wir sind anderen überlegen, die nur auf- und nicht umbauen mussten.

Ich will noch etwas zur Rücklage, zur Vorsorge für Pensionen sagen. Es ist wenigstens schon einmal deutlich geworden, es geht nicht um die Sicherheit von Pensionen. Die sind grundgesetzlich und gesetzlich geregelt. Sie haben überhaupt nichts mit einem Fonds zu tun, der dafür da ist. Der Fonds dient nur dazu, es in den Haushaltsjahren angemessen und richtig zu verteilen.