Protocol of the Session on October 25, 2007

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 2003 hat sich die Zahl derjenigen, die wegen Überlastung der Justiz als mutmaßliche Straftäter freigelassen worden sind, mehr als verdoppelt. Noch nie sind 19 Straftäter in NRW freigelassen worden – und das bei einem Schnitt von zehn Freilassungen in den letzten siebzehn Jahren, Frau Ministerin. Das sind Ihre Zahlen.

Wir sagen Ihnen ganz deutlich: Die Freilassung von 19 mutmaßlichen Mördern, Räubern, Verge

waltigern, Erpressern oder anderer Verbrecher ist ein Armutszeugnis für dieses Land und natürlich auch für diese Regierung.

Im Sommer haben Sie im Rechtsausschuss gesagt, es seien „nur 19“. Heute Morgen im Rechtsausschuss sprachen wir über sinkendes Vertrauen in die Justiz. Vielleicht liegt es auch an dieser Formulierung „nur 19“. Wieso „nur“ 19? Es sind 19 zu viel. Wir reden über 19 Schwerverbrecher auf den Straßen in NRW. Wissen Sie eigentlich, was es für die Opfer dieser 19 mutmaßlichen Täter bedeutet, dass diese untergetaucht sind, jederzeit vor der Tür stehen können und möglicherweise unliebsame Zeugen beseitigen? Oder die Opfer haben einfach Angst, im Dunkeln nach Hause zu kommen. Diese Angst scheint Ihnen egal zu sein, Herr Kollege Orth.

Als Patentanwalt interessiert das vielleicht nicht so sehr; das kann natürlich sein.

Stattdessen verkünden Sie, Frau Ministerin, gestern:

„Die Bevölkerung hat einen Anspruch auf optimalen Schutz vor gefährlichen Straftätern.“

Wenn das nicht von Ihnen käme, dann würde ich es ernst nehmen. Wenn Sie das aber ernst meinen, dann sorgen Sie doch bitte dafür, dass in Untersuchungshaft befindliche Beschuldigte, denen Gewalt und Sexualstraftaten vorgeworfen werden, dort bleiben, und sorgen Sie dafür, dass in erster Instanz verurteilte Gewaltverbrecher nicht aus unseren Gefängnissen wie Houdini verschwinden! Das ist Ihre Aufgabe.

(Beifall von der SPD)

Ferner möchte ich Ihnen sagen – von der Regierung sind ja nicht all zu viele da –: Sie mit Ihrer Koalition der gebrochenen Versprechen legen ja Wert darauf, immer an erster Stelle zu sein. Jetzt besorgen wir es Ihnen, kein Problem:

Platz 6 bei der Belastung eines Richters am Landgericht, Platz 4 bei der Belastung eines Staatsanwaltes, der in Nordrhein-Westfalen 30 % mehr Fälle als sein Kollege in Sachsen bearbeiten muss, und – Applaus auf den Plätzen der Regierungsfraktionen! – Platz 1 bei der Belastung mit Strafverfahren pro Richter am Amtsgericht in NRW, der 40 % mehr Fälle als sein Kollege in Mecklenburg-Vorpommern bearbeiten muss.

Ich danke Ihnen, dass Sie nicken, Frau Ministerin. Das ist nämlich Ihre Statistik. Aber diesen ersten Platz wollten Sie wohl nicht haben.

Ich will Sie gerne erinnern: Der Deutsche Richterbund sagte im April, die Entlassung dieser 19 Verbrecher ist darauf zurückzuführen, dass die Justiz überlastet ist. Das nehmen Sie heute nicht mehr ernst. Sie sind ja keine Vorsitzende mehr. Doch möchte ich gerne an den 26. Februar 2004 in diesem Hause erinnern. Da hieß es: Überlastung der Justiz – die Bürger erwarten, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte schnell Straftäter anklagen und verurteilen. – Wer hat dieses Pressegespräch geführt? – Moment ich muss nachschauen: Frau Richterin am Oberlandesgericht Roswitha Müller-Piepenkötter. Ach, dass waren ja Sie, Frau Ministerin. Es wäre schön, wenn man sich anders als Konrad Adenauer doch noch an sein Geschwätz von gestern erinnern würde. Insofern befinden Sie sich ja in guter Gesellschaft.

(Beifall von der SPD)

Da hat es geheißen: Kein Justizbereich ist so unterbesetzt wie die Staatsanwaltschaften – die Gesamtausstattung ist wenig auskömmlich, es fehlt jeder dritte oder vierte Staatsanwalt, es ist ein systembedingtes latentes Sicherheitsrisiko. Das erklärte der FDP-Abgeordnete Jan Söffing. – „Söffing“ steht zwar nicht mehr im AbgeordnetenHandbuch, aber ich erinnere mich an ihn. Das ist der Staatssekretär. Es wäre eine gute Gelegenheit, den Worten des Staatssekretärs auch einmal Taten folgen zu lassen. Aber letztendlich haben Sie wohl die Formulierung „Sicherheitsrisiko“ dem Kollegen Lindner genannt, als er sagte, unsere Ministerin sei ein solches.

Aber auch, wenn man nicht Minister oder Staatssekretär geworden ist: Auch Herr Biesenbach – an Ihnen kann ich nicht vorbeikommen – sagte 2002, dass 1.000 Richter und 500 Staatsanwälte fehlen. Besorgen Sie doch einfach mal diese Stellen, Herr Biesenbach. Die Richter und Staatsanwälte in diesem Land würden sich freuen. Stattdessen beabsichtigen Sie, im Jahr 2008 500 weitere Stellen in der Justiz einzusparen, ein Umstand, der 1.000 Richter und Staatsanwälte dazu gebracht hat, mit Kerzen auf den Landtag hin zu marschieren. Das ist in der Geschichte von Nordrhein-Westfalen einmalig und ebenso sicherlich ein Armutszeugnis für diese Landesregierung.

Aber da Sie alle alten Sachen nicht interessieren, hier einmal etwas Neues. Herr Minister Laschet hat heute gesagt: Wir halten, was wir versprechen. – Und was steht im Koalitionsvertrag: Die Gerichtspraxis muss sicherstellen, dass Straftäter nicht wegen Ablaufes der 6-Monats-Frist freigelassen werden müssen. – In 19 Fällen haben Sie es nicht sichergestellt und Ihre Versprechen gebrochen. So deutlich muss man das sagen.

Deshalb, Frau Ministerin, reicht es nicht mehr aus, organisatorische Maßnahmen zu ergreifen. Sorgen Sie für eine auskömmliche Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften, sorgen Sie dafür, dass nicht noch weitere Schwerverbrecher entlassen werden, und -letztendlich – tun Sie das, wofür Sie Ihr Geld bekommen: Sorgen Sie dafür, dass die Menschen in Nordrhein-Westfalen wieder an die Justiz glauben! – Danke.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Stotko. – Für die FDP-Fraktion hat Herr Dr. Orth das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Stotko, wenn man Ihnen zuhört, kann man meinen, Sie wollten am Ende des Tages, wenn Ihre Fraktion da ist, eben einmal eine justizpolitische Generaldebatte eröffnen. Das können Sie gerne haben. Da kann ich Ihnen vieles aufzählen. Wir können ja einmal anfangen und uns vorstellen, die Justiz sei der Kölner Dom. Der Kölner Dom wird auch in 100 Jahren permanent eine Baustelle sein. Die Frage ist aber: Übernehmen Sie die Verantwortung für die Sanierungsmaßnahmen? – Da kann ich nur sagen: Oberirdisch war der Putz einigermaßen in Ordnung, aber darunter war alles kaputt. Dementsprechend müssen wir unglaublich viel Kraft und Mittel investieren, und zwar in den gesamten Justizbereich.

(Beifall von der FDP)

Aber es ist ja ganz einfach: Sie stellen Sie da hin und pieksen mal da und pieksen mal dort. Dann erwähnen Sie aber bitte auch, dass wir in Düsseldorf ein neues Gericht für 80 Millionen € bauen,

(Beifall von der FDP – Thomas Stotko [SPD]: Planen!)

dass wir eine neue Justizvollzugsanstalt in Düsseldorf bauen, die Sie uns verkauft haben, als sie noch nicht genehmigt war, dass wir eine neue Justizvollzugsanstalt in Wuppertal bauen, dass wir den Justizvollzug in Heinsberg gestärkt haben

(Beifall von der FDP – Thomas Stotko [SPD]: Thema!)

und dass wir auch wegen der Ereignisse in Siegburg – nicht erst seit dem, sondern auch vorher, da wir bereits vorher das Gewaltgutachten in Auftrag gegeben haben, das Sie niemals in Auftrag gegeben haben – angefangen haben, auch im Strafvollzug neue Akzente und neue Schwerpunkte zu setzen.

(Beifall von FDP und CDU)

Wenn Sie allen Ernstes meinen, Sie könnten alles auf einmal machen, dann haben Sie die Grundrechenarten nicht gelernt, Herr Kollege Stotko.

Nun zum Antrag: Frau Kollegin Düker, es wäre nett, wenn Sie zuhören würden. Sie fordern darin einige neue Statistiken. Dazu kann ich nur sagen: Schauen Sie doch einmal auf die Seite des Statistischen Bundesamtes. Dort finden Sie nämlich einen Bundesvergleich zu der Verfahrensdauer. Insofern könnten wir uns diesen Punkt sparen.

Man muss auch sagen, dass die Anforderungen der Rechtsprechung immer stärker geworden sind, dass die Rechtsprechung Gefangene immer schneller aus der Untersuchungshaft entlässt. Da kann ich als ein Vertreter der Rechtsstaatspartei nur sagen: Das finde ich richtig. Ich bin froh darüber, dass wir Gerichte haben, die auch die Rechte der Gefangenen entsprechend wahren.

(Beifall von der FDP)

Wir haben ein anderes Verständnis, als es die Fraktion der Grünen jedenfalls in der letzten Legislaturperiode hatte. Als wir nämlich eine Debatte darüber führten, dass Häftlinge vorzeitig entlassen wurden, hat die Vorgängerin von Frau Düker, die Frau Hausmann, sich hierhin gestellt und eine Richterschälte betrieben nach dem Motto: „Wie können Sie die denn laufen lassen?“ Meine Damen und Herren, das ist ein Verständnis, das entlarvend ist und jedenfalls von uns niemals geteilt wird.

(Beifall von FDP und CDU)

Wir wünschen uns, dass die Anzahl der Entlassungen aus der Untersuchungshaft so gering wie möglich gehalten wird,

(Thomas Stotko [SPD]: Nicht wünschen, sondern tun!)

so wie wir uns natürlich auch wünschen, dass die Anzahl der Entflohenen so gering wie möglich ist, dass so wenig passiert wie möglich, aber wir werden es niemals dauerhaft auf Null schrauben können. Dafür sind die Anzahl der Inhaftierten und die Anzahl der Straftaten zu groß. Wir sind dabei, alles das, was Sie nicht saniert haben, zu sanieren. Ich denke, dass wir am Ende der Legislaturperiode schon vieles geschafft haben. Sie haben uns aber so viel Mist hinterlassen, dass wir das wahrscheinlich nicht alles vorher schaffen werden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von FDP und CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Orth. – Für die Landesregierung spricht Frau Ministerin Müller-Piepenkötter.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte nicht die Bezeichnung des früheren SPD-Vorsitzenden für Oppositionsarbeit zitieren, die jeder von Ihnen kennt, stelle aber fest: Oppositionsarbeit ist jedenfalls bequem. Man nimmt ein paar Zahlen, die entweder falsch oder veraltet sind und von Interessenvertretungen gern genannt werden, weil sie ins eigene Konzept passen, und zieht daraus mutige Schlüsse.

Frau Düker selbst hat sich auf Zahlen für das Jahr 2005 bezogen und zieht daraus Schlüsse für die Jahre 2006 und 2007. Sie, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, behaupten, die Justiz sei insgesamt unzureichend aufgestellt. Diese Aussage leugnet klar die Realität.

Richtig ist, dass die Gerichte und Staatsanwaltschaften immer noch sehr hoch belastet sind. Indes ist die Belastung im Jahr 2006 geringer gewesen als in den Vorjahren. Die Belastungssituation ist damit sicher keine Erklärung

(Thomas Stotko [SPD]: Das sieht Herr Gnisa ganz anders!)

für die Zahl der wegen Fristablaufs aus der Untersuchungshaft Entlassenen im Jahr 2006. Denn trotz der desaströsen Haushaltslage, die uns RotGrün hinterlassen hat, ist es uns gelungen, den von der Vorgängerregierung beschlossenen Stellenabbau in der Justiz weitgehend zu stoppen.

(Beifall von der CDU)

Durch Streichung von kw-Vermerken und die Einrichtung von neuen Stellen konnte im Geschäftsjahr 2006 die Belastung zurückgeführt werden. Die in dem Antrag genannten hohen Belastungszahlen beziehen sich auf das Jahr 2005 und sind für das Jahr 2006 schlicht falsch.

Eines möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen: Der Stellenabbau im Bereich der Rechtsprechung, den Sie, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen kritisieren, ist ausschließlich auf Entscheidungen der früheren Landesregierung zurückzuführen. An diesen Entscheidungen waren Sie nicht unmaßgeblich beteiligt. Wir haben hingegen diesen Stellenabbau, so weit wie es die Haushaltslage eben zuließ, rückgängig zu machen.

Erneut zu den Zahlen: Auch die weitere Behauptung von Bündnis 90/Die Grünen, die Landesre

gierung beabsichtige den Abbau von weiteren 380 Stellen im richterlichen und staatsanwaltlichen Dienst, entbehrt jeder Grundlage.

Tatsache ist, dass im richterlichen Dienst der ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie im staatsanwaltschaftlichen Dienst noch 78 kw-Vermerke zu realisieren sind. Dem stehen 125 kw-Vermerke gegenüber, die die neue Landesregierung entgegen den Planungen der Vorgängerregierung im laufenden Jahr mit Rücksicht auf die hohe Belastung der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Staatsanwaltschaften gestrichen hat.

Die Landesregierung hat damit die Personaleinsparungen der Vorgängerregierung weitgehend revidiert. Sie hat zugleich dem verfassungsgemäß vorgegebenen Beschleunigungsgebot in Strafsachen wieder Geltung verschafft – nicht nur in Haftsachen, sondern in allen Bereichen der Strafverfolgung.