Protocol of the Session on September 16, 2020

Leider ist Polen kein Einzelfall. In Ungarn unter Viktor Orbán und in weiteren EU-Mitgliedsländern wird gegen europäische Grundwerte wie die Pressefreiheit oder eine unabhängige Justiz verstoßen. Deswegen wollen wir heute unseren Entschließungsantrag „Grundwerte der Europäischen Union achten und schützen - für wirksamere Maßnahmen gegen Verstöße“ zur ersten Beratung einbringen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Bürgerinnen und Bürger für Europa begeistern wollen, müssen wir unsere europäischen Werte leben und verteidigen. Verstöße müssen Folgen haben; denn die große Idee der europäischen Gemeinschaft kann nur überleben, wenn wir uns alle unter dem Dach der europäischen Werte versammeln und bei Verstößen ein Verfahren finden, diese auch zu ahnden.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Der eine oder die andere unter Ihnen wird sicherlich denken: Regelt das nicht Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union? Nach Artikel 7 kann der Rat der EU im Fall einer schwerwiegenden Verletzung der Werte mit Zustimmung des EUParlaments Empfehlungen an den betroffenen Mitgliedstaat richten, ihn zu einer Stellungnahme auffordern und dann einstimmig feststellen, dass eine eindeutige Gefahr vorliegt. Stellt auch der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs eine schwerwiegende Verletzung fest, können dem

Mitgliedsland zuletzt unionsvertragliche Rechte entzogen werden.

Herr Juncker, der ehemalige EU-Kommissionspräsident, hat das Artikel-7-Verfahren vor Kurzem in einem Interview als zahnlosen Tiger bezeichnet. Die Kritik dieses leidenschaftlichen Europäers ist berechtigt; denn im Europäischen Rat gilt das Prinzip der Einstimmigkeit. Das heißt, betroffene Länder wie Polen oder Ungarn können das Verfahren einfach mit ihrer Stimme blockieren.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, es braucht hier neue Lösungsansätze auf europäischer Ebene, die nicht wirkungslos verpuffen. Wir fordern, dass auch im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen EU-Mittel, beispielsweise aus dem Kohäsionsfonds, in bedeutendem Umfang einbehalten werden können, sofern in einem Mitgliedstaat eine schwerwiegende Verletzung der Grundwerte festgestellt wird. Hierfür muss ein Abstimmungsverfahren eingeführt werden, mit welchem eine Blockade im Europäischen Rat durch eine Minderheit verhindert wird.

Gerade wenn man mit jungen Menschen spricht, stellt man fest, dass für sie die Europäische Union viel mehr ist als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie wird als Friedensprojekt wahrgenommen, das auf der Achtung von Menschenrechten und gemeinsamen Grundwerten aufbaut. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Religion oder der sexuellen Orientierung haben in der EU keinen Platz.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Die Entscheidung der EU-Kommission, polnischen Kommunen, die gegen die LGBTI-Community Stimmung machen, Fördergelder für die Städtepartnerschaften zu streichen, begrüße ich ausdrücklich. Dass Herr Ziobro, der polnische Justizminister und Vorsitzende der rechtspopulistischen Partei Solidarna Polska, dem südpolnischen Tuchów, einer Anti-LGBT-Stadt, Haushaltsmittel zur Verfügung stellt, um die gestrichenen EUFördergelder zu kompensieren, macht mich fassungslos. Ich frage Herrn Ziobro: Wie können Sie als Justizminister guten Gewissens Homophobie belohnen? Ein Justizminister hat die Aufgabe, für Gerechtigkeit einzutreten, nicht aber, Ungerechtigkeit zu fördern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Fall und viele weitere Fälle zeigen uns, dass es notwendig ist, ein unabhängiges Expertengremium, bestehend aus jeweils einer geeigneten Persönlichkeit eines jeden Mitgliedstaats, einzusetzen, dessen

Aufgabe in der kontinuierliche Evaluierung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten der EU besteht.

Es ist mir wichtig zu betonen, dass es nicht darum geht, Polen oder einen anderen europäischen Nachbarn an den Pranger zu stellen. Wir sind froh, dass zwischen Polen und Deutschen nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs ein Austausch entstanden ist, der von Freundschaft und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Ich denke insbesondere an die gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit zwischen der Woiwodschaft Niederschlesien und dem Land Niedersachsen und die gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit zwischen der Woiwodschaft Großpolen und dem Land Niedersachsen, also an zwei Partnerschaften mit polnischen Verwaltungsbezirken.

Sollte es zu einer substanziell nachhaltigen Missachtung der EU-Grundwerte in einer niedersächsischen Partnerregion kommen, erwarten wir allerdings von der Landesregierung, dies im Dialog mit den Partnern zu thematisieren. Die Einhaltung der EU-Grundwerte sollte in die Kriterien für künftige regionale Kooperationen des Landes Niedersachsen aufgenommen werden.

Neben den bereits genannten Punkten bitten wir die Landesregierung, im europäischen Austausch der Regionen die Bedeutung der europäischen Prinzipien zu betonen und für ein vehementes Vorgehen gegen Demokratie- und Rechtsstaatsverstöße zu werben.

Vor dem Hintergrund der deutschen EU-Ratspräsidentschaft bitten wir die Regierung, sich gegenüber dem Bund für das Thema Rechtsstaatlichkeit als einen der Schwerpunkte in der Ratspräsidentschaft stark zu machen.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der CDU)

Vielen Dank, Frau Kollegin Glosemeyer. - Für die CDU-Fraktion erteile ich jetzt dem Abgeordneten Dr. Stephan Siemer das Wort. Bitte schön, Herr Siemer!

(Beifall bei der CDU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach den Ereignissen in den Jahren 1989 und 1990 in Polen, maßgeblich in Gang gesetzt durch die Gewerkschaft Solidarność, nach den ersten freien Wahlen in der Nachkriegszeit, der Zurückdrängung des Kommunismus und der Gründung der Dritten Republik ist Polen zum 1. Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union geworden. Damals haben sich 73 % der Polen in einer Volksabstimmung für einen Beitritt zur Europäischen Union ausgesprochen.

In den Jahren danach hat eine wachsende Zahl von Polinnen und Polen regen Gebrauch von den neuen Freiheiten gemacht, die Demokratie und Öffnung nach Westen auch für ihr Land mit sich gebracht haben. Vor allem junge, gut ausgebildete Polen haben die Chance zu mehr individueller Verwirklichung genutzt, das Ausland bereist und dort studiert.

Früher war die polnische Wirtschaft für Schwerindustrie, Braunkohle und Landwirtschaft bekannt. Das hat sich grundlegend geändert. Mit dem Beitritt zur EU hat sich Polen zu den Grundwerten der Union bekannt. Nicht zuletzt dank der engen Einbindung von Polen in die EU hat sich Polen so entwickelt.

Inzwischen hat es aber eine bedenkliche Gegenbewegung gegeben. Seit Jahren krempelt die national-konservative Regierung in unserem Nachbarland das Justizsystem um und versucht, auch andere Bereiche des öffentlichen Lebens auf Linie zu bringen. Statt individueller Verwirklichung verlangt sie Konformität, statt einer fairen Kräfteverteilung zwischen Staat und Bürgern fordert sie Gehorsam ein. Immer mehr Kommunen und Gebietskörperschaften - meine Kollegin Immacolata Glosemeyer ist darauf eingegangen - erklären sich zu schwulen- und lesbenfreien Zonen. Es gehen z. B. Nachrichten wie diese über den Ticker: In Polen nehmen Diskriminierung und Hetze gegen Homosexuelle zu.

Der jetzige Staatspräsident Andrzej Duda hat im Wahlkampf gegen Schwule und Lesben seines Landes gehetzt. Auch andere Formen eines Verhaltens, das sich nicht an den Vorgaben der PISPartei orientiert, haben zunehmend mit Schwierigkeiten zu kämpfen.

Wegen der Hetze, in die offizielle Missbilligungen immer mehr ausarten, verlassen Polen ihre Heimat und beantragen z. B. in Spanien oder Deutschland

Asyl. Diese Hetze, diese Diskriminierung, gegen Menschen, die die gleichen Rechte genießen wie wir alle, hat mit den Werten der EU und mit Rechtsstaatlichkeit nicht zu tun.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Die Notwendigkeit einer europäischen Asylpolitik, über die wir in diesen Tagen immer wieder diskutiert haben, ist nur einer der Gründe, aus denen wir uns immer wieder über die Grundwerte unterhalten, auf denen die Europäische Union gemäß der Europäischen Verträge fußt. Mit Polen lässt es ein wichtiger Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht nur an dem nötigen Bekenntnis zu diesen Grundwerten fehlen, die Organe dieses Mitgliedstaates wenden sich auch aktiv ab und spalten die polnische Gesellschaft.

Schon 1993 - also kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs - hat Niedersachsen mit den damaligen Provinzen Posen und Breslau Partnerschaften abgeschlossen. Nach einer Gebietsreform in Polen hat Niedersachsen im Jahre 2000 die Partnerschaften mit der Woiwodschaft Großpolen und der Woiwodschaft Niederschlesien - Immacolata Glosemeyer ist darauf eingegangen - neu vereinbart. Unsere Partnerschaften sind darauf angelegt, die Kontakte in allen Bereichen der Zivilgesellschaft zu vertiefen. Wir feiern also in diesem Jahr das 20-jährige Bestehen dieser Partnerschaften, bzw. in drei Jahren sogar das 30-jährige. Schon vor diesem Hintergrund sollten wir uns im Niedersächsischen Landtag mit der angesprochenen Entwicklung befassen und dazu klar Stellung nehmen.

Immacolata Glosemeyer hat die Kernforderungen bereits benannt: die Vergabe von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien knüpfen; die Verletzung von Rechten und Werten auf der europäischen Ebene thematisieren und auch gegebenenfalls über ein Expertengremium die Diskriminierung von Schwulen und Lesben bei unseren polnischen Partnern thematisieren; beim Eingehen künftiger Partnerschaften die Einhaltung von EU-Grundwerten als Maßstab ansetzen.

Das Präsidium des Niedersächsischen Landtages - und auch deshalb diskutieren wir hier darüber - nimmt in der Pflege der niedersächsischen Partnerschaften eine wichtige Rolle ein.

Ich würde mich freuen, wenn sich das Präsidium auch mit der Frage befasst, wie wir im Rahmen eines partnerschaftlichen Dialogs gegen Konformitätsdruck und Diskriminierung Stellung nehmen. Ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Dr. Siemer. Ich kann Ihnen die Mitteilung machen, dass das Präsidium schon in der letzten Sitzung kurz in diese Debatte eingestiegen ist, und dass wir das weiterhin auf der Tagesordnung haben. Dennoch Danke für den Hinweis.

Mir liegt eine weitere Wortmeldung vor, und zwar vom Abgeordneten Thomas Brüninghoff aus der FDP-Fraktion. Bitte, Herr Brüninghoff!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte heute in Anbetracht des vorliegenden Entschließungsantrags von SPD und CDU einige Textpassagen zitieren, deren Herkunft ich im Anschluss näher erläutern werde.

„… Rettungsschirm für den Rechtsstaat aufspannen …

Insbesondere die aktuellen Entwicklungen in Ungarn und Polen bieten Anlass zu großer Sorge. Sie setzen den Weg einer fortschreitenden Erosion der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedsländern der EU fort, die längst zu einer ernsthaften Bedrohung für die Grundwerte der Union geworden sind.

Die deutsche Ratspräsidentschaft sollte als Rettungsschirm für den Rechtsstaat eine europäische Grundwerteinitiative zu einem verbesserten Schutz von Rechtstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechten anstoßen, die folgende Maßnahmen umfasst:

1. Einen Evaluierungsmechanismus

nach dem Vorbild des UN Universal Periodic Reviews, der die Lage von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Grundrechten in der EU regelmäßig länderspezifisch evaluiert. Hierzu sollte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) aufgewertet werden

und ein entsprechendes politisches

Mandat erhalten.

2. Eine Befähigung der Europäischen Kommission, ,systemische Vertragsverletzungsverfahrenʼ einzuleiten. Die Europäische Kommission kann somit spezifische Vertragsverletzungsverfahren

gegen einen Mitgliedstaat bündeln, die zusammen genommen eine schwerwiegende Verletzung der Werte der Europäischen Union nahelegen.

3. Zahlungen von EU-Mitteln sollten ausgesetzt werden können, wenn Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip festgestellt werden. Der von der Europäischen Kommission in ihrem Paket zum Mehrjährigen Finanzrahmen der EU 2021 - 2027 vorgelegte Vorschlag sollte zwingend umgesetzt werden. Dabei setzen wir … uns dafür ein, dass, im Sinne einer umgekehrten qualifizierten Mehrheit, der Rat einen durch die Kommission festgestellten Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip nur dann ablehnen kann, wenn eine qualifizierte Mehrheit im Rat dies unterstützt.“

Meine Damen und Herren, dies waren Auszüge aus den vor einigen Monaten veröffentlichten Forderungen der Freien Demokraten an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Ich erkenne deutlich inhaltliche Übereinstimmungen zwischen dem vorliegenden Antrag und unseren Forderungen. Zwar sehe ich im vorliegenden Antrag in der Konkretisierung der Formulierungen noch Luft nach oben, freue mich aber auch darüber, dass unsere Forderungen offenbar Anklang finden und die GroKo nun anstrebt, ähnliche und möglicherweise ja sogar darauf basierende Forderungen im Landtag entschließen zu lassen.

(Beifall bei der FDP)