Protocol of the Session on April 5, 2006

Wenn ich mir alleine die Zahlen aus meinem eher ländlichen Wahlkreis Warendorf anschaue, dann stelle ich fest, dass sich dort eine rechnerische Ausbildungslücke von derzeit ca. zwei Drittel ergibt. Die Menschen in diesem Kreis, der eher ländlich, mittelständisch und durch Handwerksbetriebe geprägt ist, haben keine Chancen mehr.

Wir erleben momentan, dass die klassische Zuordnung, Abitur gleich Studium, Realschule gleich kaufmännischer Bereich, Hauptschule bildet für Handwerk und Industrie aus, schon lange nicht mehr gilt und in diesem Konkurrenzkampf um Ausbildungsplätze gerade Hauptschulen zu den Verlierern gehören.

Diese Situation wird von Schülerinnen und Schülern natürlich deutlich wahrgenommen. Das ist jedoch nicht nur ihre Lebensrealität, sondern oftmals schon die Lebensrealität ihrer Eltern. Diese Realität ist von Zukunftsangst und Perspektivlosigkeit geprägt.

Vor diesem Hintergrund werden die Geschehnisse nicht nur an der Rütlischule, sondern auch an anderen Schulen verständlicher, wenn auch nicht akzeptabler.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt an Schulen ist nicht nur ein Problem von Hauptschule mit einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund. Gewalt kommt in allen Schulen vor

und ist somit kein spezifisches Problem von Schulen oder einer Schulform. Sie ist ein Problem von mangelnden Lebensperspektiven, mangelnder Integration und daraus resultierender Frustration.

Die Frage, welche Chancen auf Anerkennung und Unterstützung unsere Kinder außerhalb ihrer Peergroup noch haben, kann schon lange nicht mehr beantwortet werden. Sie finden dort ihre Anerkennung und Unterstützung und suchen sich die Felder, auf denen sie scheinbar etwas darstellen. Die Diskussion um die Rütlischule muss vor diesem Hintergrund geführt werden. Sie darf nicht genutzt werden, eine rückwärtsgewandte Bildungspolitik zu begründen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Große Brömer hat sich vorhin ausführlich mit Ihrer Bildungspolitik beschäftigt. Von daher muss ich das nicht wiederholen.

Deshalb nun zu einem anderen Gesichtspunkt. Es ist verkürzt, die Vorgänge in Berlin nur als bildungspolitisches Problem zu betrachten. An dieser Stelle treten weitaus mehr Fragen von sozialer Integration, Arbeitsmarktpolitik und Gettoisierung auf; Frau Löhrmann hat das bereits hinreichend ausgeführt. Gerade deshalb müssen wir uns vergegenwärtigen, mit welcher Kahlschlagpolitik Sie daran gehen, genau die Strukturen zu zerschlagen, die wir benötigen, um dieses große gesellschaftliche Problem abzufedern.

Lassen Sie mich noch einmal die dringenden Fragen aufnehmen. Ich frage Sie im Namen der SPD-Fraktion: Wo ist die Initiative der Landesregierung, den Ausbildungsmarkt NRW weiter voranzutreiben?

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

In dieser dramatischen Situation, Herr Ministerpräsident, müssten Sie selbst gefordert sein. Warum streichen Sie zum Beispiel beim Programm „Weiterbildung geht zur Schule“? Wie wollen Sie die notwendigen Strukturen im Jugendbereich stabilisieren, wenn Sie dort die Mittel um 20,9 Millionen € kürzen?

(Werner Jostmeier [CDU]: Das ist schlicht- weg falsch!)

Sie bedrohen damit massiv die Strukturen der Jugendarbeit, die dringend benötigt wird, um die Kooperationsmodelle von Schule und Jugendhilfe aufrechtzuerhalten.

(Beifall von der SPD)

Warum kürzen Sie die Mittel für die Kindertagesstätten um 104 Millionen €, was letztendlich dazu führen wird, dass die Elternbeiträge steigen und viele Eltern, viele Familienhäuser es sich nicht mehr erlauben können, ihre Kinder in die Kitas zu schicken?

(Beifall von der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie täuschen in unserem Land vor, dass Ihnen die Belange unserer Kinder und Jugendlichen am Herzen liegen. Sie kaschieren damit aber nur Ihre Politik zulasten derjenigen, die gerade heute unsere Unterstützung brauchen. Sie kürzen bei den Kurzen. Sie zerschlagen wichtige soziale Strukturen. Herr Ministerpräsident, Sie haben das Jahr 2006 zum Jahr der Kinder erklärt. Ich frage Sie deshalb: Wann handeln Sie entsprechend? – Ich danke.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Trampe-Brinkmann. – Für die CDUFraktion spricht Herr Solf.

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Unser heutiges Bekenntnis zur Hauptschule ist kein Beitrag zur Diskussion über Schulformen.

(Sören Link [SPD]: Das ist ja schade!)

In diesen Tagen ist es vor allem anderen ein Beitrag zum Schutz der Würde von Menschen; denn das, was heute an Meinungen durch die Medienwelt rauscht, das, was an den Stammtischen der schulpolitischen Berufsschlaumeier verbreitet wird, ist geradezu menschenverachtend.

(Zuruf von Sören Link [SPD])

Es wird dort nicht viel feiner formuliert als: Ihr von der Hauptschule seid doch der letzte Rest. – Da dürfen wir doch nicht achselzuckend daneben stehen oder gar mitmachen!

(Beifall von CDU und FDP)

Die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler, die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, die Eltern – eben alle, die in den Hauptschulen und für die Hauptschulen arbeiten – sind eben nicht der letzte Rest. Sie bedürfen unserer Hilfe, ja, aber auch unserer Achtung, unserer ehrlichen Achtung.

Die wirkliche Bedeutung der Berliner Ereignisse liegt nicht in ihrer Relevanz für irgendwelche Schulformen. Es geht da um viel Wichtigeres. An der Rütli-Schule kann man wie unter einem Mik

roskop beobachten, was in den letzten Jahrzehnten in unserem Land schiefgelaufen ist.

(Zuruf von der SPD: Rütli-Schule ist doch Berlin!)

Es hat drei katastrophale Fehlentwicklungen gegeben, und an allen dreien tragen sowohl die politische Linke als auch die politische Rechte Schuld – und die verantwortungsscheue Mitte sowieso.

(Thomas Kutschaty [SPD]: Ist damit die CDU gemeint?)

Fehlentwicklung Nummer 1: Wir haben es hinbekommen, dass mittlerweile viele Kinder, die für die Grundschule angemeldet werden, schlicht nicht schulfähig sind. Sprachgestört, bewegungsgestört und oft genug auch kontaktgestört wird manches kleine Würmchen an den Schultoren abgegeben. Die linke Seite des Hauses ist daran mitschuldig, weil sie viel zu lange einer nicht erziehen wollenden Emanzipationspädagogik das Wort geredet hat.

(Beifall von der CDU)

Die rechte Seite des Hauses ist mitschuldig, weil sie viel zu lange dem vermeintlichen Allheilmittel Familie vertraut hat.

Die zweite Katastrophe betrifft die fast systematische Ausrottung von gegenseitiger Rücksichtnahme schon im Kindergartenalter. Hier hat die Linke, ungezügelt von der Rechten, Selbstverwirklichung vor Erziehung gesetzt. Die sich daraus ergebenden Probleme knallen wir seit Jahren den Schulen vor die Türen.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Wer hat das denn eingeführt?)

Schließlich haben wir bei der Integration der Migranten versagt. Die Rechte wollte lange, sträflich lange nicht anerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Und die Linke lebt – in Teilen bis heute – in dem Wahn, Integration sei ein ewig andauerndes internationales Kulturfest.

Diese drei unguten Entwicklungen, die wir gemeinsam zu vertreten haben, führen zurzeit zu Zerfallserscheinungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen. Ein solcher Lebensbereich ist die Schule. Hier sind Nischen von Verrohung, von Dummheit und von Verwahrlosung entstanden. Aber nicht nur hier – diese Nischen gibt es überall, selbst im Landtag und, wenn wir bei den Schulen bleiben, nicht nur an Hauptschulen. Viele von Ihnen können Gymnasien nennen, in denen die Rücksichtslosigkeit triumphiert, auch wenn der Ausländeranteil vielleicht niedrig ist.

Jetzt kommt das eigentlich Bittere: Statt dass wir uns die Dimension des Problems eingestehen, verfällt so mancher Meinungsführer einem typisch deutschen Systemfetischismus: Weg mit der Hauptschule, dann löst sich das Problem.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Das hat keiner gesagt!)

Viele haben das draußen gesagt. Mit Verlaub, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Das ist verantwortungsloser Blödsinn.

(Zuruf von Rüdiger Sagel [GRÜNE])

Die immer zahlreicher werdenden Nischen von Verrohung, Dummheit und Verwahrlosung in unserer Gesellschaft werden nicht verschwinden, wenn wir eine Schulform verschwinden lassen. Sie werden nur verschwinden, wenn wir sie überall, wo wir sie antreffen, aufräumen.

Dass das selbstverständlich auch im System Hauptschule geht, beweisen ungezählte Hauptschulen überall in Deutschland, überall in Nordrhein-Westfalen, auch erfolgreiche Hauptschulen in Berlin. Fragen Sie einmal bei der Hertie-Stiftung oder der Mercator-Stiftung! Es liegt nicht an der Schulform, sondern es liegt daran, wie wir mit ihr umgehen. Wenn wir sie stärken, wenn wir ihr gute Lehrerinnen und Lehrer, gute Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen geben, wenn wir zerstörerische Elemente bekämpfen, wenn wir auf eine Integration in der Nachbarschaft bauen, wenn wir tun, was immer wir können, dann ist Hauptschule auch erfolgreich.

Wir haben die 250 befristeten Sozialpädagogenstellen entfristet. Wir geben allein in diesem Schuljahr über 100 Hauptschulen den echten Ganztag und 500 weitere Lehrerstellen im Schuljahr 2006/2007 für unsere Qualitätsoffensive Hauptschule. Es gibt nur eine Lösung: Stärkt alle Schulen, aber ganz besonders die Hauptschulen! Die Hauptschulen und die Menschen, die in ihnen und für sie arbeiten, sind eben nicht der letzte Rest, aber sie haben es nicht leicht. Wir schulden ihnen jede Hilfe. Wer ihnen nicht hilft, macht sich schuldig. Bekennen Sie sich zur Hauptschule! – Ich danke Ihnen.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank, Herr Solf. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Frau Beer das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was sich jetzt in Berlin noch einmal eruptiv in die öffentliche Debatte ent