Protocol of the Session on November 9, 2005

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich heiße Sie herzlich willkommen zu unserer heutigen zwölften Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich sieben Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Sie darauf hinweisen, dass sich die Fraktionen auf folgende Änderungen der Tagesordnung für den heutigen 9. November 2005 gemäß § 19 Abs. 2 Geschäftsordnung verständigt haben.

Erstens. Als neuer Tagesordnungspunkt 7 wird der Antrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP Drucksache 14/610 mit der Überschrift „Für eine praktikable neue EU-Chemikalienpolitik – Interessen von Beschäftigten, Verbrauchern, Umwelt und Unternehmern wahren“ beraten. Es wurde eine Redezeit nach Block I, also jeweils fünf Minuten pro Fraktion und Landesregierung, sowie eine direkte Abstimmung über diesen Antrag vereinbart.

Zweitens. Die bisherigen Tagesordnungspunkte 7 bis 15 werden entsprechend der Tagesordnung zu 8 bis 16.

Drittens. Außerdem hat die antragstellende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen darum gebeten, entgegen dem Ausdruck in der Tagesordnung den neuen Tagesordnungspunkt 9 „Klimaschutz“ heute nicht zu debattieren, sondern nach § 79 Abs. 2 Buchstabe b Geschäftsordnung an die Ausschüsse zu überweisen und die Debatte anschließend nach Vorlage der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses zu führen.

Gibt es dazu Wortmeldungen? – Das ist nicht der Fall. Ich sehe auch keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.

Wir treten nunmehr in die Beratung der heutigen Tagesordnung ein.

Ich rufe auf:

1 Aktuelle Stunde

Thema: NRW im PISA-Bundesländervergleich weiter abgerutscht – Neustart in der Bildungspolitik unverzichtbar

Antrag der Fraktion der CDU gemäß § 90 Abs. 2 GeschO

Die Fraktion der CDU hat mit Schreiben vom 7. November 2005 zu dem genannten aktuellen Thema der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden Fraktion Herrn Abgeordneten Recker das Wort. Bitte schön.

Guten Morgen, meine Damen und Herren! Guten Morgen, Präsidium! „Ein Jahr Lernrückstand in Nordrhein-Westfalen“, „Sitzenbleiber NRW“, „Hauptschule bleibt Sorgenkind in Nordrhein-Westfalen“, „Bildungschancen sind eine Geldfrage“, so oder so ähnlich lauten die Überschriften in den Tageszeitungen über die verheerenden Ergebnisse für unser Land im Hinblick auf Pisa. Besonders schockiert mich, dass Sie von Rot-Grün trotz großer Ankündigungen seit den letzten Pisa-Ergebnissen nichts, aber auch gar nichts dazugelernt haben. Denn wie ist es sonst möglich, dass wieder andere Bundesländer an uns vorbeigezogen sind. Andere Länder haben gezeigt, man kann sich auch innerhalb von nur drei Jahren verbessern.

Sie von Rot-Grün haben viel geredet, viel versprochen, aber leider wenig umgesetzt. Ein Beispiel: Erinnern Sie sich noch, Frau Schäfer, Frau Löhrmann oder Herr Moron, Sie haben den Menschen im Wahlkampf erzählt, dass durch Pflichtstundenerhöhung und Einstellung von 4.100 Lehrpersonen ein guter Beitrag zur Beseitigung des Unterrichtsausfalls stattgefunden hat?

Was sagt die aktuelle Stichprobe im Jahr 2005 aus? – Die Besetzungssituation an den Schulen hat sich im Vergleich zur Erhebung im Jahr 2003 sogar noch verschlechtert. Anspruch und Wirklichkeit sind bei Ihnen zwei Welten.

Erlauben Sie mir zu der Bankrotterklärung zwei Vorbemerkungen:

Die Schuld für dieses katastrophale Ergebnis liegt gewiss nicht bei den in den Schulen Tätigen. Denn unsere jungen Menschen sind mindestens genauso begabt und die Kollegien genauso engagiert wie in anderen Bundesländern. Es muss also Rahmenbedingungen geben, die Politik gewährt oder eben nicht gewährt hat.

Ich will nur zwei Hauptgründe nennen: Begriffe wie Leistung, Disziplin, Erziehung waren jahrelang tabu. Erst nach dem Bekanntwerden erster Vergleiche – national und international – waren Sie bereit, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen. Wir alle wissen, die Rahmenbedingungen in unserem Land im Hinblick auf Unterrichtsvolumen waren wesentlich schlechter.

5 Millionen Stunden Unterrichtsausfall sind für Schülerinnen und Schüler nicht verkraftbar,

(Beifall von CDU und FDP)

besonders für die nicht, deren Eltern diese Defizite nicht ausgleichen können.

(Zuruf von der SPD: Falsch!)

Ein zweiter Hinweis: Bei diesem Vergleich geht es nicht um irgendeinen Tabellenplatz, um irgendein Ranking als Selbstzweck. Traurige Tatsache ist doch, meine Damen und Herren, dass aufgrund dieser Situation – ein Jahr Lernrückstand zu anderen Ländern – unsere jungen Menschen schlicht und einfach weniger Chancen haben im Wettbewerb mit jungen Menschen aus anderen Bundesländern. Mit Ihrer Bildungspolitik haben Sie in unverantwortlicher Weise die Zukunftschancen junger Menschen in diesem Lande wesentlich gemindert, meine Damen und Herren.

(Beifall von CDU und FDP)

Besonders dramatisch ist die Tatsache, dass nach 39 Jahren SPD-Verantwortung in der Bildungspolitik in keinem anderen Land die Bildungschancen so von der sozialen Herkunft abhängen wie in Nordrhein-Westfalen. Als Sozialdemokrat würde ich mich dafür schämen, meine Damen und Herren.

(Beifall von CDU und FDP)

Wir als Fraktion und ich haben uns immer als Ziel gesetzt, dass es nicht vom Portemonnaie der Eltern abhängen darf, ob junge Menschen eine Chance haben.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Deswegen füh- ren Sie jetzt Studiengebühren ein?)

Was sagt nun Pisa konkret? – Pisa bestätigt unsere Bildungspolitik in fast allen Bereichen. Ich will Ihnen das gerne an einigen Beispielen erläutern: Wir haben mehr Unterricht und einen Abbau des massiven Unterrichtsausfalls gefordert und auch umgesetzt, weil das gerade Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten nicht alleine ausgleichen können, meine Damen und Herren. 1.000 Lehrer und 20 Millionen € für das Programm „Geld statt Stellen“ bedeuten ein zusätzliches Unterrichtsvolumen von jetzt schon ca. 2 Millionen Stunden im Jahr. Wir werden diesen Weg weitergehen.

Unser zweites wichtiges Ziel war und ist es, mehr Qualität in Schulen zu bringen. Ich nehme das Beispiel OGS: Wir haben immer gesagt, dass bei dem Projekt von Rot-Grün zwar das eine Ziel – mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf – überwiegend erreicht, aber absolut keine Antwort auf Pisa ist. Daher unsere Antwort: Wir haben die Lehrerkapazität von 10 auf 20 % ohne die Möglichkeit der Kapitalisierung verdoppelt.

Die Lösung des dritten Problems der mangelnden Sprachfähigkeit von immer mehr Kindern, übrigens nicht nur Kindern mit Migrationshintergrund, bringen wir auf den Weg, was wir durch Pisa mehr als eindeutig bestätigt sehen,. Nicht erst kurz vor der Einschulung, sondern bereits nach dem vierten Lebensjahr wollen wir die Sprachfähigkeit überprüfen und bei erkennbaren Defiziten verbindliche Maßnahmen ergreifen. Wer bei der Einschulung nicht der deutschen Sprache folgen kann, hat absolut keine Chance. Für diese Forderung – ich sage das vor allen Dingen für diejenigen, die neu im Parlament sind – wurden wir vor einigen Jahren in diesem Raum noch als ausländerfeindlich bezeichnet. Nein, meine Damen und Herren, das frühzeitige Erlernen der deutschen Sprache ist die Grundvoraussetzung für eine schulische und letztlich auch berufliche Perspektive. Daran müssen wir massiv arbeiten.

(Beifall von CDU und FDP)

In einem weiteren Punkt wird unsere Politik durch die Pisa-Ergebnisse gestützt: Wo sind denn die durchs Sieb Gefallenen? – Doch überwiegend in der Hauptschule. Wenn die Hauptschule laut Pisa das Sorgenkind Nr. 1 in Nordrhein-Westfalen ist, so haben Sie von Rot-Grün erheblichen Anteil daran. Wer fast zehn Jahre, wie Sie von RotGrün, dieser am meisten belasteten Schule verweigert hat, eine Ganztagsbeschulung durchzuführen, der hat diese Situation sehenden Auges heraufbeschworen, meine Damen und Herren. Gerade diese Schule hat sonst keine Chance im Wettbewerb mit anderen Schulen. Insbesondere

von der Schülerklientel her hätte man diesen jungen Menschen unter dem Aspekt „mehr Zeit für Kinder“ eine Chance geben müssen.

Die Regierung, an der Spitze Frau Ministerin Sommer, hat hier endlich hervorragend gehandelt. Mit einem 30%-igen Zuschlag, davon 20 % für Lehrer, und 10 % für soziale Betreuung, erhält diese Schule endlich die Rahmenbedingungen, die sie immer schon verdient hat, meine Damen und Herren. Darauf sind wir stolz.

(Beifall von der CDU)

Ein letzter Punkt, der beispielhaft verdeutlicht, dass unsere Politik durch Pisa mehr als bestätigt wurde: Pisa zeigt auf, dass vielfach Kinder in ihrem Zuhause, in ihrer Familie nicht die notwendigen Grundlagen mit auf den Weg bekommen, um darauf in der Schule aufbauen zu können. Viele Eltern sind schlicht und einfach überfordert. Nur hilft hier kein Lamentieren, sondern Handeln, indem wir Angebote zur Unterstützung auf den Weg bringen. Wir wollen Projekte, Vereine, Schulen und Beratungsstellen in einer Kommune bei der Kinderbetreuung vernetzen. Mit den von uns geplanten Familienzentren setzen wir ein vehement wichtiges Signal.

Meine Damen und Herren, ich könnte das an einer Fülle von weiteren Beispielen belegen, aber ich sage auch: Wir werden es nicht alleine schaffen. Wir müssen und werden die Schulen mitnehmen, sie in die Freiheit entlassen, um dann eigenverantwortlich, kreativ und engagiert mit uns das große Ziel anzugehen, dass Schüler spüren: In der Schule geht es nicht um die Erfüllung irgendeines Lehrplanes, sondern darum, das Leben zu lernen, um selbstständig im Leben fertig zu werden, eigenverantwortlich zu handeln. Anstelle von Herkunft, sollen Leistungsfähigkeit und Anstrengungsbereitschaft der Schüler den Lernerfolg in Nordrhein-Westfalen bestimmen.

Letztlich ist es gerade nach Pisa eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, optimale Lernvoraussetzungen zu schaffen, um damit bessere Lebensperspektiven für die junge Generation zu erreichen. Nur durch eine bessere Bildungspolitik verhindern wir die Perspektivlosigkeit junger Menschen und damit eventuell Flächenbrände, die dann vielleicht nicht mehr zu löschen sind, meine Damen und Herren. Jeder Euro sinnvoll in Bildungspolitik investiert, bringt hochprozentige Zinsen. Jede Reparatur ist wesentlich teurer. Das ist auch die Lehre aus Pisa, meine Damen und Herren.

(Beifall von CDU und FDP)

Danke schön, Herr Recker. – Für die SPD-Fraktion hat nun Frau Schäfer das Wort. Bitte schön.

(Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers: Frau Schäfer ist schon in Schwarz-Rot! – Ute Schäfer [SPD]: Rot-schwarz!)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es stimmt: Wir haben in Nordrhein-Westfalen immer noch Probleme, was die Leistungen in unserem Schulsystem angeht.

(Zuruf von der FDP: Das ist wahr!)

Die Pisa-Studie legt offen, wo wir noch weiter handeln müssen. Die Länderstudie macht deutlich, wie Nordrhein-Westfalen im Vergleich zu anderen Bundesländern aufgestellt ist. Niemand hat diese Ergebnisse in der Vergangenheit schöngeredet.

(Zurufe von CDU und FDP: Nein! Niemand!)

Niemand wird versuchen, es jetzt zu tun.

(Zuruf von der CDU: Heißen Sie Niemand?)

Ich glaube, dass im Plenum über unsere Ziele Klarheit und Übereinstimmung bestehen: Wir müssen die Leistungen in unserem Schulsystem in Nordrhein-Westfalen insgesamt verbessern. Wir müssen für mehr soziale Gerechtigkeit und Chancengerechtigkeit sorgen. Wir müssen bei der Förderung von Kindern aus Zuwandererfamilien besser werden. Wir müssen noch mehr Standards setzen und deren Einhaltung kontrollieren, um mehr Offenheit und Vergleichbarkeit zu erreichen. Die Wege dahin haben wir bereits angelegt.