Protocol of the Session on May 14, 2019

Prof. Dr. Guy Stern:

Herzlichen Dank für dieses freundliche und laute Willkommen. Ich bin glücklich, dieser Gesellschaft, dieser mir wieder nahe stehenden Vertretung auch als Hildesheimer meinen Gruß aussprechen zu dürfen.

Ich danke ganz besonders meinem Turnverein Eintracht, der es mir all die Jahre hindurch ermöglicht hat, Balustraden wie diese zu besteigen.

(Heiterkeit und Beifall)

Zunächst: Eine solch schöne Einführung ist mir selten widerfahren. Wenn mich einer meiner früheren Studenten einführen musste, war damit manchmal auch ein wenig Kritik verbunden. Aber Sie, Frau Präsidentin, haben - ich danke Ihnen! - meinen Namen ohne jede Kritik genannt.

(Heiterkeit)

Sie haben Ihre Einführung mit einer Frage ausklingen lassen. Ich glaube, sagen zu dürfen, dass meine Ausführungen in ihrer ganzen Länge - ich bin auf drei Stunden eingestellt - gewissermaßen intuitiv auf Ihre Frage antworten. - Ich werde mich nicht zu oft zu Ihnen umdrehen, Frau Präsidentin, sonst können mich die anderen nicht so gut hören. Aber vielleicht wäre das auch - - - Ich werde das nicht weiter ausführen.

(Heiterkeit)

Ein Anlass, der mich auch in diesem Jahr wieder nach Deutschland, nach Niedersachsen, nach

Hildesheim führte, war ein „Happening“, wie wir in Amerika sagen. Ich war eingeladen, an einem Ereignis teilzunehmen, das sich ganz öffentlich in der großen Halle unseres Hildesheimer Bahnhofs abspielen sollte. Mit Musikbegleitung und Reden will man, so wurde es in der Einladung kundgetan, Gedichte verschiedener Autoren vorstellen, deren Thema jeweils den Begriff „Heimat“ aus eigener Sicht lyrisch umschreiben sollte. Als Literaturprofessor war mir das hoch sympathisch. Die Beiträge sollten dann als Ausstellungsobjekte die ganze Stadt durchziehen.

Unter den eingeladenen Autoren waren meine Frau, Susanna Piontek, Trägerin eines Lyrikpreises und nebenbei auch ich. Und genau wie es in der Einladung stand, geschah es. Das war, meine ich, ein Triumph der Humanitas, der Menschlichkeit. Als Vertreter von Fächern, die sich mit Lyrik, mit Gedichten, aber auch mit Romanen befassen, aber auch als Vertreter eines P.E.N.-Clubs möchte ich eine Lanze für diese Fächer brechen; denn sie sind mit Blick auf die Ausbildung junger Menschen nicht zu unterschätzen.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, ich habe es gewagt - vielleicht ist dieses Wort übertrieben -, mich meiner alten Heimat wieder anzunähern. Eindrücke aus meiner Kindheit steigen immer wieder in mir auf. Es war keine leichtfertige Entscheidung, aber ich hatte Beistand. Er kam aus der Bevölkerung und dem Ort, dem ich einst angehörte und der zusammen mit meiner Religion mein Leben bestimmte.

Aus meiner Abwendung wurde eine Wiederannäherung, gefördert durch die vielen Zeichen des Wohlwollens, der guten Absichten, die man mir hier bot. Man bot mir u. a. die Ehrenbürgerschaft meiner Heimatstadt an, verlieh mir den Orden, der mir bestätigte, dass ich versucht hatte, einer neuen, besseren Generation gegenüber die Hand auszustrecken, und eröffnete mir die Möglichkeit, mich im persönlichen Bereich und im sozialen Gefüge, z. B. im Sport, als geschätztes Mitglied wiedereinzureihen.

Bei mir geschieht diese Suche nach der ursprünglichen Heimat im vollen Gedenken der Erbsünde der Vergangenheit, in der meine Familie, wie Sie erwähnt haben, ermordet wurde. Heute, in dieser Gedenkwoche - und nicht nur dann - erscheinen sie mir in wachen Stunden und in der Angst meiner Träume. Aber der Mut meiner Familie dient mir als Vorbild.

Da war mein Vater. Am 31. Januar 1933 rief er meinen Bruder und mich in unsere gute Stube, wie das damals hieß. Er fand die richtigen Worte und das richtige Symbol für unsere Tage damals, für unsere Verhaltensweise schlechthin. Was sagte er? - Er sagte in ganz einfachen Worten: Hört zu! Wer auffällt, fällt rein. - Und dann brachte er ein Symbol, das mich mein ganzes Leben begleitete: Er sagte zu uns: Seid wie unsichtbare Tinte! Das heißt, eure Persönlichkeit braucht dahinter nicht zu verschwinden. Aber ihr müsst sie nicht zum Ausdruck bringen.

Ich muss sagen: Der Rat war wichtig und genau. Er half mir, aber er war auch beschwerend; denn was er verlangte, war das Zurücktreten der eigenen Persönlichkeit - nicht meiner allein, nicht meine Persönlichkeit, wenig entwickelt zu der Zeit, aber es bedeutete eine Zurücknahme der eigenen Person, erzwungen durch eine Diktatur. Meine Autobiografie - gerade vollendet - trägt den englischen Titel „Invisible Ink“. Ich sage am Ende deren Einführung: Die Tage sind vorbei.

Und da war meine Mutter, die genau zwei Jahre später auch einen ungeheuren Mut zeigen konnte und musste. Es war sozusagen das Ende einer Periode und zugleich der Anfang einer neuen im jüdischen Sinne: der Höhepunkt und Abschluss der glücklichen Jugendjahre, in denen wir - soweit ich es beobachten konnte und erinnern kann - in Hildesheim in einer, sagen wir, glücklichen Unbefangenheit der verschiedenen Körper der Kommune zusammenlebten.

Es war das betrübliche Jahr 1935. Verwandte aus allen Teilen des damaligen Deutschlands kamen nach Hildesheim und lauschten meiner erfolgreichen Thora-Rezitation in der Synagoge - sie besteht nicht mehr -, die allerdings durch meinen Stimmbruch etwas beeinträchtigt war. Da kam mein Onkel David, der als einziger Jude an die erste deutsche ökumenische, in Dortmund gelegene Grundschule berufen worden war. Ökumenisch, damals! Es kamen Tante Henni und Onkel Willi. Wegen seiner schweren Gasverletzung im Ersten Weltkrieg konnte Onkel Willi kaum noch reisen. Aber aus diesem Anlass ist er trotzdem aus Vlotho angereist, zusammen mit seinem grandseigneurhaften Bruder Max. Ich war allerdings der Held des Tages.

Aber meine Mutter trug dazu bei, dass sich mein Stolz in Grenzen hielt; denn vor der versammelten Mischpoke und meinem ehemaligen Schullehrer

rezitierte sie ein Gedicht, das meine Jugendsünden in alle Welt verkündete:

Zigarrentabak schmeckt auch aus der Pfeife, zum Waschen braucht man keine Seife.

Schwer getroffen!

(Heiterkeit)

Bedenken Sie, meine Mutter konnte sich zu solch einem lustigen Reim unter schwerer Bedrückung und seelischer Belastung aufraffen! Für die 25 angekommenen Verwandten - weitläufige und enge - fand sie jeweils einen satirischen Reim. Bedenken Sie diese Anstrengung! Diese Selbstüberwindung in der tristen Situation konnte sie meistern; denn es war meine Bar-Mizwa.

Auch mein Bruder Werner - fast fünf Jahre jünger - hatte gehofft, seine Bar-Mizwa so wie ich zu zelebrieren. Seine Träume wurden wie unsere Synagoge zu Asche.

Vor einigen Jahren sprach mich anlässlich eines Gastvortrags im Ruhrgebiet ein Arzt aus Bottrop an. Er war, so stellte es sich heraus, während der Nazijahre ein Schulkamerad meines viereinhalb Jahre jüngeren Bruders Werner. Er erzählte mir Folgendes, was ich hier wörtlich widergebe: Wir waren bis zur Quarta zusammen, Ihr Bruder und ich, damals im Josephinum in Hildesheim. Ich und einige andere Mitschüler bewunderten ihn. Gedichte konnte er vortragen wie kein anderer. Eine Schulung, die er wohl von seiner Mutter hatte. Sogar aus den recht trivialen Gedichten, die wir damals auswendig lernen mussten, konnte er etwas herausholen. Zum letzten Mal - schreibt jener Arzt - sah ich ihn am 9. November 1938. Wir hatten gerade die schlimme Nachricht gehört: Die Synagoge am Lappenberg brannte. - Ihr Bruder verkroch sich während der großen Pause in eine Ecke des Schulhofes. Er heulte. Einer unserer Lehrer ging auf ihn zu; ich folgte ihm. Der Lehrer sagte zu ihm kaum hörbar: Ich glaube, du gehst jetzt ruhig nach Hause. Es ist jetzt sowieso vorbei. - Der Lehrer sollte im furchtbarsten Sinne recht behalten.

In jenen Tagen Gedichte zu rezitieren, ihnen etwas abzugewinnen: Das ist ein Hohelied des Mutes.

Ich erwähne den letzten Schritt meiner Rückkehr zu Ihnen, zu meinen Mitbürgern, wie ich Sie heute nennen darf, und wie sich das vollzog. - Sie, Frau Dr. Andretta, haben einen gewissen Einfluss darauf genommen, glaube ich; denn die Beamten

sind dieser Tage mit Anwärtern für die deutsche Staatsbürgerschaft überfordert.

Nun schreibt der Generalkonsul aus Chicago, die Papiere der Rückerstattung seien angekommen. Ihre Überreichung, meinte er, sollte alles andere als eine bürokratische sein. Er selbst werde sie nach Detroit tragen. - Meine Gottesgemeinde entschloss sich dazu, dazu den Rahmen in Form einer Einblendung zu unserem Gottesdienst zu bieten.

Der Generalkonsul wurde herzlich begrüßt. Er trug eine mitgebrachte Jarmulke. Ein Gemeindemitglied, etwas naiv, fragte ihn, ob er Jude sei. „Nein“, sagte Generalkonsul Quelle, „aber ich trage dieses Symbol, solange deren Träger in dem Land, das ich vertrete, gefährdet sind.“ Das war ein mutiger Ausspruch und führt mich zu dem weiteren Anlass meines Hierseins.

Wir hören bei uns und bei Ihnen in Leitartikeln und Berichterstattung, auch in den anfangs erwähnten in Hildesheim verlesenen Gedichten, in Dramen und Romanen eine ernste Warnung, die auch ich hörbar verbreiten möchte. Was sagen uns diese Stimmen? - „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem [der Despot] einst kroch“, so der Exilant Bertolt Brecht. „Gott hab Gnade an dir mein Freund, mein Vaterland“, lautet etwas abgeändert der letzte Satz in Thomas Manns „Doktor Faustus“. Günter Grass zeigte uns ein Horrorkabinett in einer Stadt nur wenige Meilen von diesem Saal gelegen. Und ich selbst, mit einer viel weniger durchdringenden Stimme, sagte einem Interviewer: „Hütet unsere demokratische Form; sie ist ein zartes Gebilde.“

Ich, der alte und neue Staatsbürger Deutschlands, anerkenne die ersten Schritte, die in der Bundesrepublik unternommen wurden, den Einsatz auf föderalistischer wie bundesstaatlicher Ebene von hochqualifizierten Frauen und Männern zum Schutz gegen Diskriminierung, Hass und Antisemitismus. Auch das hiesige Parlament, wurde mir gesagt, betrachtet einen ähnlichen Gesetzesvorschlag.

In meiner zweiten Heimat Amerika hört man wieder die Mahnung von Thomas Jefferson: „Eternal vigilance is the price of democracy.“ Das gilt für beide Staaten, denen ich jetzt angehöre. Damit verbindet sich meiner Ansicht nach auch im Hinblick auf die heutige bedrohliche Situation eine große Verantwortung. Heutzutage ist es keine Seltenheit mehr, dass sich Zeitschriften in Europa und Amerika mit dem Thema des sich ausbreitenden Anti

semitismus befassen, es oft sogar zum Titel einer Ausgabe wählen. So nennt z. B. die amerikanische Zeitschrift TIME ihre Ausgabe vom 28. August 2017 „Hate in America“. Das brauche ich nicht auf Deutsch zu übersetzen. Die Chefredakteurin Nancy Gibbs selbst steuert dazu den ersten richtungsweisenden Aufsatz dieses Special Reports bei. Sie schreibt, auf Deutsch übersetzt: Dass ein Großteil dieser Auseinandersetzung auf die Vergangenheit abzielt, erscheint passend, auch wenn es bei dieser Schlacht um die Zukunft geht. - Ich habe es anders formuliert, aber sie sagt es wirklich auch entsprechend.

Ich meine, diese Generation, zu der zu sprechen ich die Ehre habe, ist nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Sie ist, wie auch ich jetzt, verantwortlich für die Zukunft, in der wir unsere großen Errungenschaften schützen müssen.

(Starker Beifall)

Sie sagt in ihrem letzten Satz, es gehe um die Zukunft. Für Amerika sieht sie Folgendes voraus: Weitere Demonstrationen werden folgen, weitere Zusammenstöße, und wenn die Anführer der Verfechter der Vorherrschaft der weißen Rasse recht behalten, wird es weitere Menschenleben kosten, bevor dieser neueste Kampf um die Seele der Nation eine Lösung findet.

Sicherlich sind diese trüben Voraussagen als eine Warnung für uns Amerikaner gedacht, aber nicht nur für uns. Ähnliche Warnungen kamen auch z. B. aus dem besorgniserregenden Roman von Philip Roth „The Plot Against America“ (Verschwörung gegen Amerika), der schon 2004 veröffentlich wurde. Entgegen allen Erwartungen kommt ein faschistischer Autokrat an die Macht und zerstört die Grundlagen der Demokratie. Allerdings ist bei Roth der Diktator einer historischen Gestalt, dem berühmten Ozeanüberflieger Charles Lindbergh, nachgezeichnet, mit allen seinen Vorurteilen gegenüber Juden und sogenannten Nicht-Ariern, mit seiner Egomanie und seiner Sympathie für HitlerDeutschland. Die Gegenwart voraussehend zeigt Roth, wie Vorurteile und Gewaltmaßnahmen nicht nur die Opfer zerstören, sondern eine ganze Nation auseinandertreiben und vergiften können.

Aber mit diesen wichtigen Warnungen allein ist es nicht getan. Wo bleibt das Positive?, wurde Erich Kästner einmal gefragt. Ich hätte darauf geantwortet: im Entwurf eines aufgeklärten Gegenbildes. Ich weiß von keinem besseren Beispiel einer Aufforderung zu gegenseitigem Verständnis und Toleranz als Lessings Drama „Nathan der Weise“. Ich fand

es besonders passend und erfreulich, dass Sie mir eine Plakette gegeben haben, ein Kunstwerk, mit dem Abbild von Lessing.

„Ein Mann wie Lessing täte uns not“, äußerte einmal Goethe. Das gilt auch heute. Im Sinne Lessings zu handeln, würde das Fünkchen Hoffnung, das Broch einst ansprach, zu einer leuchtenden Flamme anfachen. Oder praktisch ausgedrückt: Wir würden zu Vorurteilslosigkeit und Unbefangenheit meiner Jugend zurückfinden, und in diesem Geiste gehören wir alle wieder zu Niedersachsen. Ich bekenne mich dazu.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Starker, nicht enden wollender Bei- fall)

Ich danke Ihnen. Sie sind alle jung genug, meine Studenten zu sein.

(Heiterkeit)

Sehr verehrter Herr Prof. Stern, ich darf Ihnen herzlich danken für die bewegenden Worte und dafür, dass Sie uns an Ihrer Erinnerung haben teilhaben lassen. Danke auch für die mahnenden Worte. Ich darf Ihnen versichern, der Niedersächsische Landtag wird sich jeder Form von Geschichtsvergessenheit widersetzen.

(Starker Beifall)

Meine Damen und Herren, ich rufe auf den

Tagesordnungspunkt 2: Immunitätsangelegenheiten - Beschlussempfehlung des Ältestenrates - Drs. 18/3676