Protocol of the Session on September 10, 2015

In diesen Einrichtungen haben die Menschen sieben oder acht Jahre lang gewohnt. Dort wurden sogar Kinder geboren. Diese Menschen haben nie eine Kommune in Niedersachsen gesehen, außer Bramsche-Hesepe. Sie sollten in diesen Gemeinschaftsunterkünften bleiben, weil sie abgelehnte Asylbewerber waren und Sie sie von dort abschieben wollten.

Ich erinnere mich auch noch an Ihre Bekundungen zu beschleunigten Abschiebungen und an Ihre Hochglanzbroschüren mit der Aufschrift „In Würde freiwillig ausreisen“: Aber auch Sie haben viele nicht abgeschoben, eben weil es im Einzelfall Abschiebungshindernisse und Härten gab, meine Damen und Herren.

Ich muss zum Schluss kommen.

Ja, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen. Einen Satz noch, bitte!

In dem Beschluss, den Sie am Wochenende auf Ihrem Parteitag in Osnabrück, der Heimatstadt unseres Innenministers Pistorius, getroffen haben, schreiben Sie:

„Für die CDU ist die Flüchtlings- und Asylpolitik eine Frage der Menschenwürde.

Deutschland ist verpflichtet, Flüchtlingen und politisch Verfolgten Schutz zu gewähren.“

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle deutlich machen, wo der Unterschied zwischen Ihnen und uns liegt.

Das machen Sie jetzt aber in einem Satz, Frau Kollegin! Sonst muss ich Ihnen das Mikrofon abstellen.

Für uns gilt die Menschenwürde nicht nur für Verfolgte und Schutzbedürftige. Die Menschenwürde ist unantastbar, und sie gilt auch für abgelehnte Asylsuchende, für Geduldete und Menschen ohne Bleibeperspektive und -aussichten.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD - Editha Lor- berg [CDU]: Das ist doch realitätsfern, was Sie da sagen!)

Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren die Beiträge der Fraktionen. Für die Landesregierung liegt mir jetzt eine Wortmeldung von Herrn Innenminister Pistorius vor. Bitte, Herr Minister!

(Ulf Thiele [CDU]: Herr Innenminister, wie wollen Sie das wieder einsam- meln?)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige Beiträge von heute erwecken ja den Eindruck, als hätte man von der prognostizierten Zahl von 800 000 Asylbewerbern in diesem Jahr schon viel länger ausgehen müssen.

Ich will noch einmal in Erinnerung rufen: Bis zum Herbst 2014 lautete die Prognose des BAMF, dass wir im Jahre 2015 mit 200 000 Asylerstantragstellern zu rechnen hätten. Diese Prognose galt bis Weihnachten. Seit Mitte Februar liegt eine Prognose des BAMF vor, die von 250 000 Erstantragstellern ausgeht. Am 7. Mai erfolgte die nächste Prognose des BAMF. Seitdem dürfen wir von 450 000 Asylbewerbern ausgehen. Und jetzt, seit dem 20. August lautet die Prognose: 800 000.

Meine Damen und Herren, nur damit es einmal im Protokoll steht und es jeder nachlesen kann: Niemand konnte vor einem Jahr ahnen, dass wir in

diesem Jahr über 800 000 Flüchtlinge reden würden. Wir haben trotzdem angefangen, die Unterkünfte auszubauen. Dazu will ich Ihnen gerne noch etwas sagen; denn auch da nimmt die Legendenbildung offenbar überhand.

Wir haben heute mehr als 11 000 Menschen untergebracht, und so wird es auch weitergehen. Wir werden bis zum Ende des Jahres vermutlich 15 000 Menschen bei uns in winterfesten Unterkünften unterbringen können.

Ich will aber Ihre Erinnerung auffrischen - und das ausdrücklich nicht verbunden mit einem Vorwurf, dass Sie die Aufnahmestelle in Oldenburg geschlossen haben; das war zu der Zeit nachvollziehbar -:

(Ulf Thiele [CDU]: Danke!)

- So bin ich.

Im Jahr 2002 hatte Niedersachsen 3 250 Erstaufnahmeplätze. Im Jahre 2012, nach zehn Jahren Schwarz-Gelb, waren es nur noch 1 700 Plätze.

(Zuruf von Jörg Hillmer [CDU])

- Achtung, Herr Hillmer, manchmal ist Zuhören hilfreich! Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer Fraktion einen Präsentkorb für den Zwischenrufer des Monats ausloben - wenn ja, dann kriegen dieses Mal garantiert Sie ihn.

(Jörg Hillmer [CDU]: Danke schön! - Björn Thümler [CDU] und Jens Nacke [CDU]: Nicht so dünnhäutig!)

- Dünnhäutig bin ich gar nicht; mir macht es Spaß, Herr Nacke!

Jetzt werden Sie sagen, dass es in 2012 nur noch 1 700 Plätze gab, lag an sinkenden Asylbewerberzahlen. Dazu möchte ich Sie auch gerne aufklären: Von 2008 bis 2012 haben Sie nämlich weitere 650 Plätze gestrichen, obwohl die Zugangszahlen in dieser Zeit bereits um mehr als das Dreifache gestiegen waren. Sie haben nicht reagiert! Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen mache!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sie haben weiter gekürzt und gespart. Deshalb sind Sie zumindest zu einem Teil mitverantwortlich für die Situation.

Aber Schwamm drüber! Das hilft uns alles nicht mehr. Die Prognosezahlen, die ich gerade genannt habe, stellen uns alle vor eine gewaltige Herausforderung. Deswegen will ich zunächst einmal im

Namen der ganzen Landesregierung meinen Dank an alle aussprechen, die dazu beigetragen haben - gerade in den letzten Wochen -, in einer enormen Kraftanstrengung die Plätze zu schaffen, die heute vorhanden sind. Dazu gehören übrigens, Herr Nacke, nicht nur die Hilfsdienste, die ich gleich gesondert anspreche, sondern dazu gehören auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landesverwaltung und der LAB NI, die einen großartigen, bis an die Grenze der Belastbarkeit gehenden Job gemacht haben.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Mein Dank geht an die Kommunen und die Landkreise. Insbesondere will ich Bückeburg, Otterndorf und Hameln-Pyrmont nennen, die sich hervorragend und weit über das normale Maß hinaus engagieren. Mein Dank gilt den zahlreichen Helferinnen und Helfern von Polizei, Feuerwehr, Bundeswehr und den Hilfsorganisationen. Sie alle leisten großartige Unterstützung. Ohne diese Organisationen hätten wir diesen Stand an Unterkunftsplätzen bis heute nicht erreicht.

Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie uns doch bei der Flüchtlingsunterbringung bei der Wahrheit bleiben! Wer behauptet, dass man in dieser Zeit so viele angemessene Plätze schaffen kann - und ich räume ein, dass die Plätze in den Landesaufnahmeeinrichtungen zurzeit nicht angemessen sind -, der glaubt auch noch an den Weihnachtsmann.

(Zustimmung bei der SPD)

Das kriegen Sie mit keiner Kraftanstrengung dieser Welt auf die Reihe. Und wenn Sie durch Bramsche oder andere Einrichtungen gehen, dann sehen Sie dasselbe wie ich, nämlich Zustände, die ich niemandem wünsche. Und wenn ich das mit einem Fingerschnipp, mit 20 Millionen oder 200 Millionen Euro, von jetzt auf gleich abstellen könnte, dann würde ich es tun.

Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel dazu, was wir erleben, wenn es um Landesaufnahmeeinrichtungen geht. Ich möchte Ihnen einen Beitrag aus einer niedersächsischen Regionalzeitung vorlesen. Da heißt es - ich zitiere mit der Erlaubnis des Präsidenten -:

„Ich halte diese Inanspruchnahme Cuxhavens und insbesondere der Altenwalder Bürgerinnen und Bürger für falsch. Ich trete für eine auch weiterhin gerechte Verteilung im gesamten Landkreis Cuxhaven ein, wo

viele Menschen auf breiter Schulter die Flüchtlinge auch zwischenmenschlich begleiten können und wollen.“

Der gleiche Autor sagte wenige Wochen vorher:

„Altenwalde ist ein lebens- und liebenswerter Teil von Cuxhaven. Deshalb ist es Aufgabe der Politik, die gewachsenen Strukturen in diesem Ortsteil nicht infrage zu stellen.“

Enak Ferlemann, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Das sind die Stimmungen, die uns in einigen Gegenden des Landes entgegenschlagen. In anderen Gegenden haben wir Probleme mit den Eigentümern; mit denen kommen wir nicht klar. In weiteren Gegenden geht es um baurechtliche Fragestellungen.

Ich sage Ihnen: Wenn Sie glauben, dass jemand aus meinem Haus - ich eingeschlossen - nur mit einem einzigen Eigentümer einer einzigen Immobilie verhandelt und darauf wartet, ob es klappt oder nicht, bevor er mit dem zweiten, dritten oder zehnten redet, dann weiß ich nicht, wie ich Ihnen noch helfen soll. Dann haben Sie ein Administrationsverständnis von 1902.

Wir prüfen parallel Dutzende von Einrichtungen. Wir stoßen immer wieder an Grenzen, die wir nicht überwinden können. Da, wo wir sie mit Unterstützung von wem auch immer überwinden können, tun wir das. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Die Kapazitäten, die wir geschaffen haben, hätten Sie mit Ihrem Verständnis von diesem Politikfeld nicht einmal in fünf Jahren geschaffen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Editha Lorberg [CDU]: Das ist jetzt unfair!)

Ein letztes Wort zur Integration: Herr Nacke hat darauf hingewiesen, wie schwierig es früher war, in den Einrichtungen Integration zu leisten. Da hat er ja recht. Und wenn Frau Polat davon spricht, dass Flüchtlinge über Monate, zum Teil über ein ganzes Jahr, in Aufnahmeeinrichtungen untergebracht waren, ohne dass Integration gefördert oder gefordert wurde und wir dann Probleme mit diesen Gruppen in verschiedenen Lebensbereichen hatten, dann ist das richtig. Aber das gilt genauso für den Fall, in dem irgendjemand in Berlin glaubt, wir könnten Flüchtlinge so lange in den Einrichtungen lassen, bis sie tatsächlich abgeschoben werden. Das können wir theoretisch, aber das setzt voraus,

dass der Bund die Verfahren garantiert in dieser Zeit abschließt. Aber das kann er bis heute ja nicht einmal bei den normalen Verfahren leisten, meine Damen und Herren. Wie also bitte sollen wir, die wir heute schon mit den 15 000 Flüchtlingen, die wir in ein paar Monaten haben werden, nicht klarkommen, dann auch noch Zigtausende zusätzliche Plätze für diejenigen vorhalten, die gar nicht auf die Kommunen verteilt werden sollen?

Ich finde den Vorschlag charmant, aber dann sagen Sie bitte meinem Kollegen, Herrn Thomas de Maizière, dass die Verfahren dringend beschleunigt werden müssen, damit das überhaupt in die Nähe der Realisierbarkeit rücken kann.

Meine letzte Bemerkung: Während wir hier debattieren, wird draußen weiter an dem Problem gearbeitet; das kann ich Ihnen versichern. Diese Debatte ist sicherlich notwendig, und es ist für mich auch immer wieder zielführend, mit Ihnen zu diskutieren. Heute Abend darf ich mich um 20 Uhr trotzdem für eine halbe Stunde verabschieden. Denn es gibt eine Telefonschaltkonferenz mit meinen Länderkollegen und dem Bundesinnenminister. Wir suchen weiter nach Lösungen, um Flüchtlinge unterzubringen. Der bayerische Innenminister will in einer Viertelstunde mit mir sprechen, weil er ebenfalls dringend Hilfe braucht.