Protocol of the Session on April 23, 2020

(Starker Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, für die Abgabe der Regierungserklärung.

(Eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter der Landtagsverwaltung desinfizieren das Redepult)

Ich stelle fest, dass die Regierungserklärung 34 Minuten gedauert hat. Für die nun folgende Aussprache erhalten, wie vereinbart, die beiden großen Fraktionen SPD und CDU ebenso viel Redezeit, wie die Landesregierung verbraucht hat, also ebenfalls je 34 Minuten. Die drei Oppositionsfraktionen erhalten in der Summe so viel Redezeit wie die beiden Regierungsfraktionen zusammen. Das heißt, für jede der drei Oppositionsfraktionen ergibt sich eine Redezeit von 23 Minuten.

Ich rufe jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Fraktionsvorsitzende auf. Frau Hamburg, bitte!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ministerpräsident, ich möchte mich ausdrücklich Ihrem Dank an die Bürgerinnen und Bürger, an die vielen Menschen, die derzeit in ihrem Beruf, aber auch ehrenamtlich für Niedersachsen arbei

ten und dem Virus etwas entgegensetzen, anschließen. Das verdient unser aller Anerkennung und unseren großen Dank. Denn wir haben in den letzten Wochen eine große Leistung erbracht.

(Beifall bei den GRÜNEN, der SPD, der CDU und der FDP)

Trotzdem müssen wir feststellen, dass wir noch längst nicht an dem Punkt sind, an dem wir ankommen mussten, und dass die Infektionsrate - die Zahl derer, die infiziert werden - wieder steigt. Das muss uns zu denken geben. Sie müssen sich fragen, inwiefern nicht auch die Überbietungswettbewerbe um Lockerungsmaßnahmen in den letzten Wochen dazu beigetragen haben. Ich sage Ihnen deutlich: Das war toxisch. Denn es hat Erwartungen geweckt, die jetzt enttäuscht wurden, es hat Ängste geschürt, und es führt zu Neiddebatten zwischen denen, die von den Lockerungsmaßnahmen profitieren, und denen, die eben nicht profitieren können. Das ist fatal, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Denn die Akzeptanz von Maßnahmen wird vorrangig davon abhängen, ob wir Kriterien haben und Nachvollziehbarkeit für das schaffen, was wir tun. Da ist die Verordnungsdebatte, die wir in den letzten Wochen führen mussten - Herr Ministerpräsident, das möchte ich Ihnen so deutlich sagen -, nicht hilfreich gewesen: erst die Regelung mit den Besuchsverboten, dann die Öffnung der Baumärkte - bei gleichzeitigem Verbot von Versammlungen und Demonstrationen, also der Einschränkung von Grundrechten. Gartencenter durften Blumen verkaufen, auf Wochenmärkten waren Blumenstände verboten. Herr Ministerpräsident, all das trägt nicht zur Akzeptanz bei. Solche Fehler dürfen bei so schwerwiegenden Grundrechtseingriffen einfach nicht passieren!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir fordern deshalb, dass Sie das Parlament künftig beteiligen. Denn wenn Sie so schwere Eingriffe in unsere Grundrechte vornehmen, dann ist das nicht alleine Sache einer Regierung. Es ist die Sache dieses Parlamentes, solche Entscheidungen und Kriterien mitzubestimmen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das Beispiel der Maskenpflicht hat das deutlich gemacht. Wir

teilen durchaus Ihr Anliegen, bundeseinheitlich vorzugehen.

Aber wir dürfen doch deswegen nicht das Ziel aus den Augen verlieren! Sie können doch nicht so lange warten, bis sogar einzelne Städte in Niedersachsen vorangehen! Wenn Sie es nicht einmal schaffen, niedersachsenweit einheitlich vorzugehen, wie wollen Sie dann zur Einheitlichkeit unter den Bundesländern kommen, Herr Ministerpräsident?

Und wenn Sie die Maskenpflicht schon einführen, dann sagen Sie doch bitte nicht: „Ich musste ja, weil es alle gemacht haben“, sondern: „Ich mache das, weil es sinnvoll ist, weil es zumindest einen kleinen Schutz bietet, wenn auch keinen kompletten.“ Das hätte Ihre Botschaft gestern sein müssen!

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Vielen ist auch nicht klar, warum Sie ausgerechnet diese Lockerungen beschlossen haben. Warum haben Sie diese Prioritäten gesetzt?

Und warum sprechen Sie hier von kleinen Schritten, Herr Ministerpräsident? Die Öffnung dieser Läden war ein großer Schluck aus der Pulle! Die Innenstädte sind bereits jetzt voll. Herr Drosten und das Helmholtz-Institut haben gestern erst gesagt, dass sie mit großer Sorge das Verhalten der Menschen beobachten und Angst davor haben, dass wir in eine zweite Infektionswelle hineinlaufen und unseren Vorsprung verspielen. Das, Herr Ministerpräsident, darf nicht passieren!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was Sie auch nicht erwähnt haben: Die Voraussetzungen für große Lockerungen sind nicht erfüllt. Wo ist die Schutzkleidung? Wo sind die Testkapazitäten? Wo ist die datenschutzkonforme App, die ermöglichen soll, Infektionsketten nachzuvollziehen? Sie können nicht nur über Lockerungen diskutieren. Hier müssen Sie liefern, Herr Ministerpräsident! Das erwarten wir von Ihnen, wenn Sie über Lockerungen diskutieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nicht zuletzt haben Sie die Krankenhauskapazitäten zum Kriterium gemacht. Sie bleiben uns aber die Antwort auf die Fragen schuldig: Was heißt das? Wann muss man mit erneuten Verschärfungen rechnen? Wann kann man auf weitere Lockerungen hoffen? Wie wird das Ganze funktionieren?

Ich möchte Ihnen deutlich sagen: Es ist ein Fehler, als wunderbar positives Ergebnis zu verkünden, dass unsere Krankenhauskapazitäten nicht ausgelastet sind. Sie verschweigen, dass viele Herzinfarktpatienten derzeit nicht im Krankenhaus landen. Da müssen wir doch handeln! Es ist lebensbedrohlich, was hier gerade passiert!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie haben zu Recht die Notwendigkeit angesprochen, die Wirtschaft zu unterstützen. Wir unterstützen das eindeutig. Aber das wird nicht allein über Lockerungsmaßnahmen gehen. Ist nicht vielmehr unser Job derzeit, umzudenken und der Wirtschaft neue Perspektiven in Zeiten von Corona zu bieten? Ist es nicht unsere Aufgabe, einen zweiten Lockdown zu verhindern und mit Digitalisierung und klugen Konzepten Unternehmen fit zu machen für ein Wiederhochfahren, bei dem sie nicht zum alten Trott zurückkehren, der schlicht nicht funktioniert, solange wir die Schutzkleidung nicht haben?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich möchte Ihnen deutlich sagen: Auf der Georgstraße in Hannover sind normalerweise 65 000 Fußgänger pro Tag unterwegs. Zu Zeiten der Schutzmaßnahmen waren es 5 000. Wir hatten diesen Montag, nach der Öffnung des Handels, wieder 35 000 Menschen auf der Georgstraße. Herr Ministerpräsident, das ist eine Großveranstaltung, und die wollten Sie vermeiden!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Noch ein Beispiel aus Hannover: Ein Händler hat gesagt, sein Onlinesystem lief gerade an, und jetzt wird es durch die Öffnungen wieder zerstört. Er muss wieder von vorne anfangen, sollte ein zweiter Lockdown kommen. Wäre es nicht unser Job, Händlern regionale Verkaufsmöglichkeiten auch jenseits der Öffnung zu ermöglichen, durch Onlineverkauf, durch kluge Logistikketten, durch kluge Routenplanung? Können wir da nicht gerade auch unsere großen Unternehmen wie etwa VW einbeziehen, die dann hier in Niedersachsen einfach neue Aufgaben übernehmen, in neue Märkte gehen? Wir haben so viele kluge Start-ups, wir haben so viele kluge Aktive in der niedersächsischen Kreativwirtschaft. Warum nutzen wir dieses Potenzial nicht für unsere Wirtschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen? In einem Innovationsland wie Niedersachsen muss das doch möglich sein.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Und was machen Sie? - Sie diskutieren über eine Abwrackprämie. Herr Ministerpräsident, wir können doch nicht alle zehn Jahre unsere Autos verschrotten! Das ist doch nicht nur umweltpolitischer Irrsinn. Es ist doch einfach abwegig, jetzt solche Forderungen zu stellen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir müssen unsere Wirtschaft durch gezielte Kaufanreize voranbringen. Da besteht zwischen uns überhaupt kein Dissens. Aber wir müssen es doch schaffen, diese Kaufanreize mit unseren Zielen in Einklang zu bringen, mit ökologischen Belangen, mit sozialen Kriterien. So müssen doch die Konjunkturprogramme sein, die wir voranbringen.

Sie haben vollkommen recht: Wirtschaft bedeutet Arbeitsplätze, und Arbeitsplätze sind ein wichtiger Bereich der Sozialpolitik. Aber ich habe mich gefragt, warum die Ministerpräsidentenkonferenz Familien nicht großartig im Blick hatte; man denke an all die sozialen Härten. Jetzt habe ich Ihre Rede gehört, und es wurde mir klar. Sie widmen den sozialen Härten, den Kommunen, der Kreativwirtschaft einen einzigen läppischen Satz in Ihrer Rede. Einen einzigen Satz! Herr Ministerpräsident, das erinnert mich an Gerhard Schröder, der so etwas mal „Gedöns“ genannt hat.

(Johanne Modder [SPD]: Das ist un- angemessen!)

Ich sage Ihnen deutlich: Die Corona-Krise darf keine soziale Krise werden! Herr Ministerpräsident, hier müssen Sie Antworten finden, und zwar kurzfristig!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Hartz-IV-Erhöhungen müssen anstehen, weil die Menschen nicht mehr zu den Tafeln kommen können. Die leichten Erhöhungen des Kurzarbeitergeldes nach drei bzw. sechs Monaten der Kurzarbeit, die Ihre Bundesregierung heute Nacht beschlossen hat, sind doch keine reale Maßnahme, die ankommt. Das ist eine reine Schlagzeile. Aber wir brauchen Programme, die wirken, liebe Kolleginnen und Kollegen, und zwar jetzt und nicht erst nach drei Monaten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir müssen über die Einführung eines CoronaElterngeldes reden. Wir müssen über die Umsetzung des sozialen Rettungsschirms hier in Niedersachsen reden, und zwar eigentlich schon letzte Woche und nicht erst nächste Woche. Auch davon

hängen viele Existenzen und Jobs ab. Herr Ministerpräsident, ich glaube, das muss ich Ihnen nicht erzählen.

Auch die Kommunen brauchen endlich eine feste Perspektive. Denn sie geraten an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Das haben sie deutlich gesagt. Da sind Sie in der Pflicht, heute bereits Antworten zu geben und nicht erst zu prüfen, wie das gehen kann.

Ich als Mutter möchte Ihnen an dieser Stelle auch deutlich sagen: Spielplätze sind keine Freizeitangelegenheit. Sport ist nicht nur eine Freizeitangelegenheit. Und die Notbetreuung gehört nicht zu Ihrem Wirtschaftsprogramm, sondern betrifft die mentale Gesundheit. Das ist Sozialpolitik. Das verdient gerade in der jetzigen Zeit unser aller Anerkennung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich habe eben deutlich gemacht, dass die Akzeptanz der Maßnahmen auf der einen Seite davon abhängen wird, dass wir es schaffen, soziale Härten zu vermeiden. Auf der anderen Seite wird sie maßgeblich davon abhängen, ob Politik es schafft, neue Antworten für das Leben mit der CoronaKrise zu geben. Lediglich Lockerungsdebatten zu führen, wird uns an dieser Stelle nicht helfen. Denn wir wissen, dass wir nicht alles auf einmal lockern können. Das heißt, es werden Menschen durchs Raster fallen. Denen müssen wir neue Antworten geben, und die müssen wir ihnen jetzt geben. Wenn ein Innovationsland wie Niedersachsen es nicht schaffen können soll, hier neu zu denken und neue Wege zu beschreiten, wer soll es dann schaffen können? Darin liegt die Aufgabe der Politik in der heutigen Zeit.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt ist unsere Aufgabe - wie Sie auch schon gesagt haben -, heute schon an morgen zu denken. Wir müssen jetzt ein Konjunkturprogramm für die Zeit nach der akuten Krise planen, und wir müssen es nach ökologischen und sozialen Kriterien planen. Dieser April ist der trockenste April, den wir je hatten. Wir erleben schon jetzt eine massive Dürre. Wir wollen uns nicht ausmalen, was das für die Landwirtschaft und die Nahrungsversorgung in Niedersachsen in diesem Jahr bedeutet. Das heißt: Wenn wir Gelder in die Hand nehmen, dann müssen wir sie gezielt und sinnvoll ausgeben. Wir müssen die Abwrackprämie auf den Schrottplatz

packen und gemeinsam ganz andere Maßnahmen planen.