Protocol of the Session on September 13, 2006

Ein Teil des Defizits ist wirklich hausgemacht. Wir haben zum einen die Einbeziehung der Hartz-IV-Empfänger und -Empfängerinnen in die GKV, was mit Sicherheit aus solidarischen Gründen richtig ist. Aber man muss darüber reden, ob man aus dem Kreis der Versicherten wirklich diese enormen Kosten kompensieren kann.

Auf der anderen Seite haben wir im nächsten Jahr die Anhebung der Mehrwertsteuer vor uns. Dabei ist klar, dass diese Mehrwertsteuererhöhung vor den Arzneimitteln nicht Halt machen wird und damit die Kosten der Arzneimittel und damit die Kosten und Belastungen des Gesundheitssystems enorm in die Höhe treibt. Da hätte man auch wie in anderen Ländern überlegen können, ob man die Arzneimittel nicht aus einer solchen Erhöhung herausnimmt und hierfür ein anderes System findet.

Hinzu kommt die Streichung des Bundeszuschusses von jetzt 4,2 Milliarden € für Mutterschaftsgeld und Familienleistungen, sodass am Ende dieser ganzen Maßnahmen schon jetzt klar ist, dass Angela Merkel sagt: 0,5 Prozentpunkte Erhöhung werden es auf jeden Fall sein, aber wahrscheinlich – das sagt sie nicht – wird es sogar viel mehr werden. Also: Die Versicherten zahlen die Zeche, ohne dass es wirklich eine strukturell nachhaltige Lösung gibt.

Die Steuerfinanzierung der Kinderversicherung, die jetzt geplant ist, ist viel zu gering angesetzt. Aber zweitens ist es auch ein Stück weit lächerlich, wenn man zuerst den Zuschuss von 4,2 Milliarden € streicht, um dann vollmundig 1,5 Milliarden € im ersten und 3 Milliarden € im

zweiten Schritt aus dem Bundeshaushalt für die Kinderversicherung wieder zur Verfügung zu stellen.

Der geplante Gesundheitsfonds ist so, wie er jetzt konzipiert ist, nichts anderes als eine extrem teure Geldsammelstelle. Es ist eine Monsterbehörde, die keinen Sinn und Zweck hat – zumindest nicht den Sinn und Zweck, die drängenden Probleme zu lösen. Es ist das klassische Beispiel eines massiven Bürokratieaufbaus.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es wundert mich schon, dass die Fraktionen, die sonst „Bürokratieabbau“ rufen, hier einen extrem teuren Bürokratieaufbau betreiben.

Der Fonds hätte einen Sinn haben können, wenn man ihn nicht auf die GKVen beschränkt, sondern die privaten Versicherungen einbezogen hätte. Das waren aber nicht der Wunsch und der Wille der Koalition, zumindest nicht beider Koalitionspartner am Tisch in Berlin.

So ist es eine Innercircle-Fondslösung, die, wie gesagt, nicht zu mehr Gerechtigkeit führt, sondern neue Probleme schafft. So wird es zu einer höheren Belastung für die GKVen kommen, die viele chronisch Kranke und viele Hochaltrige versichert haben. Die GKVen, die nur Wenige dieser Klientel haben, werden diese Belastung nicht haben.

Wir werden auch so etwas wie eine kleine Kopfpauschale haben, die Frauen stärker trifft, weil Frauen nun einmal durchschnittlich ein niedrigeres Entgelt haben als Männer und damit, relativ gesehen, stärker belastet werden.

Wir brauchen etwas anderes: Wir brauchen eine nachhaltige Gesundheitsreform, die die Finanzierungsgrundlage der GKVen langfristig und dauerhaft stärkt. Wir müssen die Finanzierungsbasis auf alle Einkunftsarten erweitern. Wir brauchen den Erhalt des Solidarcharakters und auch natürlich die Einbeziehung der Arbeitgeber. Wir brauchen den Solidarausgleich innerhalb der GKVen, müssen ihn weiterentwickeln und zielgenauer ausrichten. Wir brauchen weiterhin eine Steuerfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen und brauchen eine Beteiligung und einen Ausgleich mit den privaten Krankenversicherungen.

(Beifall von den GRÜNEN)

All das schafft diese Reform überhaupt nicht.

(Günter Garbrecht [SPD]: Überhaupt nicht?)

Ich weiß, inhaltlich sind sich die Fachpolitiker und Fachpolitikerinnen, zumindest wenn man nicht am Redepult im Plenum steht, einig, dass diese Re

form keine Reform ist, dass sie diesen Namen nicht verdient hat. Ich weiß auch, dass Sie vonseiten der SPD- und der CDU-Fraktion die Politik in Berlin hier heute werden verteidigen und versuchen müssen, dem Ganzen doch noch irgendetwas Positives abzugewinnen, auch wenn Sie es eigentlich nicht können.

(Beifall von den GRÜNEN)

Trotzdem: Versuchen Sie wenigstens, die Chance zu nutzen, die in der zeitlichen Verschiebung des Fonds liegt. Die Quadratur des Kreises ist nicht gelungen. Der Versuch, hier jetzt sozusagen eine Plattform zu schaffen, wo die Entscheidung: „Wird es eine Bürgerversicherung oder wird es eine Kopfpauschale?“, nicht getroffen worden ist, wo man diese Frage offen hält, damit nach der nächsten Bundestagswahl eine der beiden großen Fraktionen diese Frage alleine beantworten kann, ist keine Lösung im Sinne einer Gesundheitsreform für die Betroffenen.

Deswegen: Lassen Sie diese Pseudoreform! Seien Sie ehrlich und sagen Sie, Sie haben es nicht geschafft, auch nicht in einer Großen Koalition. Aber machen Sie nicht eine Reform, die alles noch schlechter macht als vorher.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Steffens. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU der Kollege Henke das Wort.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Das wird schwer jetzt! – Gegenruf von Rudolf Henke [CDU], auf dem Weg zum Rednerpult: Jeder Weg ist steinig und schwer! – Allgemeine Heiterkeit)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die gesundheitliche Versorgung in Deutschland ist exzellent. Jedenfalls gilt das im internationalen Vergleich mit Industrieländern wie den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Großbritannien. Das zeigen die Ergebnisse einer vom Commonwealth Fund schon seit 1999 durchgeführten Erhebung zur Qualität der Versorgung, an der sich im vorigen Jahr erstmals auch die Bundesrepublik beteiligt hat.

Deutschland hat im internationalen Vergleich die kürzesten Wartezeiten. Laborbefunde sind verlässlicher und liegen schneller vor. Patienten haben mehr Möglichkeiten bei der Arztwahl, bekommen im Krankenhaus seltener eine Infektion.

Wer chronisch krank ist, wird häufiger und regelmäßiger vorsorglich untersucht.

Schwachstellen zeigt das deutsche Versorgungssystem bei der Patienteninformation und bei der Koordination zwischen den Leistungsebenen.

Selbst außerhalb der üblichen Sprech- und Öffnungszeiten wie in der Nacht, am Wochenende oder während der Ferienzeit ist die medizinische Hilfe in Deutschland sehr gut organisiert. Nur ein Viertel der deutschen Befragten berichtete, dass es schwierig war, einen Arzt außerhalb der üblichen Zeiten zu erreichen. In Neuseeland waren das 28 %, in Großbritannien 38 %, in Kanada 53 %, in Australien 59 % und in den USA sogar 61 %.

Dabei liegen die Ausgaben im Gesundheitssektor pro Kopf der Bevölkerung in den USA bei 5.635 Dollar, in Deutschland dagegen nur bei 2.996 Dollar.

Trotzdem ist in keinem der beteiligten Länder die subjektive Einschätzung der Qualität des Gesundheitssystems so schlecht wie in Deutschland. Dem Satz: „Alles in allem funktioniert das System nicht schlecht, und es sind nur einige Kleinigkeiten zu ändern, dann würde es noch besser funktionieren“, stimmen in Deutschland gerade einmal 16 % der befragten Patienten zu. In jedem anderen Land liegt diese Rate mindestens fünf Punkte höher, in Großbritannien sogar bei 30 %. Dagegen gibt es kein anderes Land, in dem so viele Menschen, nämlich 31 %, den Satz unterschreiben: Bei unserem Gesundheitssystem ist so viel verkehrt, dass es komplett reformiert werden muss.

Wir fahren Mercedes, und das zum halben Preis wie in den USA, und trotzdem haben wir das Gefühl, als säßen wir in einem reparaturbedürftigen Golf.

(Günter Garbrecht [SPD]: Sehr gut!)

Ich bin sicher, dass das permanente Schlechtreden der Versorgungsqualität, das zu Zeiten vergangener Bundesregierungen in Berlin zum Regelfall geworden war, indem man praktisch die gesamte Versorgung als Unter-, Über- oder Fehlversorgung abqualifiziert hat, erheblich zu dieser schlechten Stimmung beigetragen hat. Begonnen, Frau Steffens, hat dieses Schlechtreden übrigens unter der grünen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer.

Es ist keineswegs so, dass ich die vorhandenen Mängel, Schwächen und Entwicklungsnotwendigkeiten kleinreden will, wenn ich sage: Insgesamt können alle, die für die Entwicklung und Gestal

tung des Gesundheitswesens Verantwortung tragen, stolz darauf sein, dass es gelungen ist, exzellente Qualität in praktisch flächendeckender Nähe zu den Patienten zur Verfügung zu stellen. Dennoch steht im Vordergrund der öffentlichen Bewertung immer und immer wieder die vermeintliche Über-, Unter- und Fehlversorgung, sodass die Deutschen beim Gedanken an das Gesundheitswesen selbst dann schlechte Laune bekommen, wenn die in Anspruch genommenen Leistungen exzellent waren. Und wenn wir einmal schlechte Laune haben – das weiß jeder –, dann können wir uns über nichts mehr richtig freuen und sind auch mit nichts mehr zufrieden. Also wünschen wir uns dann die große Reform, die alles anders und natürlich viel, viel besser macht.

Lässt man vor diesem Hintergrund das Eckpunktepapier einer Gesundheitsreform 2006 auf sich wirken, auf das sich die Spitzen der Großen Koalition in Berlin nach zähem Ringen verständigt haben, dann erkennt man, dass dieses Papier viele Aussagen enthält, die gegenüber früheren Positionierungen einen großen Fortschritt darstellen.

Immerhin wird klar und eindeutig anerkannt, dass aufgrund der demografischen Entwicklung ein zusätzlicher Finanzierungsbedarf erforderlich sein wird. Immerhin wird die Innovationskraft und ökonomische Bedeutung des Gesundheitswesens für den Standort anerkannt. Statt die Qualität in Grund und Boden zu reden, wird der Gesundheitsversorgung nun eine hohe Qualität im internationalen Vergleich attestiert. Anders als noch unter den beiden Vorgängerregierungen und insbesondere unter der grünen Ministerin Andrea Fischer fällt die sicherlich vorhandene Kritik an der Qualität der Versorgung absolut maßvoll aus.

Zur Optimierung der Versorgung und besseren Zusammenarbeit zwischen den Sektoren und den verschiedenen Arbeitsbereichen werden etliche Änderungen angeregt, denen wir in weiten Teilen zustimmen können. Es ist richtig, die sektoralen Budgets zu überwinden, damit das Geld der Leistung folgen kann. Es ist richtig, wenn es möglich wird, in den Krankenhäusern konsequenter als bisher hoch spezialisierte Leistungen auch ambulant erbringen zu können. Es ist richtig, die Regelungen zur Qualitätssicherung zu entbürokratisieren und auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es ist richtig, die von Budgets und floatenden Punktwerten geprägte Honorarsystematik der Vertragsärzte durch eine Euro-Gebührenordnung abzulösen.

Es ist richtig, das Morbiditätsrisiko wieder auf die Krankenkassen zu übertragen. Es ist richtig, ein verpflichtendes Primärarztmodell abzulehnen. Es

ist richtig, das Prüfverfahren zu straffen und auf höchstens zwei Jahre nach dem Verordnungsquartal zu begrenzen. Es ist richtig, die Transparenz über Inhalte von Integrationsverträgen zu verbessern und dafür zu sorgen, dass die Kassen plausibel darlegen müssen, warum sie Mittel einbehalten haben. Es ist richtig, die Prävention zur eigenständigen Säule auszubauen. Es ist richtig, die gesetzlichen Vorgaben zur Anerkennung von Praxisbesonderheiten zu vereinfachen. Es ist richtig, eine Rückgabe nicht verbrauchter Arzneimittel in Gemeinschaftseinrichtungen zu ermöglichen.

Es ist richtig, die Vergütung für die Palliativversorgung sterbenskranker Patienten zu verbessern und die Abrechnung dafür unbürokratischer zu gestalten. Es ist richtig, den Medizinischen Dienst nicht zur Einzelfallsteuerung einzusetzen. Es ist richtig, bei selbstverschuldeter Behandlungsbedürftigkeit zum Beispiel nach Schönheitsoperationen, Piercings und Tätowierungen die Eigenverantwortung zu stärken. Und es ist richtig, Menschen, die gänzlich aus jedem Versicherungsschutz ausgeschieden sind, einen Rückweg zu ermöglichen, selbst wenn es der Basistarif in der privaten Krankenversicherung ist.

Von all diesen Aspekten spricht der grüne Antrag, den wir jetzt diskutieren, überhaupt nicht.

(Beifall von der SPD)

Offenbar besteht dort überhaupt kein Interesse an einer fairen Darstellung. Das Projekt der Großen Koalition wird ohne weitere Differenzierung von Vornherein verurteilt und abgekanzelt. Das ist schlecht gemacht, Frau Steffens. Das ist nicht in Ordnung. Das ist keine faire Darstellung des Prozesses, der in Berlin abläuft.

(Beifall von der SPD)

Allerdings haben auch wir als CDU-Landtagsfraktion zu einigen wichtigen Punkten, ja sogar zu einigen sehr zentralen Punkten vor allen Dingen bei der Umsetzung des Eckpunktepapiers in einem sogenannten ersten Arbeitsentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit und in einem zwar noch unvollständigen, aber inzwischen auch bundesweit diskutierten zweiten Arbeitsentwurf etliche kritische Anmerkungen. Ich konzentriere mich auf die vier wichtigsten.

Erstens. Die Regelungen, die sich derzeit für den geplanten Gesundheitsfonds abzeichnen, vermögen uns noch keineswegs zu überzeugen. So ist im ersten Arbeitsentwurf vorgesehen, dass der Gesundheitsfonds zum 1. Juli 2008 eingerichtet wird und hierzu die bestehenden Strukturen beim Bundesversicherungsamt genutzt werden. Der

Beitragseinzug soll danach spätestens bis zum 31. Dezember 2010 auf regional organisierte Einzugsstellen in der Trägerschaft von Kassen auf Landesebene übertragen werden. Hier stellt sich die Frage, ob damit gemeint ist, dass der Beitragseinzug zunächst auf das Bundesversicherungsamt übergeht, das heißt aus dem Einfluss der Krankenkassen entfernt wird, um dann zweieinhalb Jahre später wieder in die Trägerschaft von Kassen auf Landesebene übertragen zu werden.

Uns erscheinen die Regelungen zum Gesundheitsfonds derzeit noch als bürokratieproduzierende Ungereimtheit. Wir plädieren dafür, die durch die Verschiebung auf den 1. April 2007 gewonnene Zeit für einen intensiven Dialog mit den Krankenkassen zu nutzen, wie sich entbehrliche Bürokratie bei der Gestaltung des Gesundheitsfonds vermeiden lässt. Dazu gehören auch die Fragen der Zielgenauigkeit, die mit der EinProzent-Begrenzung zusammenhängen.

Zweitens. Wir alle wissen, dass die ausschließliche Finanzierung der Vorsorge für gesundheitliche Leistungen durch Beiträge auf Löhne, Gehälter und Lohnersatzeinkommen aufgrund des demografischen Wandels und des damit einhergehenden stark gestiegenen Anteils berenteter Versicherter, der immer noch viel zu hohen Arbeitslosigkeit und des mangelhaften Wirtschaftswachstums an ihre Grenzen gestoßen ist. Angesichts des Rückgangs sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in Relation zur Gesamtzahl Versicherter muss das Einnahmeproblem gelöst werden.

Hier erscheinen die Beschlüsse aus Berlin noch inkonsistent, weil zunächst die Steuerzuschüsse des Bundes aus der Tabaksteuer abgeschmolzen werden und anschließend eine Teilfinanzierung der Kindermitversicherung aus Steuermitteln neu eingeführt wird, deren Höhe mit 3 Milliarden € aber in keinem rechten Verhältnis zu den tatsächlichen Kosten von vielleicht 14 Milliarden € – manche sprechen von bis zu 16 Milliarden € – steht. Das Ziel der gesicherten Nachhaltigkeit der Finanzmittel ist mit dem vorliegenden Entwurf also nicht erreicht.