Protocol of the Session on December 13, 2017

Ich rufe jetzt auf den

Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderungen im Niedersächsischen Landeswahlgesetz (NLWG) und im Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetz (NKomVG) - Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 18/29

Zur Einbringung erteile ich das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Fraktionsvorsitzenden Frau Piel. Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser neuer Plenarsaal ist in baulicher Hinsicht barrierefrei. Menschen mit körperlichen Behinderungen und Einschränkungen gelangen problemlos überall hin. Die Debatten hingegen sind es hier sehr selten. Wir diskutieren häufig über sehr komplexe Themen und nutzen dafür meist lange Sätze, viele Fremdworte, Redewendungen oder auch Metaphern. Menschen mit geistigen Einschränkungen können unsere Debatten kaum verstehen. Deshalb werde ich heute in Leichter Sprache sprechen, damit mich gerade auch die Menschen, für die wir diesen Gesetzentwurf einbringen, verstehen können.

Das Wählen ist für die meisten Menschen in Deutschland selbstverständlich. Warum ist Wählen so wichtig? - Deutschland ist eine Demokratie. In einer Demokratie entscheidet nicht nur ein Mensch, sondern entscheiden immer mehrere Menschen.

Bei einer Wahl kann man Menschen wählen, die Entscheidungen treffen. Diese Menschen nennt man Abgeordnete. Sie gehören zu unterschiedlichen Parteien. Ich gehöre zu den Grünen.

Die Abgeordneten entscheiden z. B. darüber, wo Schulen, Autobahnen oder Krankenhäuser gebaut werden.

(Johanne Modder [SPD]: Wo Schulen gebaut werden?)

Sie entscheiden aber auch darüber, wie Menschen mit Behinderungen wohnen, arbeiten oder ihre Freizeit verbringen können. Sie entscheiden darüber, ob man in ein Gebäude mit einem Rollstuhl hineinkommt oder welche Unterstützung Menschen mit Behinderungen an ihren Arbeitsplätzen und im Alltag bekommen.

Deshalb ist es wichtig, dass auch Menschen mit Behinderungen Abgeordnete wählen dürfen. Denn dann können sie die Abgeordneten wählen, die die besten Entscheidungen für Menschen mit Behinderungen treffen.

Manche Menschen mit Behinderungen dürfen in Niedersachsen aber nicht wählen. Das wollen wir ändern,

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von der SPD)

und zwar aus zwei Gründen:

Erstens. Das wichtigste Gesetz in Niedersachsen ist unsere Verfassung. Das Land Niedersachsen und alle Menschen in Niedersachsen müssen sich an das halten, was in der Verfassung steht. In der Verfassung steht z. B., dass niemand, der eine Behinderung hat, benachteiligt werden darf.

Aber es gibt noch ein anderes wichtiges Gesetz in Niedersachsen: das Wahlgesetz. Im Wahlgesetz steht, dass manche Menschen mit Behinderungen nicht wählen dürfen. Ich meine, dass das ein Nachteil ist und dass das Wahlgesetz deshalb gegen unsere Verfassung verstößt. Gegen die Verfassung darf man aber nicht verstoßen.

Zweitens. Es ist ungerecht, dass manche Menschen mit Behinderungen nicht wählen dürfen, z. B. Menschen, die einen Betreuer in allen Bereichen haben. Menschen, die einen Betreuer haben, brauchen zwar Hilfe im Alltag, aber sie können sich trotzdem eine eigene Meinung bilden, wer ihre Interessen vertreten kann und soll,

(Beifall bei den GRÜNEN sowie Zu- stimmung bei der SPD und bei der FDP)

genau wie alle anderen Menschen. Deshalb sollen sie auch wählen gehen dürfen.

Wir wollen das Wahlgesetz ändern, damit alle Menschen mit Behinderungen in Niedersachsen wählen dürfen und damit sie entscheiden können, wer ihre Interessen vertritt. Dafür haben wir diesen Gesetzentwurf vorbereitet.

Andere Bundesländer, z. B. Nordrhein-Westfalen, haben ihre Wahlgesetze schon geändert. Dort können Menschen mit Behinderungen ihre Abgeordneten wählen. Dieses Recht sollen Menschen mit Behinderungen überall in Deutschland haben, nicht nur in einigen Bundesländern.

Wie geht es jetzt weiter? - Heute werden Abgeordnete von allen Parteien hier im Landtag sagen, ob sie auch wollen, dass Menschen mit Behinderungen wählen dürfen.

In den nächsten Wochen werden wir mit allen Parteien über das Gesetz diskutieren. Wir werden auch andere Leute fragen, wie sie unser Gesetz finden, z. B. die Behindertenverbände und Menschen, die sich mit Wahlgesetzen gut auskennen.

Vielleicht müssen wir das Gesetz danach etwas überarbeiten. Wenn das alles geschehen ist, sprechen wir hier im Landtag noch einmal über das Gesetz. Dann müssen sich alle Abgeordneten entscheiden, wie sie unser Gesetz finden. Wenn die meisten Abgeordneten das Gesetz gut finden, dürfen bei der nächsten Wahl in Niedersachsen alle Menschen mit Behinderungen wählen.

Damit sich alle eine Meinung bilden können, wen sie wählen sollen, müssen aber auch wir als Abgeordnete und unsere Parteien sich anstrengen. Wir müssen viel mehr Informationen so zur Verfügung stellen, dass sie verstanden werden können, z. B. in Leichter Sprache und ohne Barrieren, z. B. für Menschen, die nicht gut sehen oder hören können.

Wir müssen auch dafür sorgen, dass mehr Menschen mit Behinderungen Abgeordnete werden können. Denn es ist wichtig, dass die Interessen von Menschen mit Behinderungen bei allen Entscheidungen beachtet werden.

Ich freue mich auf die weitere Beratung dieses Gesetzentwurfs. Ich will noch ein persönliches Wort an das Ende stellen, weil es mir für die Beratung ganz wichtig ist.

Ich habe selber einen sehr guten Bekannten gehabt, der 2008 verstorben ist. Er hatte Mehrfachbehinderungen, aber eine sehr, sehr klare Einstellung dazu, was seine mögliche Mitsprache bei Politik ist. Wir haben viele Jahre miteinander darüber gesprochen, warum er zwar für die Politik arbeiten kann, aber nicht wählen darf.

Mir ist es ein ganz persönliches Anliegen, dass wir, obwohl dieser Mann schon lange verstorben ist und von dieser Beratung nichts mehr wahrnimmt und nichts mehr hat, im Hinterkopf behalten, dass

auch Menschen mit Behinderungen ihre Interessen vertreten sollen.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der FDP sowie Zustim- mung von Dirk Toepffer [CDU])

(Vizepräsidentin Meta Janssen-Kucz übernimmt den Vorsitz)

Wir haben kurz gewechselt. - Ich rufe Frau Pieper von der CDU-Fraktion auf.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, ich kann es mir ersparen, die Ausführungen, die Frau Piel in sehr beeindruckender Weise in Leichter Sprache getätigt hat, zu wiederholen. Ich möchte von daher zu dem Gesetzentwurf, der seitens der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorliegt, zusammenfassend etwas sagen.

Wahlen sollten natürlich inklusiv gestaltet werden, ohne dass dabei Menschen mit Behinderungen diskriminiert werden. Ihnen sollte neben dem Recht zu wählen auch die praktische Ausübung der Wahl ermöglicht werden. So steht es wortwörtlich in der UN-Behindertenrechtskonvention. Auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes fordert diese Wahlausübung.

Der Europarat unter Führung von Mechthild Rawert hat im März 2017 hierzu ebenfalls eine Resolution beschlossen und darin alle Mitgliedstaaten aufgerufen, die in der UN-Behindertenrechtskonvention festgelegten Menschenrechtsstandards umzusetzen. Die Resolution enthält konkrete Handlungsempfehlungen für die Mitgliedstaaten des Europarates, um die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu erhöhen.

Wichtiger Punkt ist u. a. der Aufruf, das Wahlrecht auch bei einer Betreuung zu gewährleisten. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe mehr als zehn Jahre lang eine Einrichtung für körperlich und schwer mehrfach behinderte Kinder und Erwachsene geleitet. Ich weiß, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, ihnen zu ermöglichen, von diesem Wahlrecht Gebrauch zu machen.

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Dennoch wird einem Personenkreis das Wahlrecht weiterhin vorenthalten. Es handelt sich dabei um Menschen mit Behinderungen - Frau Piel, Sie haben es schon erwähnt -, denen ein Betreuer oder eine Betreuerin für alle Angelegenheiten bestellt wurde, da sie ihren Alltag aufgrund unterschiedlicher Behinderungen nicht allein bewältigen können. Das heißt ja nicht, dass man geistig nicht in der Lage ist, seinen Alltag dementsprechend zu organisieren.

Diesen Menschen wird aber aufgrund der Betreuung in allen Angelegenheiten pauschal - das ist für mich oder für unsere Fraktion der springende Punkt - eine Einsichtsunfähigkeit zugeschrieben, mit der der Wahlrechtsausschluss gerechtfertigt wird.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert, dass dieser Wahlausschluss für Menschen mit Betreuung in allen Angelegenheiten, die sehr unterschiedlich sein können, abgeschafft wird.

Auch die Bundesländer Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen haben für die Wahlen zum Landtag den Wahlrechtsausschluss für Personen, die eine Betreuung in allen Angelegenheiten haben, abgeschafft. Auch in Thüringen soll das Verbot 2019, in Berlin 2021 abgeschafft werden.

Doch es gibt auch eine Kehrseite der Medaille. Denn gegen diese bundesrechtliche Regelung liegt seit 2014 eine Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht vor. Eigentlich sollte schon längst darüber entschieden sein, wie mit dem Wahlrechtsausschluss umgegangen werden sollte. Diese Entscheidung - ich denke, sie wird bald getroffen werden - sollten wir auf jeden Fall bei allem, was wir im Ausschuss noch mitberaten, abwarten.

Natürlich sollten wir einer Anhörung aller Betroffenen im Fachausschuss nicht ausweichen.

Auch bei diesem Thema haben sich SPD und CDU in weiser Voraussicht schon im Koalitionsvertrag vom 21. November verständigt. In dem Kapitel „Inklusion“ heißt es:

„Mit dem Ziel des Wahlrechts von Menschen mit Behinderung streben wir eine Änderung des Niedersächsischen Wahlgesetzes im Sinne des Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention an.“

Insofern ist Ihr Gesetzentwurf für uns nichts Neues.

Ich denke, wir werden gute Beratungen im Fachausschuss haben. Wir wären sehr dankbar, wenn wir auch eine Anhörung einplanen würden. Es gibt allerdings auch einige Einwände. Ich nenne da nur das Beispiel der Landeswahlleiterin, die an manchen Stellen schon Bedenken hat. Das sollten wir uns anhören, abwägen und dementsprechend entscheiden. Es wäre natürlich gut, wenn das Bundesverfassungsgericht endlich das Urteil sprechen würde. Dann hätten wir alle Rechtssicherheit. Dann könnten sich alle Bundesländer Zug um Zug diesem Wunsch anschließen.

Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Jetzt erteile ich das Wort Herrn Christopher Emden.