Protocol of the Session on September 28, 2006

Meine Damen und Herren, im Verlauf des Entstehens dieses Antrags ist mir auch die Frage gestellt worden, ob ich mit den Kompetenzzentren den gemeinsamen Unterricht für Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf abschaffen wolle. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Nach unserer Philosophie sollen Kinder mit besonderem Förderbedarf ohne Stigmatisierung eine normale Schule besuchen können. Es muss das Ziel einer echten Integration sein, ohne ISchulen und I-Klassen auszukommen. Alle Kinder könnten im Sinne des dänischen Normalisierungsprinzips die allgemeinen Schulen besuchen und dort die Förderung erhalten, die sie brauchen. Das müssen wir dadurch erreichen, dass die Kompetenzzentren in enger Zusammenarbeit mit den allgemeinen Schulen und den Erziehungsberechtigten jedem Kind im Einzelfall die benötigten Förderressourcen zukommen lassen.

Es ist auch die Befürchtung geäußert worden, dass die Lehrerinnen und Lehrer aus den Kompetenzzentren mit dem Lasso durch die Regelschulen gehen und die Kinder für die Förderschulen

einfangen würden. Das wird mit Sicherheit nicht so sein, da der Auftrag nach der Intention des Schulgesetzes deutlich ein anderer ist.

Es geht darum, die Kinder dort abzuholen, wo sie stehen, und ihnen – ich wiederhole das gerne – die Förderung angedeihen zu lassen, die sie brauchen beziehungsweise die ihnen auch gesetzlich zusteht. Das ist aber keine Frage der Organisationsform, sondern die Frage nach einem durchdachten Konzept passgenauer Fördermöglichkeiten.

Wir sind sicher, dass die Bildung von Kompetenzzentren die sonderpädagogische Förderung fort- und vor allem weiterentwickelt. Außerdem nehmen wir damit Bestrebungen und erste Versuche auf, die in der Fachwelt bereits vorhanden sind.

Von den Zentren aus sollen die Förderbedarfe der Kinder diagnostiziert und die notwendigen Förderbedarfe definiert werden. Dabei wird es richtig und wichtig sein, die Vernetzung der notwendigen Instrumentarien zu organisieren. Kompetenzzentren sollen Eltern beraten, wie die Kinder gefördert werden sollen und wo der beste Förderort ist. Es soll dabei zu einer gemeinsam getragenen Entscheidung zum Wohle der Kinder kommen.

Eine weitere Aufgabe soll von den Kompetenzzentren übernommen werden: Sie sollen quasi zu Beratungsstellen für die Regelschulen werden, sowohl für den Einzelfall als auch generell. Hierdurch schaffen wir eine große Hilfe besonders in der Eingangsphase der Grundschule und für die Prävention.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Michael Vesper)

Meine Damen und Herren, es ist mir sehr wohl bewusst, dass der Antrag keine endgültigen Antworten auf alle Fragen gibt. Sowohl von der Sache als auch von den Trägerstrukturen her ist es eine komplizierte Materie. Da sind kommunale Träger wie Landschaftsverbände und freie Träger gefragt. Natürlich sehe ich schon jetzt jede Menge juristische, personalrechtliche und auch finanzielle Fragen am Horizont.

Der Antrag ist keine leichte Kost, sondern mühsam zu kauendes Schwarzbrot. Aber wir dürfen auch vor komplizierten Aufgaben keine Angst haben. Nein, wir müssen anfangen, sie zu lösen. Der Antrag fordert die Landesregierung auf, detaillierte Verfahrensvorschläge zu machen. Dabei werden sich manche Sachzusammenhänge noch deutlicher und besser darstellen und Probleme einer Lösung nähergebracht werden können.

Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Gehen Sie den Weg mit, nachdem

Sie schon bei der Schulgesetzverabschiedung der möglichen Bildung von Kompetenzzentren einvernehmlich zugestimmt haben. Die Förderung von Kindern mit besonderem Förderbedarf sollte keine neuen Gräben aufreißen; sie muss unser aller Anliegen sein. – Herzlichen Dank.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist Frau Pieper-von Heiden für die FDP-Fraktion, die Mitantragstellerin ist.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zahl der Schülerinnen und Schüler in NRW mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist in den letzten Jahren kontinuierlich angewachsen. Mehr als 5 % der Kinder werden derzeit in den Systemen Förderschule sowie gemeinsamer Unterricht sonderpädagogisch gefördert. Das ist anteilig in der Tat weitaus mehr als in anderen Bundesländern.

68,3 % der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind dem Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen zuzurechnen. 12 % aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gehören zum Kreis der schwerstbehinderten Schülerinnen und Schüler, für die der gemeinsame Unterricht nicht anwendbar, in vielen Fällen zumindest hoch problematisch ist. Diese Kinder haben schwerwiegende soziale, geistige, körperliche und/oder motorische Beeinträchtigungen und einen stark erhöhten Förderbedarf.

Die Art der sonderpädagogischen Förderung von Kindern hat sich in den letzten Jahren verändert. Heutzutage wird richtigerweise mehr nach dem individuellen Förderbedarf eines jeden Kindes gesehen. Mögliche Defizite werden nicht länger über einen Kamm geschoren. Eine individuelle Förderung muss nach den besten Möglichkeiten erfolgen. Diese brauchen geeignete Orte zur Umsetzung.

Zwei Systeme, die sich in NRW auseinanderentwickelt haben, müssen wieder unter eine Verantwortung gestellt werden, gerade weil an unterschiedlichen Förderorten unterrichtet und gefördert wird. Ansonsten kann es zum Beispiel bei einem prognostizierten Sinken der Schülerzahlen in unseren beiden Systemen der sonderpädagogischen Förderung extrem schwierig werden, wie bisher flächendeckend ein wohnortnahes Angebot für alle sonderpädagogischen Förderschwerpunkte sicherzustellen.

Förderschulen sollen sich deshalb zu Kompetenzzentren weiterentwickeln. Sie bieten die Möglich

keit, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an dem für sie am besten geeigneten Ort gezielt zu fördern. Kompetenzzentren haben die Aufgabe der Diagnose, der Beratung von Eltern und Lehrern sowie der Einleitung präventiver Fördermaßnahmen auch vor Einholung eines nach der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung zu erstellenden zeitaufwendigen Gutachtens. Frau Kastner hatte das bereits angesprochen. Kurz gesagt: Wir wollen handeln, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.

(Beifall von der FDP)

Auf diese Weise kann in vielen Fällen das sehr aufwendige Gutachterverfahren vermieden und können zusätzliche Personalressourcen für die eigentliche Förderung, auf die wir den Schwerpunkt legen wollen, freigesetzt werden.

Kompetenzzentren ermöglichen also eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, eine bessere Nutzung der Ressourcen und ein wohnortnahes Angebot sonderpädagogischer Förderung.

Früher wurde die Frage nach dem Förderort für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht immer aus rein fachlicher Sicht diskutiert, sondern eher aus verwaltungspraktischer Sicht. Vor diesem Hintergrund muss auch kritisch überdacht werden, ob der gemeinsame Unterricht mit seinen Ressourcen ideal zur Förderung von Kindern mit schweren Behinderungen ist. Der GU muss dringend qualitativ verbessert werden, sonst ist er vielfach nicht verantwortbar. Sicher werden Kinder mit Behinderungen hier sehr gut sozial integriert. Das alleine hilft aber nicht, wenn das Kind im gemeinsamen Unterricht nicht spezifisch und individuell auf qualitativ hohem Niveau gefördert werden kann. Eine derartige Förderung konnte im Rahmen des GU bislang nur dann stattfinden, wenn die sonderpädagogische Lehrkraft die entsprechende Fachrichtung, die die Behinderung des jeweiligen Kindes im GU abdeckte, studiert hatte.

Schon vor Jahren hat Prof. Hurrelmann in einer Studie festgestellt, dass die Defizitausprägungen der Kinder mittlerweile völlig anders ausfallen als früher, dass es ungeheuer schwer geworden ist, diese Kinder exakt der benötigten sonderpädagogischen Förderung zuzuführen, weil die Ausbildung der Pädagogen nicht differenziert genug ist.

Die sonderpädagogische Förderung in NRW muss diesem Umstand Rechnung tragen. Auch behinderte Kinder sind individuell sehr verschieden. Auch und gerade sie brauchen diese individuelle Förderung.

Multidisziplinäre Förderung hat aber auch besondere räumliche Voraussetzungen. Der GU ist nicht immer in der Lage, dies zu bewerkstelligen. Auch kann nicht jede Förderschule alle Förderarten in Gänze abdecken. Deshalb halten wir Kompetenzzentren für die Lösung der Zukunft. Sie machen wohnortnahe Angebote zu Diagnose, Beratung und Prävention und halten den geeigneten, den idealen Förderort für jedes einzelne Kind vor. Auch können Kompetenzzentren die vorhandenen fachlichen Ressourcen wesentlich flexibler einsetzen, als dies bislang möglich war.

Daher benötigen wir dieses Konzept zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung. Wir wollen die sonderpädagogische Förderung auf ein stabiles und zukunftsorientiertes Fundament stellen und einen kurz-, mittel- und langfristigen Rahmen dafür abstecken. Für dieses ebenso sinnvolle wie notwendige Anliegen bitte ich um die Unterstützung aller Fraktionen. – Danke schön.

(Beifall von FDP und CDU)

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Trampe-Brinkmann das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Für uns Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen standen Fragen der Bildung stets an oberster Stelle der politischen Debatte. Bildung war und ist für uns das zentrale Thema, wenn es darum geht, allen Menschen in unserem Lande den Zugang zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Aus diesem Grunde haben wir ganz aktuell eine erneute innerparteiliche Diskussion angestoßen mit dem Titel „Beste Bildung für alle“. Diese Diskussion ist insbesondere zwei Ausgangspunkten geschuldet:

Zunächst bedarf es vor dem Hintergrund der PisaErgebnisse, aber auch anderer internationaler und nationaler Vergleichsstudien einer generellen Diskussion über das Bildungswesen in NordrheinWestfalen.

Zum Zweiten ist es aber auch erforderlich, sich kritisch mit den aktuellen bildungspolitischen Vorstellungen der Koalitionsparteien auseinanderzusetzen, gleichen diese doch eher der bismarckschen Vorstellung der Drei-Klassen-Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als einer innovativen und

modernen Bildungsvorstellung, nach der jeder mit seinen Stärken und Schwächen gefördert wird.

(Beifall von der SPD)

Unsere Bildungsvorstellungen beruhen eben nicht auf Selektion, sondern sind ähnlich wie bei den Pisa-Gewinnerländern auf Gemeinsamkeit und Integration ausgerichtet. Aus diesem Grunde bedarf es auch stets kritischer Selbstreflexion über unsere eigenen Grundüberzeugungen, aber ebenso einer kritischen Würdigung von Vorstellungen und Meinungen anderer. Wir haben diesen innerparteilichen Diskurs gestartet, der ergebnisoffen ist und zu dem jedermann eingeladen ist, dem die Zukunftsperspektiven der jungen Generation am Herzen liegen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir zum Diskurs über die beste Bildung für alle einladen, dann haben wir selbstverständlich auch die Bildung für Menschen mit Behinderungen und Defiziten im Auge. Gerade die Vielzahl von Defizit- und Behinderungssachständen lassen es schon schwierig erscheinen, einen Antrag, wie den nun vorgelegten, zu diskutieren. Darüber hinaus wird es umso schwieriger, die Diskussion zu führen, hat man nicht nur den Bereich der Förderschulen oder des gemeinsamen Unterrichts im Blick, sondern will man das Thema Bildung auch bis zur beruflichen und universitären Ausbildung umschreiben.

Schon in der Denkschrift „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ hat die Bildungskommission Nordrhein-Westfalen im Juni 1994 im Auftrag von Johannes Rau den Versuch unternommen, jenseits der tagesaktuellen Politik Weichenstellungen aufzuzeigen, die auch heute in einer gesellschaftspolitischen Umbruchsituation noch von aktueller Brisanz sind.

Im Vorwort zum Kapitel „Sonderpädagogische Förderung“ heißt es – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:

Einfache Lösungen gibt es in diesem schwierigen Feld der Förderung nicht. Die Schule der Zukunft soll die allgemeine Schule und als Sonderschule alle Kinder von ihren Voraussetzungen her zu der ihnen möglichen Lernkompetenz führen. Sie soll entsprechend den Grundsätzen differenzierter Förderung dazu beitragen, dass behinderte Kinder und Jugendliche ihren Platz im Haus des Lernens finden.

Meine Damen und Herren, wahrscheinlich war es Zufall, dass in derselben Juniwoche 1994 die Unesco-Weltkonferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ im spanischen Sa

lamanca stattfand. Daran nahmen über 300 Vertreter von 92 Regierungen und 25 internationalen Organisationen teil. Im Vorwort der mittlerweile berühmten Salamanca-Erklärung heißt es – ich zitiere nochmals –:

„Es geht schließlich darum, einen grundlegenden Paradigmenwechsel hin zu einer Gesellschaft umzusetzen, die alle in ihrer Verschiedenheit schätzt und willkommen heißt.“

Weiterhin liest man:

„Wer im Kindergarten und auf allen Schulstufen gelernt hat, andere so zu akzeptieren, wie sie sind, Menschen und nicht Defekte sieht, der wird auch später keine aussondernden Vorurteile haben und somit eine tolerante Gesellschaft prägen.“

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ausgehend von unserem Axiom der Bildungspolitik haben gerade die rot-grünen Landesregierungen in den letzten zehn Jahren ein System von Förderangeboten für Kinder mit Behinderungen und Defiziten aufgebaut, welches sicher nicht den Vergleich mit Systemen anderer Bundesländer zu scheuen braucht.

Neben zieldifferenten und zielgleichen Bildungsabschlüssen hat besonders der Namenswechsel von der Sonderschule hin zur Förderschule einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Darüber hinaus war und ist es uns besonders wichtig, dass das Projekt gemeinsamer Unterricht installiert und zunehmend gefördert wurde und weiterhin gefördert wird.

Es gehört zu unseren Überzeugungen, dass gerade die Integration von Kindern mit Defiziten in das normale Schulwesen nicht nur für diese Kinder vorteilhaft ist, sondern dass im Sinne der Salamanca-Erklärung alle Kinder und Jugendlichen vom gemeinsamen Unterricht profitieren können. Gute Beispiele hierfür gibt es in den PisaSiegerländern reichlich. Gerade die skandinavischen Länder, aber zum Beispiel auch Frankreich, Italien und Kanada kennen unser differenziertes Angebot nicht und sind trotzdem gerade bei den Ergebnissen der schlechtesten 5 % der Schülerinnen und Schüler immer noch deutlich besser als wir.

In der Frage der sonderpädagogischen Förderung gibt es also zwei Pole: Entweder man löst alle bestehenden Sondereinrichtungen auf und beschult ausschließlich integrativ, oder man installiert ein differenziertes System wie wir in Deutschland, welches aus sich heraus eine Eigendynamik entwickelt, ständig zu wachsen.