Protocol of the Session on February 18, 2011

eben kein Landesprogramm auflegen, obwohl das dringend notwendig wäre. In der Anhörung ist deutlich geworden, dass gerade diejenigen, die im engen Kontakt mit älteren Menschen stehen, also die Hausärzte, die Apotheker, das Pflegepersonal und die Sozialarbeiter, für diese Problematik sensibilisiert werden müssen und dass das Curriculum der Studien- bzw. Ausbildungslehrgänge erweitert werden muss. Das wäre ein Punkt, an dem das Land aktiv werden müsste.

Auch beim Thema „Aufbau regionaler Bündnisse gegen Depressionen und gegen Suizid“ schreiben Sie in Ihrem Änderungsantrag lediglich: Wir wollen den Aufbau solcher Bündnisse begleiten. - Sie sagen eben nicht, dass Sie ihn aktiv unterstützen wollen. Das ist ein großer Fehler.

Sicherlich ist der Antrag besser als nichts - keine Frage -, aber es ist - das hat Herr Humke bereits angedeutet - schlechter parlamentarischer Stil, einem guten Antrag der Opposition nie auch einmal zustimmen zu können.

(Zustimmung bei der SPD)

Immer werden Änderungsanträge vorgelegt. Man muss einfach feststellen: Zumindest in dieser Wahlperiode waren die Plagiate immer deutlich schlechter als das Original.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Eine Kurzintervention durch Herrn Kollegen Schwarz von der SPD-Fraktion!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Staudte, ich will nur wissen, ob Sie meine Auffassung teilen, dass angesichts der Beratung über ein Thema, bei dem es um tausendfache Selbsttötung geht, sowohl die Geräuschkulisse in der Debatte als auch die mangelnde Präsenz im Plenum unerträglich sind.

(Heinz Rolfes [CDU]: Wo sind denn die SPD-Leute? - Gegenruf von Uwe Schwarz [SPD]: Ja, das gilt für alle!)

Frau Staudte, Sie möchten für die Fraktion Stellung nehmen. Bitte!

Herr Schwarz, da kann ich Ihnen voll und ganz zustimmen. Man sieht auf der Ministerbank gerade einmal zwei Personen sitzen. Das ist ein Armutszeugnis. Ich hätte mir hier wirklich mehr Engagement auch vonseiten der Landesregierung gewünscht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich erteile jetzt der Kollegin Prüssner von der CDUFraktion das Wort.

(Heinz Rolfes [CDU] - zur SPD -: Ihre eigene Fraktion ist nicht zur Hälfte da! - Gegenruf von Petra Tiemann [SPD]: Das streiten wir auch nicht ab, Herr Rolfes! - Unruhe)

- Ich bitte, die Gespräche in den Fraktionen einzustellen, auch interfraktionell, damit Frau Kollegin Prüssner Gehör findet. - Bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich an die erste Lesung vor fast genau einem Jahr zum Thema „Suizid im Alter“ denke, sind mir noch zwei Aspekte in Erinnerung geblieben, die auch heute bei diesem Thema sicherlich sehr nachdrücklich bleiben werden.

Erstens war es die Überraschung, mit der wir die Wucht dieses Themas zur Kenntnis genommen haben, aber auch ein Erschrecken sowohl über die Dimensionen als auch über die eventuell - das hat die Anhörung gezeigt - zunehmende Tendenz der Suizide bei Menschen über 65 Jahren.

Zweitens war es die Diskrepanz zwischen dem einsamen, verzweifelten, sterbenden älteren Menschen und der Hilflosigkeit und Fassungslosigkeit der Hinterbliebenen. Suizid, besonders Alterssuizid - das hat die beeindruckende Anhörung zu diesem Thema auch gezeigt -, ist in gleicher Weise von einer Tabuzone umgeben - Frau Staudte sagte das eben schon - wie das Thema Depressionen. Depressive Zustände sind sicherlich die wichtigsten Ursachen dafür, dass Menschen aus dem Leben scheiden wollen. Hier habe ich ganz bewusst das Wort „freiwillig“ weggelassen. Depressionen lassen sich zwar heute wirksam behandeln, werden aber häufig - das wissen wir - übersehen oder nicht ernst genommen.

In der Anhörung haben wir gehört, dass sich in Niedersachsen bisher zwei Bündnisse gegen De

pressionen gut etabliert haben: zum einen in Ostfriesland und zum anderen hier in der Region Hannover. Ziel dieser Bündnisse ist es, Aufklärungsarbeit zu leisten und vor allem Vernetzung herzustellen, also Vernetzung von Einrichtungen in allen gesellschaftlichen Bereichen multiprofessioneller Qualität, die auf diesem Sektor ihre Dienste anbieten.

Diese Arbeit im Bündnis versteht sich, wie wir in der Anhörung gelernt haben, als aufsuchende Arbeit. Sie gehen also hin in die Institutionen und nehmen Kontakt auf zu den hilfesuchenden, verzweifelten Menschen. Das ist eine vorbildliche Arbeit - und das im wahrsten Sinne des Wortes.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Dass wir zum Thema „Suizid im Alter“ etwas unternehmen müssen, darüber waren wir alle uns im Ausschuss einig. Wir haben allerdings, Frau Staudte, um auf die vorliegende Drucksache einzugehen, im Gegensatz zum Antrag der SPDFraktion zuerst einmal aus der Antragsüberschrift die Formulierung „Landesprogramm auflegen“, also die Forderung nach mehr Staat, gestrichen.

(Miriam Staudte [GRÜNE]: „Nach mehr Hilfe“ gestrichen!)

Stattdessen haben wir für die Entschließung Worte gewählt, die wir für richtig und angemessen halten, nämlich „beraten“, „aufklären“, „Kompetenzen stärken“. Wir sind bei diesen Vorschlägen unseres Antrages dem Verständnis von sozialer Verantwortung gefolgt und haben uns nicht zu Eingriffen in bestehende Systeme entschieden. Stattdessen sind wir dafür, vorhandene Kompetenzen zu stärken und diejenigen zu unterstützen, die sich sowieso schon professionell mit dem Thema Suizid im Alter auseinandersetzen.

(Petra Tiemann [SPD]: Das reicht eben nicht!)

Wir wollen darüber hinaus, dass Informationen über Altersdepressionen und Alterssuizid in der Aus- und Weiterbildung von Ärzten, Psychiatern und Psychotherapeuten, Pflegekräften und medizinischem Fachpersonal noch stärker verankert werden oder - wie es Herr Professor Dr. Künemund der Universität Vechta in der Anhörung formuliert hat - eine Gerontologisierung der sozialen Arbeit anstreben. Das heißt, dass man spezifische Probleme älterer Menschen mehr in die Praxis der sozialen Arbeit, aber auch der niedergelassenen Ärzte hineinbringt. Dies ist im Sinne einer Prävention sicherlich sehr sinnvoll.

Wir fühlen uns dazu verpflichtet, umfassende Aufklärung und Information zu diesem Themenkomplex nachhaltig zu gewährleisten. Dazu gehören auch Veröffentlichungen von sogenanntem Best Practice, also Erfahrungen anderer aufzuzeigen, die schon gute Arbeiten auf diesem Gebiet leisten und so auch Vorbild sein können.

(Norbert Böhlke [CDU]: Sehr richtig!)

Ich sprach eben von Nachhaltigkeit; denn wir brauchen hierbei Verlässlichkeit von Dauer und keine kurzfristigen Strohfeuer.

(Zustimmung bei der CDU)

Unsere demografische Entwicklung lässt nicht hoffen - das wissen wir -, dass wir bei allen mit dem Altern der Bevölkerung zusammenhängenden Prozessen eventuell mit Entspannung rechnen können, sicherlich nicht hier auf diesem Gebiet.

Trotz aller Aufklärung durch Medien und Medizin oder Ausbau von Prävention und Netzwerken ist der alternde Mensch aber auch selbst gefragt. Er muss vorsorgen und Vorsorge für das Leben im Alter treffen, soziale Kontakte aufbauen, Aufgaben, vielleicht auch im Ehrenamt übernehmen und medizinische Vorkehrungen treffen, Stichwort „Patientenverfügung“.

Natürlich sind neben all diesen erwähnten Schritten aufmerksame Angehörige, die Familie und Freunde noch wichtiger, als alle Hilfen von außen sein können. Ein soziales und liebevolles Miteinander - das hat die Anhörung gezeigt; die Kirchen haben hier auch gesprochen - ist sicherlich die beste Suizidprävention.

Vielen Dank.

(Starker Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Für eine Kurzintervention erhält Herr Professor Dr. Dr. Zielke das Wort. Bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alles, was bisher zu diesem Tagesordnungspunkt gesagt worden ist, ist richtig. Ich finde aber, etwas zu kurz kommt dabei das, was bei Ihnen eben unter dem Weglassen des Wortes „freiwillig“ angeklungen ist.

Ich halte es für falsch und ich halte es von Ihnen auch nicht für richtig, darüber nicht zu reden. Ich halte es für falsch, den Suizid bei älteren Men

schen automatisch in die Ecke „krank“ zu stellen. Damit wird man dem Menschenbild, das wir haben, des freien Menschen, der frei entscheidet, nicht ganz gerecht, nicht in allen Fällen. Auch das sollten wir nicht vergessen.

Danke.

(Beifall bei der FDP sowie Zustim- mung von Wilhelm Heidemann [CDU] und Hans-Henning Adler [LINKE])

Möchte die CDU-Fraktion dazu Stellung nehmen?

(Zuruf von der CDU: Nein!)

- Gut. - Dann erteile ich jetzt dem Kollegen Schwarz von der SPD-Fraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 2009 haben sich in Deutschland 9 571 Menschen selbst getötet. 3 359 von ihnen, also 35 %, waren älter als 65 Jahre, drei Viertel davon waren männlich.

Schon über die tatsächliche Anzahl der jährlichen Suizide gibt es unter Wissenschaftlern erhebliche Differenzen. Die Zahlen schwanken zwischen 10 000 und 16 000 Todesfällen und 80 000 bis 160 000 Suizidversuchen in Deutschland jährlich. Die große Spannbreite erklärt sich aus der Tatsache, dass nicht jeder Suizid als solcher erkannt wird bzw. mit Rücksicht auf die Angehörigen nicht immer als Suizid dokumentiert wird.

Nach intensiver Vorarbeit der SPD-Fraktion wurde das Thema mit unserem Antrag vom 21. Januar 2010 erstmals überhaupt in einem Landesparlament thematisiert und - von einer Ausnahme abgesehen - auch sehr sachlich und angemessen beraten.

Alterssuizid ist neben Altersdiskriminierung und Altersarmut noch eines der großen Tabuthemen von und um ältere Menschen. Suizidale Handlungen stehen meistens in engem Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen. Etwa jeder vierte Mensch über 65 Jahren leidet an einer psychischen Erkrankung bzw. an einer Depression.

Dafür führt die Wissenschaft u. a. folgende Gründe an: Furcht vor schwerer Krankheit und Verlust von Eigenständigkeit und Mobilität, Angst vor dem Nicht-mehr-gebraucht-Werden, Angst, anderen zur Last zu fallen und von ihnen abhängig zu werden, der Verlust des Partners. Isolation und Einsamkeit sind bei alten Menschen, vor allem Männern, häu

fig Auslöser für einen Suizid. Wir müssen daher dringend weg von der Tabuisierung und für eine Enttabuisierung dieses Themas sorgen. Nur ein verändertes gesellschaftliches Bewusstsein eröffnet überhaupt die Möglichkeit, Wege zu besserer Prävention und Versorgung suizidgefährdeter Menschen zu beschreiten.