Protocol of the Session on May 9, 2008

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es gut, dass Sie, Herr Kollege Focke, zukünftig in der Sozialpolitik arbeiten und als Vorbereitung meine Parlamentsreden lesen.

(Björn Thümler [CDU]: Das kann nicht schaden!)

- Ich meine, dass das in der Tat nicht schaden kann. - Wenn Sie sie zweimal gelesen hätten, dann hätten Sie einen Teil dessen, was Sie hier behauptet haben, von vornherein besser gewusst.

Ich will Ihnen etwas zur Ausgangslage sagen, weil ich finde, dass Sie sie hier exakt beschrieben haben, nur das Ergebnis nicht. Wir haben hier wiederholt darüber debattiert, dass nach Feststellungen von UNICEF und im Übrigen auch des Bundesjugendministeriums zwischenzeitlich wöchentlich zwei bis drei Kinder in Deutschland an den Folgen von Misshandlung und Gewaltanwendung versterben. Die Namensliste der Betroffenen - Kevin, Jessica, Mehmet und wie die Kinder alle heißen -, die wirklich unfassbare Kinderschicksale haben erleben müssen, über Verwahrlosung, Misshandlung bis hin zum Kindesmord, wird wöchentlich neu ergänzt. Ich habe aufgrund der Ereignisse der letzten Tage übrigens den Eindruck, dass die Misshandlungsformen und auch die Fundorte immer perverser werden. In dieser Woche drei Kinder in der Kühltruhe! - Insofern ist eigentlich klar, dass wir dringend Handlungsbedarf haben, dass auf allen staatlichen Ebenen dringend gehandelt werden muss, dass die Ursachen dafür hinlänglich bekannt sind - sie sind in vielen Forschungsergebnissen herausgearbeitet worden - und dass auch die Lösungsmöglichkeiten, die man auf unterschiedlichen Ebenen umsetzen kann, hinlänglich bekannt sind.

Wir wissen, dass wir es mit einer dramatischen Zunahme von mangelnder Erziehungskompetenz zu tun haben, wir wissen, dass wir es mit Hilflosigkeit und Ratlosigkeit völlig überforderter Eltern oder alleinerziehender Mütter oder Väter zu tun haben, und wir wissen, dass das über alle Bildungsschichten hinweggeht.

Meine Damen und Herren, das, was wir brauchen, wissen wir auch - das haben Sie auch gesagt -: Das ist ein Bündel von Maßnahmen im Bereich der aufsuchenden Familienhilfe, möglichst mit Beginn der Schwangerschaft; wir brauchen verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen. Ich betone: verpflichtende. Da bin ich übrigens ganz nah bei Herrn Beckstein. Vielleicht sollten Sie sich einmal mit dem auseinandersetzen, hören, warum der an dieser Stelle zur gleichen Position kommt.

Wir sind für Beratungsangebote, wir sind für Familienzentren.

Insofern liegen die Lösungsmöglichkeiten auf dem Tisch. Das Problem ist nur ein anderes: Das Problem ist, dass wir als SPD-Fraktion in der vergangenen Legislaturperiode über 100 parlamentarische Initiativen zur Verbesserung des Kinderschutzes unternommen haben. Und wissen Sie, was Sie gemacht haben? - Sie haben 100 dieser parlamentarischen Initiativen ausgesessen oder abgelehnt. Sie haben nichts gemacht, aber auch gar nichts, meine Damen und Herren.

(Starker Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Ihre Aktivitäten haben sich fünf Jahre darauf beschränkt, Vorwörter in Broschüren zu schreiben, sich mit fremden Federn zu schmücken und immer neue, unverbindliche Erklärungen abzugeben. Wenn Ihnen gar nichts mehr eingefallen ist, dann haben Sie die Zuständigkeit auf die Kommunen geschoben.

Meine Damen und Herren, Sie waren fünf Jahre Weltmeister in Erklärungen, aber Sie waren auch fünf Jahre eine totale Versagernummer, wenn es in diesem Land um Kinderschutz ging.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei der LINKEN - Zurufe von der CDU)

Frau Mundlos, ich kann Ihnen ja mal ein paar Beispiele nennen; wir haben sie ja gerade in der letzten Sitzung des Sozialausschusses im Beisein der Ministerin diskutiert.

(Vizepräsidentin Astrid Vockert übernimmt den Vorsitz)

Da beantragt die SPD im Jahre 2006 ein landesweites Kindernotruftelefon - solange wir keine bundesweite Nummer haben oder eine europäische, wie sie gegenwärtig angestrebt wird. Sie haben diesen Antrag hier abgelehnt; später haben Sie ihn übernommen und dafür im Haushalt 2007 - im Dezember 2006 verabschiedet - 60 000 Euro zur Verfügung gestellt. So weit, so gut. Wir haben das hier im Parlament begrüßt.

Eineinhalb Jahre später erklärt uns die Ministerin im Ausschuss - vor 14 Tagen -: April, April, es gibt kein landesweites Kindernotruftelefon. - Dieses Geld hat diese Landesregierung für eine Imagekampagne genommen, meine Damen und Herren, für eine Öffentlichkeitskampagne für ein Telefon. Ich finde das wirklich desaströs und ungeheuerlich.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Sie stellen sich hier hin und erklären auch heute wieder: Es gibt verbindliche Kindervorsorgeuntersuchungen. - Wir können uns ja darüber streiten, ob verpflichtende oder verbindliche besser sind. Aber ich sage Ihnen einmal Folgendes: 2006 Kinderschutzkonferenz - es werden verbindliche Vorsorgeuntersuchungen angekündigt. 2007 Kinderschutzkonferenz - es wird durch die Ministerin erneut ein verbindliches Einladungswesen angekündigt. Das Gleiche macht die Ministerin im November 2007 und im Dezember 2007. Heute, zweieinhalb Jahre später, beantragen Sie - ich zitiere -, der Landtag solle die Absicht der Landesregierung begrüßen, ein verbindliches Einladungswesen einzuführen, und die Landesregierung bitten, doch alsbald einen Gesetzentwurf vorzulegen.

Wissen Sie, ich glaube, mich tritt ein Pferd.

(Zurufe von der SPD)

Das kann doch wohl nicht wahr sein! Zweieinhalb Jahre ist diese Landesregierung dabei und erklärt, wir machen ein verbindliches Einladungswesen, und zweieinhalb Jahre später kommen Sie und müssen die Landesregierung bitten.

Ich habe erwartet, dass heute endlich mal ein Gesetzentwurf auf dem Tisch liegt. Dann würde ich Ihnen Glaubwürdigkeit unterstellen. Aber Sie sitzen das Thema weiter aus, meine Damen und Herren. Das ist doch unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt etliche andere Beispiele. Die Kollegin hat die Familienhebammen angesprochen. Sie werden überhaupt nicht müde, darauf hinzuweisen, wie wichtig Familienhebammen sind. Jawohl, sie sind es. Es war eine weitreichende und vorausschauende Entscheidung von Frau Trauernicht im Jahre 2001, Familienhebammen einzuführen. Sie sind das einzig wirkungsvolle Instrument, um junge Mütter, junge Eltern zu erreichen. Wir brauchen die Familienhebammen flächendeckend. Das wissen wir.

Und was machen Sie? - Sie ziehen sich komplett aus der politischen Verantwortung heraus, geben lächerliche 70 000 Euro für diese Maßnahme, und die Entscheidung, ob es ansonsten Familienhebammen vor Ort gibt, ob es Hilfeangebote gibt, schieben Sie alles in die Verantwortung der Kommunen nach dortiger Kassenlage. Auch das ist unverantwortlich, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Sie planen die gleiche Nummer - wie wir von der Ministerin gehört haben - mit Erziehungslotsen. Ich halte die Erziehungslotsen für ein wichtiges Instrument nach all dem, was wir in Finnland gemeinsam gehört haben. Aber auch da sagt die Ministerin: Dafür sind die örtlichen Jugendämter zuständig, und wir regeln das so, dass da Konnexität überhaupt nicht zum Tragen kommen kann.

Die örtlichen Jugendämter sind heute schon bis zur Oberkante voll, und dann kommen Sie und sagen: Regelt mal den Kinderschutz, ich als Land mache die Presse, und ihr bezahlt.

Meine Damen und Herren, ich finde, das, was Sie da machen, ist unredlich und im Interesse des Personenkreises auch in hohem Maße unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie sich einmal die Beschlusslage der Konferenzen der Jugendminister dazu angucken, wie man Kinderschutz gewährleisten soll, dann sehen Sie Folgendes: Mai 2005, Mai 2006 wurde dort - immer mit den Stimmen Niedersachsens - beschlossen: erstens eine Aktivierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes - des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Herr Kollege! - mit der Steigerung der Angebote in der aufsuchenden Vorsorge für Kinder, zweitens Konzepte einer flächendeckenden Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst.

Das ist genau das, was wir fordern. Ihre Ministerin hat da zugestimmt, aber Sie machen es nicht. Wenn Sie die eigenen Beschlüsse nicht ernst nehmen, dann fahren Sie doch nicht dorthin, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD)

Ich will Ihnen noch einen letzten Punkt zu der Frage „Kinderrechte in der Verfassung“ sagen. Darüber streiten wir seit Januar 2007. Sie, Herr Kollege Focke, haben gerade gesagt, Sie wollten keine Symbolpolitik. Genau das wollen wir auch nicht. Wir wollen keine Symbolpolitik über Kinderrechte in der Landesverfassung. Wir wollen eine Landesverfassung, in der individuelle Rechte für Kinder festgeschrieben werden, in der Kindeswohl vor Elternrecht geht, und wir werden niemals eine Verfassungsänderung akzeptieren, in der Sie Kinderrechte mit Tierschutz gleichstellen. Uns sind Kinder deutlich mehr wert, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Herzlichen Dank, Herr Schwarz. - Zu einer Kurzintervention hat Frau Kollegin Meißner von der FDPFraktion das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Schwarz, zu den Kinderrechten Folgendes: Wir hätten Kinderrechte in der Verfassung, wenn sich die SPD hätte bewegen können. Die Grünen waren bereit, mit uns einen Kompromiss zu finden. Bei Ihnen war das nicht der Fall.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)

Außerdem: In der Anhörung im Sozialausschuss wurde doch deutlich, dass ein Staatsziel in der Praxis eine durchaus weiter reichende Wirkung haben kann als substanzielle Kinderrechte. Das Entscheidende ist doch, wie man den Kindern am besten helfen kann.

Zweitens. Das Kindernotruftelefon hatten wir beschlossen; das ist richtig. Sie wissen auch - das wurde im Ausschuss berichtet -, dass die Umsetzung an technischen Gründen gescheitert ist. Um trotzdem in diesem Sinne aktiv zu werden, hat die Ministerin das Geld in die Hand genommen, um den Menschen mit Beratungsangeboten zu helfen. Mit der entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit wurde darauf hingewiesen.

Drittens. Familienhebammen sind nicht das Einzige. Es gibt auch andere sehr gute Projekte, z. B. das Projekt PiAF für aufsuchende Sozialarbeit mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst in Alfeld im Landkreis Hildesheim.

Viertens. Den Betrag für den Kinder- und Jugendschutz haben wir von 2003 bis 2007 um 70 % gesteigert, nämlich von 1,376 Millionen Euro auf 2,33 Millionen Euro.

Ich glaube, das alles spricht für sich. Die Landesregierung war nicht untätig.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Danke schön, Frau Meißner. - Herr Kollege Schwarz, Sie möchten antworten. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Meißner, als Vorsitzende des Sozialausschusses wissen Sie - dieses Amt nehmen Sie, wie ich finde, hervorragend wahr -

(Beifall bei der FDP)

- das darf man doch auch einmal sagen! -, dass in der Anhörung, die es dort gegeben hat, alle Fachleute unisono erklärt haben, warum eine Verankerung von Kinderrechten als Staatszielbestimmung in der Verfassung überhaupt nichts bringt. Bitte seien Sie einmal so freundlich, und vermitteln Sie mit Ihrem Wissensstand Ihren eigenen Kollegen das, was Sie dort erfahren haben. Dann kommen wir in Sachen Kinderrechte viel schneller weiter, als Sie es eben dargestellt haben.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich will noch eine zweite Anmerkung machen. Die Behauptung, die Sie hier getätigt haben, wir hätten uns sozusagen einer Einigung verweigert, ist in der letzten Legislaturperiode auch schon aufgestellt worden; das steht auch im Protokoll. In Wahrheit war es aber ganz anders: Es hat ein interfraktionelles Gespräch stattgefunden. Herr Nacke hat für die CDU-Fraktion - ich weiß nicht, ob auch für die Koalition - die Aufgabe übernommen, einen Kompromissvorschlag auf den Tisch zu legen. Diesen Kompromissvorschlag gibt es bis heute nicht, weil die rechte Seite des Hauses - Sie vielleicht nicht - mit dem Thema Landtagswahlkampf betrieben und sich deshalb jeder Entscheidung verweigert hat. Und das, was Sie bisher eingebracht haben, deu

tet darauf hin, dass Sie auch so weitermachen, meine Damen und Herren.