Protocol of the Session on December 14, 2005

Ich will Ihnen diese drei Punkte gerne nennen: Jahre-, ja jahrzehntelang waren in NordrheinWestfalen Begriffe wie Leistung, Erziehung und Disziplin tabu.

(Beifall von Manfred Kuhmichel [CDU])

Fast alles konnte abgewählt werden. Jede schlechte Zensur in den Kernfächern konnte durch geradezu abenteuerliche Kombinationen in den Nebenfächern ausgeglichen werden. Das konnte einfach nicht gut gehen, meine Damen und Herren.

(Beifall von CDU und FDP – Hannelore Kraft [SPD]: Ihr Abi liegt ja schon etwas zurück!)

Ein zweiter Punkt: Herr Rüttgers und ich hatten seinerzeit ein Gespräch mit Herrn Prof. Klemm. Herr Prof. Klemm – sicherlich kein CDU-Freund – stellte in diesem Gespräch fest: Sie können ein Lineal daran halten, wenn es darum geht, das Stundenvolumen in Relation zu setzen zu den erbrachten Leistungen, und zwar im nationalen und im internationalen Vergleich. – Wenn ich weiß, dass wir 800 Stunden weniger als andere Bundesländer haben – bereits in der Grundschule 500 Stunden –, dann darf ich mich über diese Ergebnisse nicht wundern.

(Sören Link [SPD]: Aber Sie regieren doch jetzt! – Weitere Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, der Landesrechnungshof – das wissen Sie auch – hat uns vor drei, vier Jahren einen Unterrichtsausfall von 10,6 % bei niedrigem Volumen bestätigt. Aktuell sprechen wir von fünf Millionen Stunden Unterrichtsausfall. Das ist eine verheerende Bilanz. Nur die Eltern, die es sich erlauben konnten, den Nachhilfeunterricht zu bezahlen, konnten das ausgleichen, andere nicht. Noch nie hingen die Bildungschancen in Nordrhein-Westfalen so vom Portemonnaie der Eltern ab wie zu Ihrer Regierungszeit.

(Beifall von CDU und FDP)

Als Sozialdemokrat müsste man sich dafür schämen.

(Hannelore Kraft [SPD]: Erzählen Sie doch nicht so einen Quatsch!)

Ich habe immer, auch vor der Wahl, einen dritten Grund genannt, der unser Thema trifft, nämlich das Übergangsverfahren von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen. Im Gegensatz zu den bei Timss und Pisa erfolgreichen Bundesländern konnte in Nordrhein-Westfalen jeder jede Schulform wählen – unabhängig vom Leistungsvermögen der Kinder. Ich möchte Ihnen einige geradezu groteske Beispiele aus der Praxis nennen, die mir Schulleiter genannt haben.

Ich hatte ein Gespräch mit einem Schulleiter einer Hauptschule in Marl. 19 Kinder hatten die Empfehlung, von der benachbarten Grundschule auf die Hauptschule zu wechseln. Eine Mutter kam und sagte: Aber ich habe doch das Recht, mein Kind auf einem Gymnasium anzumelden. – Mit Zensuren Vier, Vier minus und und und! Am Ende der Woche waren übrigens von den 19 Kindern zwölf am Gymnasium angemeldet; und von den zwölf waren elf nach zwei Jahren in der Hauptschule. Wissen Sie eigentlich, was Sie diesen Kindern angetan haben, meine Damen und Herren?

(Beifall von CDU und FDP)

Ein zweites Beispiel: In einer Großstadt im Ruhrgebiet gab es bei der Anmeldung an einem Gymnasium einen Überhang von 15 Kindern. Der Schulleiter durfte alles machen: Berücksichtigung der Geschwisterkinder, des Schulwegs und und und – nur nicht der erbrachten Leistungen. Es musste gelost werden.

Ausgelost wurden übrigens acht Kinder, die eine Empfehlung für die Hauptschule hatten, und nicht weitere acht Kinder, die eine Empfehlung für das Gymnasium hatten -mit zum Teil hervorragenden Zeugnissen. Es ist geradezu grotesk und unverantwortlich, was hier geschehen ist, meine Damen und Herren.

(Beifall von CDU und FDP)

Lassen Sie mich abschließend einige persönliche Erfahrungen zum Thema Übergangsverfahren ansprechen. Als Grundschulleiter und Lehrer an einer Grundschule habe ich grundsätzlich alle Eltern für intensive Beratungsgespräche zu Hause aufgesucht. Ich habe in diesen Gesprächen leider nicht selten erfahren müssen, dass Eltern trotz klarer Defizite bei den Kindern, aus welchen Gründen auch immer, eine andere Schulwahl getroffen haben. Die Leistungen der Kinder ließen dies eigentlich nicht zu. Ich habe leider auch zu oft erfahren müssen, dass viele dieser Kinder völ

lig überfordert Opfer des Prestigedenkens der Eltern geworden sind und dass durch zahllose negative Erlebnisse jede schulische Initiative der Kinder gelähmt wurde, meine Damen und Herren.

An der Hauptschule hatte ich dann die Kinder vor mir, die von anderen Schulen zurückgeschickt wurden, die völlig demotiviert waren und diesen Schulwechsel als Niederlage empfunden haben. Das ist übrigens auch eine massive Belastung für die Hauptschule. Gerade diese Negativerlebnisse wollen wir möglichst verhindern.

(Beifall von der CDU)

Meine Damen und Herren, ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Übergangsverfahren manche Fehlentwicklung verhindert. Vergessen Sie dabei bitte nicht: Wir wollen und werden die Durchlässigkeit ganz massiv verbessern – übrigens nach jedem Schuljahr, nicht wie bisher.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Nein!)

Meine Damen und Herren, wir achten den Elternwillen sehr. Er wird in den Beratungsgesprächen in der Grundschule auch weiterhin eine große Rolle spielen.

(Dr. Axel Horstmann [SPD]: Von wegen!)

Aber ich sage genauso: Dieser Elternwille darf nicht Ausschließlichkeitscharakter haben. Letztlich geht es um das Wohl des Kindes. Das muss unsere letzte Botschaft sein.

(Beifall von der CDU – Dr. Axel Horstmann [SPD]: Staat vor Privat!)

Herr Horstmann, wir haben eine Fülle von Mails bekommen. Ich darf eine zitieren, die gestern als eine von fast 100 Mails angekommen ist. Es heißt von einem Vater:

Bitte lassen Sie nicht zu, dass Ihr positiver Entwurf des neuen Schulgesetzes verwässert wird. Als Vater zweier schulpflichtiger Kinder finde ich jeden Buchstaben daran Gold wert. Sie können nicht ermessen, wie froh ich über das neue Gesetz bin. Endlich geht es in NRW in die richtige Richtung. Sie bringen unser Land nach vorne. Lassen Sie die grünen, roten und verbeamteten Schreihälse links liegen!

Meine Damen und Herren, herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall von CDU und FDP)

Danke schön, Herr Recker. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Frau Löhrmann.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Recker, wissen Sie, was mir aufgefallen ist? Es passt im Grunde gut zu Ihnen, dass Sie immer über die vergangenen 39 Jahre reden, denn Ihre Bildungsvorstellungen sind auch Vergangenheit.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Wir wollen über die Zukunft reden.

Frau Sommer, wenn es nicht so furchtbar wäre, was Sie hier seitens des Kabinetts vorgelegt haben, würden Sie mir Leid tun. Ich glaube nämlich: Sie wissen nicht, was Sie tun.

(Beifall von den GRÜNEN – Manfred Kuhmi- chel [CDU]: Unglaublich!)

Frau Sommer, ich möchte Sie an eines erinnern: Sie haben zu Beginn Ihrer Amtszeit den Eid nicht auf einen Koalitionsvertrag geleistet, auch wenn Sie den Koalitionsvertrag als Ihren Gesetzgeber bezeichnet haben; Sie haben den Eid auf die Landesverfassung geschworen. Sie haben darüber hinaus das Wohl des Kindes zu Ihrem Grundsatz erhoben. Mit der Vorlage dieses Eckpunktepapieres werden Sie beidem nicht gerecht. Für uns ist Ihre Schonzeit damit endgültig beendet.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Ich möchte über die Zukunft reden. Ich erinnere an die finnische Philosophie – Finnland hat sich umgestellt, und zwar auch aus wirtschaftlichen Gründen –: Wir sind ein kleines Land. Wir brauchen jeden. Hoffnungslose Fälle können wir uns nicht leisten.

Was hat das mit NRW zu tun? Wie Finnland haben auch wir keine nennenswerten Rohstoffe, sondern nur die Menschen. Auch unsere Ressourcen sind die Menschen mit ihren Potenzialen. Deshalb gilt das finnische Motto auch für NRW: Hoffnungslose Fälle können wir uns nicht leisten. – Ihr Schulgesetz aber schafft systematisch hoffnungslose Fälle, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD)

Sie schaffen Bildungsgettos. Sie verschärfen die soziale Selektion, und Sie spalten die Gesellschaft – zum Beispiel mit dem Wegfall der Grundschulbezirke.

Herr Recker, Herr Rüttgers, ich höre Sie noch: Wir wollen auf die Praktiker hören. – Alle Praktiker, die ich kenne, auch die der kommunalpolitischen Vereinigung der CDU, warnen vor dieser Entscheidung. Die haben Sie im Wahlkampf auch

nicht vertreten. Dafür sind Sie nämlich nicht gewählt worden.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

So weit ist es in Ihrer kurzen Regierungszeit schon gekommen, dass CDU-Oberbürgermeister mich anflehen und sagen: Liebe Frau Löhrmann, verhindern Sie diesen Quatsch!

(Beifall von GRÜNEN und SPD – Zurufe von der CDU)

Sie diktieren den Eltern, in welche Schulform ihre Kinder zu passen haben. Sie wollen im Zweifel, dass Lehrkräfte, die die achteinhalb oder neun Jahre alten Kinder nicht kennen und sie nur in einer Prüfungssituation erlebt haben, darüber entscheiden, ob sie das Zeug zum Abitur haben oder nicht. Und das nennen Sie „begabungsgerechte Schule“. Das ist eine Entmündigung der Eltern bei der Entscheidung über den Bildungsweg ihrer Kinder. Es ist skandalös, was Sie hier tun.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Alle Experten sind sich einig: Wir müssen die Durchlässigkeit erhöhen. Ihre Abkoppelung des Gymnasiums von allen anderen Schulformen bewirkt das genaue Gegenteil: Die Gräben zwischen den Schulformen werden tiefer, und Sie reißen die letzten Brücken auch noch ab.

Dabei hatten wir so ein intelligentes Modell der Schulzeitverkürzung, ein Modell, von dem alle Schülerinnen und Schüler in allen Schulformen profitieren: mit der Individualisierung der Lernzeit, mit der Individualisierung des Lernens. Ich bin entsetzt, dass Sie dieses Modell, das bei allen Verbänden unumstritten war, zurückführen. Darüber bin ich empört.