Protocol of the Session on March 12, 2008

Ich bin begeistert, Frau Kollegin. Vielen Dank. – Jetzt hat für die Landesregierung Frau Ministerin MüllerPiepenkötter das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Herr Sichau, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, herzlichen Glückwunsch! Sie haben es diesmal geschafft, Sie waren die Schnellsten. Sie haben als erste einen Entwurf für ein nordrhein-westfälisches Untersuchungshaftvollzugsgesetz vorgelegt. Aber dann hört es mit dem Glück schon auf. Sie haben nämlich nicht wirklich einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, sondern Ihren Entwurf weitgehend abgeschrieben, und zwar von dem Gesetzentwurf des Bundesministeriums der Justiz aus dem Jahre 2004. Was schon in der Schule galt, gilt auch hier: Abschreiben lohnt nicht.

(Beifall von der CDU)

Meistens wird man erwischt und meistens passt das Abgeschriebene auch nicht wirklich.

Zwischen dem Entwurf auf Bundesebene aus dem Jahre 2004 und Ihrem Entwurf lag, wie wir wissen, die Föderalismusreform. Mit ihr ist aber ausschließlich das Recht zur Regelung des Vollzuges der Untersuchungshaft in die Gesetzgebungskompetenz der Länder verlagert worden, keinesfalls aber das Recht zur Regelung der Untersuchungshaft selbst. Diese Kompetenz liegt nach wie vor beim Bundesgesetzgeber, der durch die Strafprozessordnung von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Fazit: Was der Bund vor der Föderalismusreform unproblematisch hätte tun können, nämlich, wie es in der Einleitung Ihres Entwurfes heißt, die in § 119 Abs. 6 der Strafprozessordnung geregelte alleinige Zuständigkeit des Gerichts für die Haftgestaltung durch eine andere Aufteilung der Kompetenzen zwischen Gericht und Anstalt zu ersetzen, das darf der Landesgesetzgeber gerade nicht.

Lassen Sie mich daher deutlich sagen: Dieser Entwurf ist verfassungswidrig. Vorschriften der Strafprozessordnung können durch Landesrecht weder ersetzt noch geändert werden,

(Frank Sichau [SPD]: Das machen wir doch gar nicht!)

nicht teilweise, auch nicht mittelbar und auch nicht die StPO bestätigend. Wäre es nach den Experten in meinem Haus gegangen, hätten wir wenigstens eine Block-III-Diskussion führen müssen, um auch nur annähernd alle handwerklichen Schnitzer aufzulisten. Deswegen muss ich mich auf einige wenige Punkte beschränken. Ich bin Herr Dr. Orth dankbar, dass er einige bereits genannt hat. Ich nenne die §§ 2, 8 und 9. Da werden Entscheidungszuständigkeiten des Gerichts festgeschrieben, betreffend das gerichtliche Verfahren, und sind der Gesetzgebungskompetenz der Länder entzogen. Ich nenne beispielhaft noch die §§ 16, 17, 23 und 26 – Besuchserlaubnis, Besuchsüberwachung, Überwachung des Schriftverkehrs, Vorführung und Ähnliches. Sie betreffen wie andere Vorschriften die Untersuchungshaftgestaltung, für die der Bundesgesetzgeber zuständig ist.

Meine Damen und Herren, wir sind uns einig, dass es wichtig ist und dass es auch zeitlich nicht hinausgeschoben werden kann, ein Untersuchungshaftvollzugsgesetz zu verabschieden, aber die Diskussion muss – davon sind wir überzeugt – auf der Basis eines verfassungsgemäßen Entwurfes erfolgen. Die Landesregierung wird Ihnen nach sorgsamer Ausarbeitung einen verfassungsgemäßen, ausgereiften und in sich stimmigen Entwurf vorlegen, der eine solide Basis für den Vollzug der Untersuchungshaft in NordrheinWestfalen bilden wird. Das sind wir dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und den Gefangenen schuldig. Der Entwurf der SPD-Fraktion genügt diesen Anforderungen auch nicht annähernd. – Herzlichen Dank.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Wir sind damit am Ende der Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfes Drucksache 14/6327 an den Rechtsausschuss. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Jemand dagegen? – Stimmenthaltungen? – Dann ist das einstimmig vom Plenum beschlossen.

Ich rufe auf:

14 50 Jahre nach dem Contergan-Skandal – NRW muss handeln

Antrag

der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Drucksache 14/6330

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende Fraktion der Frau Kollegin Steffens das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Contergan hat in der öffentlichen Debatte rund um den Film, der im Fernsehen ausgestrahlt worden ist, und den Rechtsstreit, aber auch rund um die Aktionen und Demonstrationen „50 Jahre nach Contergan“ ein Stück Aufmerksamkeit bekommen.

Im Nachgang zu diesen öffentlichen Berichterstattungen haben sich Opfer von Contergan an die Landtagsfraktionen mit Mails gewendet, haben Informationen herumgeschickt. Da ich selber Jahrgang 1962 bin und mich das genauso wie viele andere hier im Parlament hätte treffen können, habe ich den Dialog gesucht. Für mich haben sich daraus einige Punkte ergeben.

Der erste Punkt: Es tut mir leid, dass ich das Thema erst jetzt aufgreife und dass wir uns erst jetzt damit beschäftigen, denn eigentlich hätten wir auch als politisch Verantwortliche schon früher in Nordrhein-Westfalen darüber reden müssen, was wir für die Opfer von Contergan eigentlich hätten machen müssen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Der zweite Punkt, der mir klar geworden ist: Grünenthal ist nicht raus aus der Verantwortung. Wir werden Grünenthal politisch weiter fordern müssen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Denn der Vergleich, der damals getroffen wurde, war ein Vergleich zu den Geburtsschäden und kein Vergleich für das, was als Folgeschäden für die Betroffenen, für die Opfer ein Leben lang durch Contergan entstanden ist, also kein Freikaufen auf Lebenszeit für Grünenthal. Wir werden Grünenthal weiter in die Verantwortung nehmen müssen.

Der dritte Punkt, der mir klar geworden ist: Die Rente, die auch nach der beschlossenen Aufstockung des Bundestags an die Opfer von Contergan gezahlt wird, ist nicht das, was ein Mensch braucht, um den Nachteil, der durch diese Behinderung entstanden ist, zu kompensieren.

(Beifall von den GRÜNEN)

Jeder von uns kann versuchen, sich vorzustellen, was man für einen Wohnraum braucht, mit welchen Geräten, mit welchen Möbeln eine Wohnung alleine ausgestattet sein muss, damit man mit dieser Behinderung auch nur annähernd so leben kann, wie wir leben können. Ich glaube, dass wir zwar nicht als Land in die Ausfallbürgschaft der Renten im Bund und in die Ausfallbürgschaft von Grünenthal eintreten können, dass wir aber als Land auf Bundesebene politisch fordern müssen, dass dieser Nachteilsausgleich für diese sehr geringe Zahl von Menschen, die Opfer geworden sind, gewährt wird.

Ich glaube, dass wir hier anders als bei anderen Behinderungen sehr wohl als Staat mit in der Verantwortung sind, weil wir letztendlich diejenigen sind, die heute in Folge derjenigen, die damals verantwortlich waren, für die Zulassung von solchen Medikamenten heute verantwortlich sind. Die Menschen haben nicht böswillig gehandelt; sie haben nicht fahrlässig gehandelt, sondern sie haben sich im guten Glauben auf ein Gesundheitssystem verlassen

(Beifall von den GRÜNEN)

und müssen heute die Konsequenzen tragen.

Der vierte Punkt, der mir in den Gesprächen klar geworden ist, besteht darin, dass wir als Land in der Gesundheitspolitik, in der Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsversorgung eine sehr hohe Verantwortung haben und der auch gerecht werden müssen. Es kann nicht sein, dass es für die gesundheitlichen Folgen, die Schäden, die jetzt auftreten, keinen medizinischen Rat gibt oder dass jeder, der betroffen ist, den Rat selber suchen muss und sehen muss, wie er daran kommt. Wir brauchen die Vernetzung des Gesundheitssystems; wir brauchen den Austausch für die Betroffenen und wir brauchen Anlaufstellen: Wohin soll man als Betroffener gehen, wenn man einen medizinischen Rat braucht?

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir müssen als Land eingreifen und helfen. Wir müssen die Vernetzung schaffen, und wir müssen dafür sorgen, dass es auch für die Opfer von Contergan möglich ist, selbstbestimmt alt zu werden. Es kann nicht sein, dass die Kinder der Opfer sozusagen die Verantwortung tragen müssen, die wir im politischen Raum übernehmen müssten. Deswegen müssen wir in den Dialog kommen.

Wir Grünen haben einen Antrag geschrieben, bei dem ich wie immer nicht auf Punkt und Komma, Wort und Strich und Absatz bestehe. Dieser Antrag ist für uns ein Aufschlag, damit wir auf Lan

desebene zwischen allen Fraktionen, mit dem Ministerium, mit den Betroffenen, mit den Opfern in den Dialog kommen, damit wir gemeinsam gucken, was die Menschen brauchen, wie viele Menschen betrifft das und was wir machen können. Ich möchte, dass dieser Antrag zu einer Anhörung, zu einem Fachgespräch führt, an dem sich das Ministerium beteiligt, bei dem wir danach sehen können, was wir machen können.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch müssen wir sehen, wie wir den Fachminister auch in seiner Funktion als Arbeitsminister mit ins Boot holen können. Und wir müssen danach sehen, wie man in dem Bereich den Menschen helfen kann, dass wir also die Verantwortung übernehmen, die das Unternehmen in dem Maße leider nicht übernommen hat, wie es notwendig gewesen wäre, dass wir den Menschen helfen, so weit es geht. Ich wünsche mir, dass dieser Dialog jenseits von politischem Streit, jenseits von politischer Profilierung stattfindet und dass wir gemeinsam den Opfern helfen, denn die Zeit läuft davon.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Steffens. – Für die CDU-Fraktion hat die Abgeordnete Kordowski das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Schlafmittel Contergan hat tatsächlich damals den größten Medizinskandal der deutschen Pharmageschichte ausgelöst. Niemanden hat diese Tragödie unberührt gelassen. Von den 5.000 in Deutschland geborenen sogenannten Contergan-Kindern leben heute noch rund 2.700.

Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, thematisiert richtigerweise die aktuelle Lebenssituation der heute 45- bis 50-jährigen geschädigten Menschen, die sich in bewundernswerter Weise ihren Platz im Leben erkämpft haben und eine Lebensleistung zeigen, die unseren Respekt abverlangt.

Frau Steffens, ich gebe Ihnen Recht: Ich bin zwar Jahrgang 1953. Wenn ich darüber nachdenke, wird es mir auch ganz anders. Es hätte viele von uns treffen können. Da gebe ich Ihnen völlig Recht.

Heute leiden die Contergan-Geschädigten an Spätfolgen, an schmerzhaften Spätfolgen, die durch jahrelange Fehlbelastungen des Halteapparates, der Wirbelsäule, der Gelenkemuskulatur

entstanden sind – Spätfolgen, die zum Zeitpunkt der Errichtung der Bundesstiftung – damals hieß sie Hilfswerk für behinderte Kinder – zwischenzeitlich ist sie umbenannt worden in ConterganStiftung für behinderte Menschen 1971 nicht absehbar waren.

Aus den Mitteln der Stiftung, so wie Sie es auch gesagt haben, für die neben der Firma Grünenthal auch der Bund Zahlungen geleistet hat, werden Entschädigungsrenten an die Opfer gezahlt, und zwar je nach Schweregrad wird eine Entschädigung zwischen 121 € und 545 € monatlich gezahlt, meine Damen und Herren.

An dieser Stelle gebe ich der Frau Steffens Recht: Das ist nicht ausreichend. Seit die Mittel der Stiftung im Jahre 1997 aufgebraucht waren, erfolgen die Zahlungen vollständig aus Bundesmitteln. Es ist aber nicht allein die Finanzierung zur Bewältigung der medizinischen und psychischen Spätfolgen, auch die Gewährleistung der Alterssicherung und Hilfen zur Bewältigung des Alltags zeigen klar erkennbare Defizite und somit den Handlungsbedarf auf. Da stimme ich der antragstellenden Fraktion ausdrücklich zu.

Allerdings sage ich an dieser Stelle auch klar: Anzusprechen sind zuallererst der Bund und die Firma Grünenthal.

Aber es ist bereits gehandelt worden. So haben die Vertreter des Bundesverbands Contergangeschädigter im Oktober vergangenen Jahres das zuständige Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über die aktuelle Lebenssituation Contergan-Geschädigter informiert und ihre Forderungen benannt. Es würde den zeitlichen Rahmen sprengen, diese Forderungen im Einzelnen aufzuzählen. Keine Angst, Herr Präsident, ich werde das nicht machen.

Ganz kurz skizziert beinhaltet das Forderungen bezüglich der Stiftungsleistungen, der Gesundheit, der Pflege, der Assistenz, der Mobilität, des Schwerbehindertenrechts und der häuslichen Lebenswelt – also all das, was auch Frau Steffen eingefordert hat.

Ein erstes Treffen mit dem geschäftsführenden Gesellschafter der Grünenthal GmbH, Sebastian Wirtz, erfolgte kurz darauf, im Dezember 2007, und das lässt hoffen.