Ich eröffne die Beratung. Für die beantragende Fraktion hat sich Herr Kollege Tonne zu Wort gemeldet. Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die größte Ungerechtigkeit ist die vorgespielte Gerechtigkeit.
Jeder, der schon einmal in einem Gefängnis gewesen ist - ich unterstelle, in dieser Runde regelmäßig als Gast -, der weiß, dass es sich dabei nicht um einen Ort handelt, an dem man gerne verweilt. Das ist auch verständlich. Die Inhaftierten haben in der Regel eine Straftat begangen und ihre - im wahrsten Sinne des Wortes - Strafe erhalten.
Wie allerdings gehen wir mit Menschen um, die zu Unrecht inhaftiert waren; Menschen, die oftmals durch ihren Gefängnisaufenthalt erhebliche Nachteile in ihrem beruflichen und persönlichen Umfeld hinnehmen mussten - bis hin zum Arbeitsplatzverlust oder der Beschädigung des familiären Umfeldes?
In Deutschland existiert hierfür ein Gesetz zur Entschädigung von Justizopfern. Die Höhe der Entschädigung, wenn der entstandene Schaden kein Vermögensschaden ist, ist seit vielen Jahrzehnten umstritten und nur schleppend angepasst worden. In den Jahren 2008 und 2009 beschäftigte sich die
Justizministerkonferenz jüngst mit diesem Thema und einigte sich letztlich auf eine Erhöhung der Entschädigung auf 25 Euro pro Tag.
Meine Damen und Herren, die tägliche Freiheit eines Menschen ist, wie sich gezeigt hat, insbesondere den CDU-Justizministern 25 Euro wert. Der Tagessatz für entgangene Urlaubsgenüsse hingegen liegt bei 72 Euro. In anderen europäischen Ländern zahlt man Summen, die fast um das Zehnfache höher liegen, wie beispielsweise in Frankreich oder Spanien. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte belegt Verstöße gegen Artikel 5 - Recht auf Sicherheit und Freiheit - der EMRK mit einem Tagessatz von mindestens 50 Euro. Selbst die Zivilgerichtsbarkeit in Deutschland erlässt Urteile mit Entschädigungen, bei denen die Tagessätze zwischen 50 und 350 Euro liegen.
Wenn aber deutsche Richter die Freiheit entziehen, und dies monate- oder sogar jahrelang, soll diese Freiheit weniger wert sein? Die genannten Summen belegen - auch wenn die Entschädigung gemäß der Entscheidung der Justizminister im Vergleich zu früher erhöht wurde -, dass die Haftentschädigungshöhe nach wie vor nicht richtig einnivelliert ist.
Wer jetzt tatsächlich noch glaubt, man hätte bei der Justizministerkonferenz über den großen Wurf diskutiert, über eine gerechte Entschädigung, der irrt sich gewaltig. Es gab Bundesländer, die inhaltlich nahe an dem von uns vorgelegten Vorschlag lagen. Dass es jedoch nicht gelang, über 25 Euro Haftentschädigung pro Tag hinauszukommen, lag an einem Justizminister, einem Justizminister, dem eigentlich an Werten wie Recht und Gerechtigkeit gelegen sein müsste. Stattdessen musste man aus der Zeitung erfahren, dass „der Bremser“ auf diesem Weg zu einem gerechteren Satz aus Niedersachsen kam.
(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN - Ulf Thiele [CDU]: Heuchelei? Gibt das keinen Ordnungsruf?)
Meine Damen und Herren, wir fordern im Grundsatz die Verankerung einer angemessenen Entschädigung. Die Höhe soll im Wesentlichen von den Gerichten bestimmt werden. Nur auf diesem Weg erreichen wir, dass gesellschaftliche Veränderungen im Hinblick auf eine gerechte Höhe flexibel ausgeurteilt werden können.
Herr Justizminister Busemann, Ihre Vorstellung von einer gerechten Haftentschädigung orientiert sich nicht an der Wiedererlangung von Würde und Achtung, nicht an Recht und Billigkeit. Ihre Vorstellung orientiert sich ausschließlich und einzig an dem Ziel: Hauptsache billig! - Herr Busemann, Ihre zahlreichen Äußerungen gegenüber den Medien machen deutlich, dass Ihnen darüber hinaus offensichtlich der Respekt für Opfer staatlicher Unrechtsentscheidungen fehlt.
Kritik an der mageren Erhöhung und der fehlenden gerechten Ausgestaltung der Entschädigungshöhe wurde beispielsweise gegenüber der FAZ vom 16. November 2008 vom Justizminister wie folgt kommentiert: „unbefriedigende Situationen sind dem Recht immanent.“ Das gipfelte in der folgenden Aussage in der Sendung Ratgeber Recht vom 4. April 2009:
„Nun mag einer sicherlich sagen: Ich habe mich hier absolut nicht wohlgefühlt auf den Matratzen der JVA, und das Essen hat mir auch nicht geschmeckt. De facto hat er aber in irgendeiner Form eine Nutzung und, was Essen und Verpflegung angeht, auch einen Nutzungsvorteil gehabt“,
Herr Minister, wer sich eine neue Matratze zur Übernachtung in der JVA Hannover liefern lässt, der sollte ganz vorsichtig mit solchen Sätzen sein. Er offenbart damit nämlich, dass er keine Ahnung von der Wirklichkeit hat. Das ist keine Entschädigung von Justizopfern, das ist eine Verhöhnung von Justizopfern.
Ich sage es Ihnen in aller Deutlichkeit: Unser Antrag soll einen Grundverständniswandel zum staatlichen Entschädigungsverhalten herbeiführen. Im Rechtsausschuss haben wir eine sehr sachliche Debatte geführt. Zur Versachlichung der Debatte trug auch der umfangreiche und detaillierte Beitrag der Initiative Haftentschädigung bei, für den ich mich an dieser Stelle noch einmal recht herzlich bedanke.
Ich war schon erstaunt, dass die Debatte inhaltlich gar nicht so strittig war. Im Wesentlichen haben sich die Regierungsfraktionen auf den Standpunkt zurückgezogen, dass sie im Bundesrat keine Mehrheit für eine weitere Veränderung sehen. Das empfinde ich schon als kurios: Erst ein Minister, der eine weitere Erhöhung verhindert, und dann wird hier vor Ort gesagt: Eine weitere Veränderung kriegen wir nicht durch. - Das ist doch wirklich die große Kunst der hohen Politik, wie hier argumentiert wird. Ich empfehle Ihnen: Versuchen Sie es einfach, und stimmen Sie unserem Antrag zu!
Auch das Argument, die SPD habe auf Bundesebene zugestimmt, ist immer nur ein halbes gewesen. Denn wir haben bei allen Debatten sehr deutlich gesagt, dass dies nur ein erster Schritt ist, dass wir an die Frage der Entschädigung wieder heranmüssen und die Entschädigung in Kürze erneut erhöhen müssen. Wir haben von einem Zwischenschritt gesprochen.
Unter dem Strich bleibt Folgendes: Auf dem Weg zu einer gerechten Ausgestaltung der Haftentschädigung sind Sie auf der Hälfte stehen geblieben, weil insbesondere Justizminister Busemann der Mut und Wille zu mehr fehlte. Das ist nicht akzeptabel. Machen Sie einen richtigen Schritt, stimmen Sie unserem Antrag zu! Das würde verdeutlichen, dass Ihnen Gerechtigkeit gegenüber unschuldig Inhaftierten etwas wert ist.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Tonne, ich bin enttäuscht. Ich habe Sie im Unterausschuss „Justizvollzug und Straffälligenhilfe“ bisher als jemanden kennengelernt, mit dem man sachlich zusammenarbeiten kann.
Wir haben uns einvernehmlich mit den Problemen befasst und gemeinsam nach Lösungen gesucht. Ich bin wie meine Kollegen enttäuscht über so viel Polemik und Unsachlichkeit und auch falsche Informationen, die Sie hereinbringen. Das ist nicht akzeptabel! Das lasse ich so nicht stehen!
Ich gebe Ihnen aber recht: Der Entzug der Freiheit ist der schwerwiegendste Eingriff in die Grundrechte eines Menschen. Besonders schwer wiegt der Freiheitsentzug, wenn sich im Laufe des Strafverfahrens herausstellt, dass der Inhaftierte unschuldig ist. Jeder ungerechtfertigte Hafttag ist für Betroffene mit weitreichenden Folgen für das soziale Ansehen und das seelische Gleichgewicht verbunden. Darüber herrscht bei uns Einigkeit.
Mit der Haftentschädigung soll ein Beitrag geleistet werden, den immateriellen Schaden anzuerkennen - ähnlich einem Schmerzensgeld. Im Sommer 2009 wurde nach ausführlichen Beratungen der Justizministerkonferenz unter dem Vorsitz von Herrn Minister Busemann, der diese Beratungen zielführend vorangetrieben hat, der seit 21 Jahren unveränderte Entschädigungssatz von 11 Euro auf 25 Euro angehoben und damit mehr als verdoppelt. Die Anpassung war dringend erforderlich, um den Genugtuungs- und Anerkennungsgedanken wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken.
Dem Beschluss stimmten mit Ausnahme des Landes Berlin alle Bundesländer zu. Anschließend verabschiedete der Bundestag das Gesetz. Mit der Verdoppelung der Pauschale wurde ein wichtiges Zeichen gesetzt, ohne die Länderhaushalte, die die Haftentschädigung letztendlich finanzieren, übermäßig zu belasten.
Ich betone, dass die pauschale Haftentschädigung genau aus diesem Grund unabhängig vom materiellen Vermögensschaden für jeden unschuldig erlittenen Hafttag gezahlt wird. Vermögensnachteile wie Verdienstausfall, Umzugskosten oder Sachschäden werden dagegen individuell in vollem Umfang ausgeglichen.
Das System der pauschalierten Entschädigung für immaterielle Nachteile und des voll zu ersetzenden Vermögensschadens hat sich bewährt. Ohne die persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, wird die Entschädigung pauschal an alle Beschuldigten ausgezahlt. Das verhindert die Ungleichbehandlung von vermögenden und nicht vermögenden Justizopfern. Wenn es um einen immateriellen Schaden, nicht um einen Vermögensschaden geht, ist jeder gleichwertig.
Das Land Niedersachsen wandte bisher für Haftentschädigungen jährlich zwischen 50 000 und 60 000 Euro auf. Das ist ein Zeichen für die hohe Professionalität und Qualität der Arbeit der niedersächsischen Justizbehörden. Die Erhöhung der Pauschale auf 25 Euro ist eine deutliche und vertretbare Lösung. Sie soll auch nicht wieder 21 Jahre Bestand haben. Die damalige Bundesregierung, vertreten durch die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries - von der SPD, wie wir alle wissen -, kommentierte den Gesetzentwurf wie folgt: „Die Bundesregierung teilt die Auffassung, dass die vom Bundesrat vorgeschlagene Erhöhung rechtsstaatlich als auch haushalterisch gut vertretbar ist.“