Protocol of the Session on June 20, 2019

2017 wurden in Niedersachsen 6 629 Personen zu Bewährungsstrafen verurteilt. Für die von Ihnen abgefragten Jahre 2018 und 2019 liegen die Strafverfolgungsstatistiken noch nicht vor.

Allerdings gibt es bundesweite Rückfalluntersuchungen, die Daten enthalten, die darauf schließen lassen, dass die Fälle einer erneuten Strafaussetzung bei Bewährungsversagern häufig sind.

Entsprechendes Datenmaterial enthält etwa die vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Jahr 2016 veröffentlichte Studie „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2010 bis 2013 und 2004 bis 2013“ von Jehle und anderen; die kann man im Internet abrufen. Der Studie ist u. a. eine Risikotabelle für den Zeitraum 20102013 beigefügt. Für die 86 615 erfassten Fälle einer Ausgangsverurteilung zu einer Bewährungsstrafe kam es danach innerhalb des Risikozeitraums von drei Jahren zu 19 454 erneuten Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren. In 53,5 % der Fälle - also über 50 % der Fälle - wurden die Freiheitsstrafen erneut zur Bewährung ausgesetzt.

Da die Gerichte überwiegend eine Bewährungszeit von drei Jahren festsetzen - das ist der große Durchschnitt -, ist es mehr als wahrscheinlich, dass die den erneuten Verurteilungen zugrunde liegenden Straftaten innerhalb der laufenden Bewährungszeit begangen worden sind.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Ja, wahr- scheinlich! Aber Sie wissen es nicht!)

Das kann man einfach ausrechnen.

Zu Frage 2: An dieser Stelle möchte ich erst einmal eines klarstellen: Ich schätze meine - jetzt kann ich ja sagen: ehemalige - Kollegin Dr. Barley

(Helge Limburg [GRÜNE]: Noch ist sie ja im Amt!)

als kluge und umsichtige Bundesjustizministerin. Angesichts der in der Dringlichen Anfrage bereits geschilderten Gesamtumstände in Berlin kann man ihr persönlich - das habe ich auch damals in dem Interview ausdrücklich gesagt - überhaupt keine Versäumnisse vorwerfen. Dies habe ich, wie gesagt, sehr deutlich gemacht.

Seit gestern wissen wir zudem auch, dass das BMJV ab dem 1. Juli 2019 eine neue Hausspitze

haben wird. Ich freue mich sehr darüber und freue mich auf die Zusammenarbeit mit der neuen Bundesministerin.

Gleichwohl gibt es eben leider einige Projekte, zu denen im Kern Gesetzgebungsvorhaben zählen, die im BMJV nicht so vorangebracht worden sind, wie es erforderlich gewesen wäre. Ich nenne nur einmal ein paar zentrale Beispiele:

Im strafrechtlichen Bereich gibt es zunächst drei EU-Richtlinien, die nicht fristgerecht umgesetzt worden sind.

Die EU-Richtlinie über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtigte oder beschuldigte Kinder ist am 11. Juni 2016 in Kraft getreten. Die Richtlinie war innerhalb von drei Jahren ab Inkrafttreten, d. h. spätestens zum 11. Juni 2019, in nationales Recht umzusetzen. Am 12. Juni 2019, also einen Tag nach Ablauf der Umsetzungsfrist, hat das Bundeskabinett dann endlich einen Entwurf beschlossen. Wann das entsprechende Gesetz in Kraft treten wird, ist unklar.

Die sogenannte PKH-Richtlinie, am 26. Oktober 2016 in Kraft getreten, enthält Vorschriften über das Recht auf Prozesskostenhilfe für verdächtige und beschuldigte Personen im Strafverfahren und für Personen, gegen die ein Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls anhängig ist. Die Richtlinie ist in Deutschland nicht fristgerecht - bis zum 25. Mai 2019 - umgesetzt worden; sie ist bis heute nicht umgesetzt worden.

Alle Bundesländer mussten in beiden Fällen kurzfristig - nachdem jeweils in der ersten Jahreshälfte 2019 offenbar wurde, dass eine Umsetzung nicht mehr fristgerecht erfolgen wird - die unmittelbare Bindungswirkung der Regelungen der Richtlinie prüfen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Vom Bund war hierzu damals - und ist bis heute - nichts zu vernehmen.

Die JI-Datenschutzrichtlinie wurde am 4. Mai 2016 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Seit diesem Zeitpunkt war bekannt, dass die Umsetzung bis zum 6. Mai 2018 erfolgen musste. Diese Frist ist ohne Umsetzung abgelaufen. Der Zustand dauert an.

Außer auf die genannten Richtlinien ist auch auf den auf eine niedersächsische Bundesratsinitiative zurückgehenden Gesetzentwurf des Bundesrates vom 2. März 2018 zur effektiven Bekämpfung von sogenannten Gaffern sowie zur Verbesserung des Schutzes des Persönlichkeitsrechts von Verstorbenen hinzuweisen. Die Bundesregierung hatte

das Anliegen des Gesetzentwurfs, den strafrechtlichen Schutz zu verbessern, begrüßt und angekündigt, das Anliegen aufgreifen zu wollen. Innerhalb der Bundesregierung federführend ist das Bundesjustizministerium. Das ist jedoch in der Folgezeit in dieser Sache untätig geblieben. Der Bundesrat hat daher im vergangenen Monat den Gesetzentwurf in Erinnerung gerufen und die Bundesregierung aufgefordert, dieses Gesetzgebungsvorhaben nunmehr endlich konstruktiv zu begleiten.

Auch die Reform des Sexualstrafrechts ist ein Projekt, dem sich das BMJV zeitnah hätte annehmen müssen. Die Justizministerkonferenz hat das BMJV bereits auf ihrer Herbstkonferenz 2017 gebeten, das Sexualstrafrecht in Anbetracht des im Juli 2017 vorgelegten umfangreichen Abschlussberichts der Reformkommission zum Sexualstrafrecht systematisch zu überarbeiten und die Länder an den Arbeiten zu beteiligten. Da es dann in der Folge nicht tätig geworden ist, haben die Justizministerinnen und Justizminister auf ihrer Konferenz im Frühjahr dieses Jahres die Auffassung bekräftigt, „dass die systematische Überarbeitung des Sexualstrafrechts auch im Interesse eines effektiven Opferschutzes keinen weiteren Aufschub duldet“.

Die weitere Modernisierung des Strafprozessrechts ist ebenfalls nicht mit der nötigen Intensität gefördert worden.

(Dr. Stefan Birkner [FDP]: Was ist da eigentlich überhaupt passiert?)

- Eben.

Nachdem zum 24. August 2014 das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens in Kraft getreten ist, sind die Justizministerinnen und Justizminister der Länder bereits auf ihrer Herbstkonferenz im November 2017 zu dem Schluss gekommen, dass es trotz der neuen Gesetzeslage dringend einer weiteren Reform des Strafprozessrechtes bedarf. Das BMJV ist daher gebeten worden, „den Reformprozess in enger Abstimmung mit den Ländern fortzusetzen“.

Auch der Koalitionsvertrag auf Bundesebene sieht vor, die Strafprozessordnung zu modernisieren und Strafverfahren zu beschleunigen. Im Koalitionsvertrag werden insbesondere die gebündelte Vertretung der Interessen von Nebenklägern - diese Forderung ist auch aus dem NSU-Verfahren erwachsen -, ein Vorab-Entscheidungsverfahren

für Besetzungsrügen, weitere Reformen des Rechts der Beweiserhebung und Beweisverwertung sowie eine Vereinfachung der Ablehnung missbräuchlich gestellter Befangenheitsanträge und Beweisanträge genannt.

Trotzdem liegt bisher kein Gesetzgebungsvorschlag des BMJV vor.

Ein weiteres ganz wichtiges Gesetzgebungsvorhaben, das mir, wie Sie wissen, natürlich sehr am Herzen liegt und das noch immer aussteht, ist die zu regelnde Beteiligung des Bundes an Personal- und Sachkosten der Länder in Staatsschutzverfahren. Im Rahmen der Frühjahrskonferenz 2018 der Justizministerinnen und Justizminister wurde das BMJV einstimmig gebeten, bis zur Herbstkonferenz 2018 einen Gesetzentwurf zur Beteiligung des Bundes an den Personal- und Sachkosten der Länder in Staatsschutzsachen auszuarbeiten. Da dies nicht geschehen ist, fragte Schleswig-Holstein als Vorsitzland der diesjährigen Justizministerkonferenzen im April 2019 noch einmal beim Bundesministerium nach, wann mit einem entsprechenden Entwurf zu rechnen sei. Im vergangenen Monat kam dann die Antwort, dass die bislang fehlende Reaktion der Vielschichtigkeit des Themas geschuldet sei und noch erheblicher Prüfungs- und Abstimmungsbedarf bestehe.

Letztlich ist es leider auch im Bereich des Zivilrechts zu Versäumnissen und Verzögerungen gekommen. Ich nenne hier nur folgende Beispiele ganz kurz: Übergangsregelungen zur Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in Zivilsachen, Scheinvaterregress. Das ist auch etwas, was vielleicht wieder ein bisschen in die Versenkung geraten ist. Einem Scheinvater - das ist nicht der leibliche Vater -, der als rechtlicher Vater gilt, weil er zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder die Vaterschaft anerkannt hat, steht hinsichtlich der an das Kind geleisteten Unterhaltszahlungen - wie Sie wissen - ein Regressanspruch gegen den leiblichen Vater zu. Dazu benötigt der Scheinvater aber regelmäßig Angaben zum möglichen leiblichen Vater.

Mit Beschluss vom 24. Februar 2015 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es für eine Auskunftspflicht der Mutter eines Gesetzes bedarf. Wie Sie wissen, gibt es das bis heute nicht.

Diese Beispiele sollen hier einmal genügen.

Zu Frage 3: Konkrete Zahlen zu Verteidigern an den verschiedenen Gerichtsstandorten liegen nicht

vor. Eine solche Erhebung ist weder veranlasst noch zielführend.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Ach!)

Grundsätzlich ist es Beschuldigten unbenommen, z. B. auch auswärtige Verteidiger zu mandatieren. Darüber hinaus können auch Rechtsanwälte als notwendige Verteidiger beigeordnet werden, die sich nicht auf den Bereich des Strafrechts spezialisiert haben.

Die Problematik, die sich vielmehr stellt, sind die zeitlichen Kapazitäten von Verteidigern und Rechtsanwälten. Erfahrungsgemäß sind Rechtsanwälte - zum Glück für sie - terminlich eng gebunden. Bereits in normalen Strafverfahren ist es zumeist schwierig, Termine mit Verteidigern mal eben so zu vereinbaren.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Ach!)

Diese Problematik stellt sich erst recht, wenn eine erste Beschuldigtenvernehmung und ein kurzfristiger Verhandlungstermin - beides ginge ohne beigeordneten Verteidiger nach der Richtlinie nämlich nicht mehr - innerhalb kürzester Zeit erfolgen sollen, um ein beschleunigtes Verfahren durchführen zu können. Diese Verfahrensart wäre damit praktisch ausgehebelt.

Erst einmal so viel zur Beantwortung Ihrer Fragen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und Zustimmung bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Justizministerin, für diese umfassende Antwort. - Es besteht der Wunsch nach Zusatzfragen. Es beginnt Dr. Marco Genthe, FDPFraktion. Bitte sehr!

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund, dass die Justizministerin in dem betreffenden Interview einräumt, keine konkreten Zahlen zu den sogenannten Kettenbewährungen zu haben - damit meine ich nicht die allgemeinen Rückfallquoten -,

(Helge Limburg [GRÜNE]: Ja!)

frage ich die Landesregierung, warum sie trotzdem der Auffassung ist, dass die Vorschriften zur erneuten Strafaussetzung verschärft werden müssen.

(Beifall bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Danke schön. - Frau Ministerin Havliza, bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte das gerade schon gesagt: Es gibt Rückfalluntersuchungen wie die vom BMJV herausgegebene Studie. Dieser ist zu entnehmen, dass erneute Straftaten innerhalb laufender Bewährungszeit überwiegend erneut zur Bewährung ausgesetzt werden. Sie gesagt, die Studie ist im Netz abzurufen.

Meines Erachtens müssen für eine erneute Strafaussetzung strengere Maßstäbe gelten als für die erste Strafaussetzung, die zumindest bei Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr - meistens sogar bis zu zwei Jahren; das wissen wir alle - die absolute Regel ist.

Immerhin hat der Straftäter schon einmal eine Chance erhalten und sie nicht genutzt, und eine erneute Bewährungsstrafe erscheint nur dann als geboten, wenn ganz besondere Umstände vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass der Täter die Erwartung, jetzt aber künftig straffrei zu leben, nicht erneut enttäuschen wird. Auch das wird in der Abgrenzung schon schwierig genug.

Eine solche Regelung liegt im Übrigen auch im Interesse der Sicherheit der Bevölkerung. Der Rechtsstaat hat die Verpflichtung, die Bevölkerung vor Wiederholungstätern zu beschützen.