Protocol of the Session on January 30, 2020

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Es hat im NSU-Skandal - auch das hat Herr Dr. Birkner zu Recht gesagt - nicht an Befugnissen zu Ermittlungen gefehlt, sondern es hat an richtigem Hintergrundwissen und richtigen Schlussfolgerungen und richtigem Erkennen der Zusammenhänge gefehlt. Insofern sollten wir diese Debatten an den Stellen nicht vermischen.

Zu Ihren Ausführungen zu meiner Fraktionsvorsitzenden Frau Piel: Herr Schünemann, Sie selber waren mehrfach dabei, als sie sich von ihrer Wortwahl hier distanziert und sich entschuldigt hat.

(Julia Willie Hamburg [GRÜNE]: Das vergisst er wahrscheinlich gerne mal!)

Im Übrigen war sie - das wissen Sie in Wahrheit doch auch - sogar persönlich beim Verfassungsschutz und hat das Gespräch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesucht und sich entschuldigt. Insofern verwundert es, dass Sie diese Konflikte hier noch schüren. Sie scheinen eine gewisse Sehnsucht nach vergangenen Wortduellen zu haben. Die möchte ich an dieser Stelle nicht bedienen. Ich finde, wir sollten jetzt vielmehr nach vorn schauen. Das finde ich viel wichtiger.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Abschließend. Ich freue mich, dass grundsätzlich Konsens darüber besteht, dass die strafrechtlichen Ermittlungen natürlich mit aller Konsequenz weitergeführt werden müssen, aber dass wir natürlich auch parlamentarisch hier weiter zur Aufklärung beitragen müssen. Es geht nicht um das operative Geschäft, Frau Osigus, das hat hier keiner gesagt. Aber es ist in der Tat unsere Aufgabe, zu schauen, was die Sicherheitsbehörden wissen, was die Sicherheitsbehörden unternehmen und was sie vielleicht noch besser tun können.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Limburg.

Uns liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Ich stelle fest, dass die Besprechung der Großen Anfrage damit abgeschlossen ist.

Wir kommen jetzt, da wir die Tagesordnungspunkte 23 und 24 am Vormittag behandelt haben, zu dem

Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung: Kriterien zur Anerkennung Todesopfer rechter Gewalt anpassen - Überprüfung der offenen Fälle durch wissenschaftliche Untersuchung abschließen - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 18/5637

Zur Einbringung hat sich die Abgeordnete Julia Willie Hamburg, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, zu Wort gemeldet. Bitte!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 21-jährige Alexander Selchow starb am 1. Januar 1991. Selchow wurde in der Silvesternacht in Rosdorf von zwei 18-jährigen Skinheads niedergestochen. Diese gehörten der rechtsextremen FAP an.

(Vizepräsident Frank Oesterhelweg übernimmt den Vorsitz)

Der Obdachlose Helmut Leja wurde am 4. Juni 1991 von einem 17-jährigen aus der örtlichen Skinheadszene in einem Waldstück bei Kästorf erstochen. Zuvor bezeichnete der Täter ihn als „Abschaum“.

Matthias Knabe wurde am 8. Mai 1991 nach einer Begegnung mit rechten Skinheads vor ein Auto gejagt. Er starb an schweren Verletzungen ein Jahr später.

Hans-Peter Zarse, selbst ein rechter Skinhead, wurde von einem seiner Kollegen erstochen. Bei dieser handgreiflichen Auseinandersetzung gab der Täter, der damals Anführer einer rechtsextremen Skinhead-Gruppe war, an, „in seinem Dominanzstreben und seiner Ehre beeinträchtigt“ worden zu sein.

Bakary Singateh alias Kolong Jamba wurde am 7. Dezember 1993 in einem Zug von einem Deutschen mit einem 12 cm langen Messer erstochen.

Der Täter hatte sich durch den Asylbewerber gestört gefühlt.

In der Nacht zum 10. Juli 2003 wurde Gerhard Fischhöder von einem Mann in Scharnebeck zu Tode getreten. Zuvor pöbelten Neonazis vor dem Obdachlosenheim, in dem er lebte. Der Täter soll der Gruppe angehört haben.

Jenisa war ein 8-jähriges Mädchen, das 2007 von ihrem Stiefonkel ermordet und zuvor sexuell missbraucht worden war. Die Familie des Opfers sprach im Prozess davon, dass der Mann sich immer wieder antiziganistisch geäußert habe und deswegen den Mord begangen habe.

Andrea B. wurde am 31. Dezember 2012 tot aus dem Maschsee in Hannover geboren. Die ExFreundin des Täters erzählte, dass Andrea B. sich vorher über seine rechte Gesinnung lustig gemacht haben soll. Der Täter hatte im Internet rechtsradikale Musik verteilt und sich über Anders Breivik positiv geäußert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Fälle sind exemplarisch für viele Fälle, die in Deutschland derzeit noch immer nicht als rechte Morde anerkannt worden sind. Wir möchten Sie auffordern, hier als Landtag geschlossen ein Zeichen zu setzen und eine Neuüberprüfung dieser Fälle vorzunehmen.

Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie viele Menschen potenziell noch in dem Dunkelfeld sind, die wir nicht kennen und von denen wir nichts erfahren, weil sie als Obdachlose, als sogenannte marginalisierte Gruppen, gar keine Angehörigen haben, die für die Anerkennung dieser Opfer streiten.

(Christian Meyer [GRÜNE]: Ja!)

Es ist unsere Verantwortung als Parlament, hier hinzuschauen und das Ausmaß rechter Gewalt und rechter Morde sichtbar zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Ulrich Watermann [SPD])

Andere Bundesländer haben es vorgemacht. Brandenburg und Berlin etwa haben Kommissionen eingerichtet, um genau solche Zweifelsfälle - in Niedersachsen acht an der Zahl - zu überprüfen und hier Neubewertungen vorzunehmen. Auch in München konnten wir sehen, dass dort der Amoklauf, der 2016 verübt worden war, mittlerweile neu bewertet wurde und somit auch zu den rechten

Morden in die Statistik aufgenommen wurde. Ich finde, wir sind das den Opfern schuldig.

Ich möchte Ihnen deutlich machen, warum wir auch die Kriterien absurd finden. Unserer Meinung nach muss man diese dringend überprüfen. Zum Beispiel wurde bei diesen Fällen immer wieder gesagt, es habe eine Täter-Opfer-Beziehung gegeben, weil etwa die Personen Nachbarn waren oder auf dieselbe Schule gegangen sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich gibt es Kennverhältnisse. Aber das täuscht doch nicht darüber hinweg, dass es eine klare rechtsmotivierte Gesinnung geben kann. Wenn ein Punk neben einem Nazi wohnt und der diesen umbringt, so bleibt es ein rechter Mord. Das muss man dann auch als solchen benennen.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Ein anderes Beispiel: Viele Menschen, die solche Morde begehen, haben Psychosen, und es wird gesagt: Sie waren psychisch nicht stabil. - Ja, aber wenn sie doch deutlich sagen, dass sie Ausländer töten wollten, dann ist es doch egal, ob es mit einer Psychose einhergeht. Das Motiv dahinter ist trotzdem politisch, und man muss es auch als solches benennen und sichtbar machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Dr. Marco Genthe [FDP])

Es ist doch auch absurd, dass wir beispielsweise die Einordnung der Frage, ob es eine politisch motivierte Tat oder Hasskriminalität ist, vornehmen, noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es kann doch nicht sein, dass wir eine Tat als Hasskriminalität deklarieren - oder auch nicht - und dann, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind und es ein anderes Ergebnis gibt, dieses Ergebnis nicht mehr korrigieren können, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen doch dazu kommen, dass solche Statistiken nach Beendigung eines Verfahrens, wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen, geführt werden.

Ich konnte von einigen dieser Fälle in Niedersachsen die Ermittlungsakten und die Verhörprotokolle und auch die Gerichtsunterlagen einsehen. Ich muss Ihnen sagen, ich war tief betroffen und entsetzt, denn da haben sogar die Richter von rechtsmotivierten Gesinnungen, von Nazis gesprochen, von klar rechten Tatmotiven gesprochen.

Trotzdem müssen die Angehörigen heute immer noch darum kämpfen, dass ihre Kinder als Opfer rechter Gewalt anerkannt werden. Das kann es nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Da haben wir eine andere Verantwortung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich möchte hier auch deutlich sagen: Es mag als kleiner Baustein erscheinen, und Sie mögen sich fragen, was es bringt, wenn wir diese acht Fälle überprüfen. Zum einen bringt es, dass man sich das wahre Ausmaß von Dingen nur vor Augen führen und Strategien dagegen entwickeln kann, wenn man es auch als Ausmaß benennt, anerkennt und offenlegt. Ich bin mir sicher, dass wir in diesem Zusammenhang dann auch über weitere Fälle reden werden; denn es werden nicht nur diese acht Fälle gewesen sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Nicht zuletzt möchte ich aber dafür werben, weil die Betroffenen immer noch nicht zur Ruhe gekommen sind und weil sie dafür kämpfen, dass die politischen Motive hinter den Taten aufgedeckt werden. Ich finde, das sind wir diesen Betroffenen schuldig.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin Hamburg. - Für die Fraktion der FDP hat sich nun gemeldet der Kollege Dr. Marco Genthe. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat hier ein wirklich sehr wichtiges Thema angesprochen, das im direkten Zusammenhang zu dem vorangegangenen Punkt, den wir lange diskutiert haben, steht. Bei den von der Kollegin Hamburg eben gerade aufgezählten Gewalttaten ist es natürlich absolut zwingend, einen möglichen extremistischen Hintergrund auch tatsächlich aufzuarbeiten. Entscheidend ist doch, dass wir den Extremismus und seine Organisationen richtig verstehen und einschätzen können, um ihn am Ende auch tatsächlich vernünftig bekämpfen zu können, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Die Taten rund um den NSU, die wir eben diskutiert haben, haben ganz deutlich gezeigt, wie gefährlich es ist, wenn der Rechtsstaat in eine Richtung unaufmerksam wird. So etwas darf sich nie wiederholen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir werden daher mit großem Interesse verfolgen, wie sich die Praktiker in einer Anhörung, die der zuständige Ausschuss sicherlich beschließen wird, zu den einzelnen Punkten äußern werden, und werden das, wie gesagt, sehr offen begleiten.

Vielen Dank.