Protocol of the Session on November 10, 2020

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie namens des Präsidiums begrüßen und eröffne die 89. Sitzung im 34. Tagungsabschnitt des Landtages der 18. Wahlperiode.

Tagesordnungspunkt 1: Mitteilungen der Präsidentin

Ebenfalls herzlich begrüßen darf ich in der Loge Herrn Michael Fürst, den Vorsitzenden des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden Niedersachsens. Herzlich willkommen, Herr Fürst!

(Beifall)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir wollen heute der Opfer der Novemberpogrome vor 82 Jahren gedenken.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 steckten Nationalsozialisten überall in Deutschland Synagogen in Brand, plünderten und zerstörten Geschäfte jüdischer Bürger, verwüsteten ihre Wohnungen. Zehntausende Männer und Frauen wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Viele überlebten das Pogrom nicht, und nicht wenige nahmen sich das Leben. Mehr als 400 Juden fanden allein in dieser Novembernacht den Tod. Die vielen Demütigungen und Misshandlungen jüdischer Männer, Frauen und Kinder bleiben ungezählt. Die Novemberpogrome waren der Anfang des Holocaust, der geplanten Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in ganz Europa.

Die Gewaltexzesse der SA und SS geschahen nicht im Verborgenen, sie waren für alle sichtbar. Jüdische Bürger wurden in aller Öffentlichkeit, am helllichten Tage, auf offener Straße gedemütigt, geschlagen, verschleppt, ermordet. Viele aus der Bevölkerung verfolgten die Pogrome als Schaulustige. So gut wie niemand kam den Bedrängten zu Hilfe, griff mutig ein. Nicht wenige machten freudig mit. Sie schlossen sich dem brutalen Treiben der SA- und SS-Schlägertrupps an, beteiligten sich beim Plündern und Schikanieren. Die Gewalt breitete sich von den Städten bis ins Hinterland und in kleinste Orte aus - auch im Bereich des heutigen Niedersachsen.

In Peine steckte eine Gruppe SS-Männer die Synagoge in Brand und erschoss den 17-jährigen

Hans Marburger, dessen sterbliche Überreste der Leiter der Peiner Feuerwehr in den Mittellandkanal warf.

In Hemmendorf wurde der 54-jährige Karl Zeckendorf festgenommen und in das KZ Buchenwald deportiert, wo er wenige Tage später starb.

An zahlreichen Orten in Niedersachsen wurden Kinder und Jugendliche während der Novemberpogrome vom Unterricht befreit, um verhaftete Juden zu schikanieren, zu erniedrigen.

In Wunstorf forderten SA-Männer Schulkinder auf, jüdische Bürgerinnen und Bürger, die abgeführt wurden, anzuspucken.

In Hehlen plünderten die Einwohner das einzige Geschäft in jüdischem Besitz. Die SS-Leute schafften die männlichen Mitglieder der jüdischen Familie Buchheim - den Vater und seine zwei Söhne - auf einem offenen Lastwagen nach Holzminden; von dort wurden sie in das KZ-Buchenwald transportiert.

Erniedrigungen, Misshandlungen, Raub und Mord - diese Beispiele sind nur wenige Ausschnitte aus all dem, was vor 82 Jahren in Niedersachsen geschah.

Damit die Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten, hat die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten gemeinsam mit Geschichtsstudierenden der Leibniz Universität Hannover eine Webseite erarbeitet, die die Ereignisse der Pogromnacht in fast 80 Orten dokumentiert. Eine wertvolle Arbeit, für die wir dankbar sind!

Die Gewaltexzesse zeigen, wohin Antisemitismus - antisemitisches Verschwörungsdenken - führen

kann. Besteht die Gefahr, dass sich solche Geschehnisse heute wiederholen können? Würden sich heute genügend Mutige finden, die sich schützend vor ihre jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen? Wenn wir uns erinnern, müssen wir uns diese unbequemen Fragen stellen. Wie sagte Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der Ermittlungen gegen eine große Zahl von einstigen NSFunktionären in Gang setzte? - „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“

Wer die Gegenwart betrachtet, sieht seine Aussage bitter bestätigt. Seit einigen Jahren schlagen antisemitische Ressentiments zunehmend offen in Hass um. Hass wird immer wieder zu Gewalt. Wir erinnern den Anschlag auf die Synagoge in Halle vor einem Jahr. Wir wissen um die 80 Ermittlungs

verfahren zu antisemitischen Vorfällen in Niedersachsen allein im ersten Halbjahr dieses Jahres.

Und mit Sorge nehmen wir wahr, dass in Zeiten von Krise und Unsicherheiten antisemitische Verschwörungserzählungen einen noch größeren Zulauf finden. Antisemiten fabulieren über eine jüdische Weltverschwörung, Teilnehmer bei den sogenannten Hygiene-Demos relativieren mit dem Tragen gelber Sterne den Holocaust. „Krisenzeiten waren schon immer Hochzeiten des Judenhasses“, sagte kürzlich die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch. Sie hat recht.

Gerade jetzt gilt es daher, sich der Gefahr von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus wieder bewusst zu werden. Und es gilt mehr als zuvor, jüdisches Leben in unserem Land zu schützen, indem wir entschieden gegen Antisemitismus in all seinen Formen vorgehen, indem wir uns Hass und Hetze entgegenstellen, indem wir nicht schweigen, nicht wegsehen, wenn Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihres Andersseins ausgegrenzt und bedroht werden.

Rosa Deutsch, Überlebende des Holocausts, die u. a. im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück interniert war, gab den Nachgeborenen eine Botschaft mit auf den Weg:

„Unsere Pflicht ist es, die Erinnerung wach zu halten. Die junge Generation soll wissen: Es waren Menschen, Säuglinge und Kinder, Erwachsene und Alte, die hier lebten und unsere Nachbarn waren und ermordet wurden. Die Jungen sollen die Wahrheit wissen, sollten darüber lernen und lesen, und immer gegen Hass, Diskriminierung und falsche Theorien kämpfen.“

Tragen wir die Botschaft von Rosa Deutsch weiter, zeigen wir Zivilcourage! Jeder einzelne, jede einzelne.

Ich möchte Sie jetzt bitten, sich zum Gedenken an die Opfer zu einer Schweigeminute zu erheben.

(Die im Plenarsaal Anwesenden er- heben sich von den Plätzen)

Vielen Dank, dass Sie sich erhoben haben.

Wir fahren jetzt fort.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hauses fest.

Nach den Erfahrungen in unserer letzten Sitzung möchte ich auch heute wieder einige Hinweise zum Infektionsschutz geben.

Wie Sie wissen, sind Sie gehalten, einen MundNase-Schutz zu tragen, wenn Sie sich im Plenarsaal bewegen. Das gilt auch für den Weg zum Redepult und zurück. An Ihrem Platz und am Redepult selbst dürfen Sie den Mund-Nase-Schutz abnehmen.

Eine Verletzung der Maskenpflicht kann eine Ordnungsverletzung nach § 88 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung darstellen, die - wenn es sich um eine gröbliche Verletzung der Ordnung handelt - nach § 88 Abs. 2 Satz 1 zum sofortigen Ausschluss aus der Sitzung führen kann. Von einer gröblichen Verletzung wird ausgegangen, wenn der ausdrücklichen Aufforderung, einen MundNase-Schutz zu tragen, nicht nachgekommen wird.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich zugleich daran erinnern, dass es in diesem Haus einen langjährigen Konsens darüber gibt, sich bei Äußerlichkeiten wie Accessoires und Kleidung mit politischen Äußerungen zurückzuhalten. Ich bitte Sie, dies auch bei der Auswahl Ihres Mund-Nase-Schutzes zu berücksichtigen, und darf Ihnen in diesem Zusammenhang noch einmal besonders empfehlen, den „Landtags-Mund-Nase-Schutz“ zu verwenden.

Dann machen Sie alles richtig.

Hinsichtlich der Sitzordnung weise ich darauf hin, dass der Ältestenrat Wünschen entsprochen hat, die von fraktionslosen Mitgliedern des Hauses geäußert wurden. Es wird daher zum Tagungsabschnitt im Dezember noch einmal eine Veränderung geben.

Die Einladung für diesen Tagungsabschnitt sowie die Tagesordnung einschließlich des Nachtrages und der Informationen zu den von den Fraktionen umverteilten Redezeiten liegen Ihnen vor. Ich stelle das Einverständnis des Hauses mit diesen geänderten Redezeiten fest. Die heutige Sitzung soll demnach gegen 19:27 Uhr enden.

Die mir zugegangenen Entschuldigungen teilt Ihnen nunmehr die Schriftführerin Frau Eilers mit. Bitte, Frau Kollegin!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für heute haben sich entschuldigt: von der Fraktion der SPD Frau Doris Schröder-Köpf, von der Fraktion der CDU Frau Laura Hopmann sowie die fraktionslosen Mitglieder des Hauses Herr Christopher Emden bis zur Mittagspause und Herr Stefan Henze von ca. 14 bis 17 Uhr.

Vielen Dank, Frau Kollegin.

Ich rufe jetzt auf den

Tagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde

Wie aus der Tagesordnung zu ersehen ist, hat der Ältestenrat die Aktuelle Stunde in der Weise aufgeteilt, dass heute die Anträge der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und morgen dann die Anträge der beiden anderen Fraktionen behandelt werden sollen.

Die in unserer Geschäftsordnung für den Ablauf der Aktuellen Stunde geregelten Bestimmungen setze ich als bekannt voraus.

Ich erinnere daran, dass das Rederecht in der Aktuellen Stunde nur den Fraktionen zusteht.

Ich rufe auf

a) Neonazis und Corona-Leugnern entschieden entgegentreten - Abstand halten zu Extremisten! - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 18/7864

Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun Herr Kollege Kurku. Bitte, Herr Kollege!

(Beifall bei der SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle gemeinsam befinden uns derzeit in einer Phase, die sich so niemand ausmalen konnte. Unser Alltag hat sich durch Aus- und Nebenwirkungen von Covid-19 verändert. Verantwortungsvolle Politik in diesen Tagen bedeutet natürlich auch, die Balance zu finden zwischen der einst hart erkämpften und erlernten Freiheit und der Sicherheit, eben auch der Gesundheit. Wir genießen die Meinungs- und Pressefreiheit, können hinziehen, wohin wir wollen, berufen uns auf garantierte Schutzrechte gegenüber dem Staat, und manche von uns verwechseln mittlerweile die Politik mit einem ServiceAbo, bei dem ich mir nur das aussuche, was gerade passt. Dabei geht es um mehr - nicht nur jetzt.

Jede und jeder von uns muss sich in dieser herausfordernden Zeit persönlich den individuellen Auswirkungen der Pandemie stellen. So sehr uns

die Vorkommnisse am vergangenen Samstag in Leipzig schockieren, waren sie kein Unfall und erst recht kein Zufall. Es ist auch kein Zufall, dass Hunderte bundesweit bekannte Neonazis und Hooligans zu den sogenannten Hygiene- und Querdenken-Demonstrationen fahren und sogar - tragisch genug - für die „Sicherheit“ dort sorgen.