Protocol of the Session on February 19, 2010

(Beifall bei der LINKEN)

Außerdem kann ein solcher Bericht besondere Bereiche und Facetten des Sozialgefüges aufzeigen, die anderweitig nicht genügend berücksichtigt würden bzw. auch nicht auf diese Art und Weise erkannt werden könnten.

Es waren übrigens europäische Gremien, die bereits Ende der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts die Notwendigkeit der Armutsbeobachtung und der Armutsforschung in die Diskussion gebracht hatten. Es ging und geht um die Idee der Präventionsarbeit gegen gesellschaftliche Spaltungsprozesse. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Blick nicht allein auf die Armut, sondern ebenfalls auf die Entwicklung des Reichtums zu richten ist, wenn soziale Disparitäten bekämpft werden sollen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Die reiche Bundesrepublik hat lange Zeit so getan, als gehe sie das Thema nichts an. Man hat sich lange Zeit fast stoisch gegen Forderungen nach einem Armuts- und Reichtumsbericht im eigenen Lande gestellt. So kam es, dass in Deutschland Sozialverbände und Gewerkschaften schließlich auf eigene Faust Sozial- und Lebenslagenberichte in Auftrag gegeben haben, die Aufschluss über wachsende Probleme in der sozialen Entwicklung brachten. Sie sind damit quasi in eine Lücke gesprungen, die von der Politik verantwortungslos unbearbeitet geblieben war. Erst 2001 wurde ein erster Armuts- und Reichtumsbericht durch die damalige Bundesregierung vorgelegt.

Auf der niedersächsischen Ebene lassen sich Parallelen dazu ausmachen: 1995 wurde von den niedersächsischen Sozialverbänden und Gewerkschaften die Landesarmutskonferenz gegründet. Erst danach, im Jahr 1998, wurde eine erster Armuts- und Reichtumsbericht in Niedersachsen vorgelegt. Dies war seitens der Landespolitik ein erster Schritt in die richtige Richtung. Allerdings ist dieser Bericht, der uns nun jährlich vorgelegt wird, auf verschiedenen Ebenen zu ungenau bzw. auch quantitativ mangelhaft.

Wenn wir beispielsweise ablesen können, dass Lüchow-Dannenberg zu den ärmsten Landkreisen in Niedersachsen gehört und gleichzeitig durchschnittlich die wenigsten Verbraucherinsolvenzen aufzuweisen hat, kann ich mutmaßen, dass möglicherweise die Beratungs- und Betreuungsdichte zu gering ist. Notwendig wäre es aber, über den Stand von Mutmaßungen hinauszugehen. Nicht zuletzt wäre es also erforderlich, wesentlich mehr Faktoren in den Fokus zu nehmen, die mit geeig

neten Instrumenten und geeigneter Methodik erfasst werden. Damit könnten wir dann zu genaueren oder, besser gesagt, richtigeren Aussagen gelangen. Wenn ich mehrere Faktoren kenne, verringert sich die Gefahr monokausaler Antworten.

Dies wäre quasi die vertikale Erweiterung des Armuts- und Reichtumsberichts in diesem Lande. Sinnvoll ist indes auch ein horizontaler Ausbau der Untersuchung, um regional differente, gegebenenfalls auch widersprüchliche, Entwicklungen zu erfassen und somit Schlüsse zu den einzelnen regionalen Entwicklungen zuzulassen.

Die Regionalisierung ist ein wichtiger methodischer Ansatz. Leider wurde dieser in der jüngeren Zeit aber gelegentlich politisch missbraucht - etwa durch einen prominenten neoliberalen Ökonomen, der darüber sinniert, dass Mieten und Lebensmittel auf dem platten Land deutlich günstiger seien als in der Stadt München. Das ist ohne Frage richtig. Dieser sinnhafte Gedanke ist aber unvollständig, denn - und das ist der entscheidende Punkt - auf dem platten Land sind auch sozial benachteiligte Menschen zumeist auf ein Auto angewiesen. Der Discounter mag dort zwar deutlich billiger sein als die Filialen in der Münchener Innenstadt; dafür ist er aber auch 4, 8 oder 10 km oder noch weiter entfernt. Das heißt: Es darf nicht nur das subtrahiert werden, was günstiger ist, sondern es muss auch das addiert werden, was im Zusammenhang mit mangelnder Infrastruktur die Menschen zusätzlich belastet.

(Beifall bei der LINKEN)

Um genau diese Genauigkeit der Erfassung geht es in unserem Antrag.

Gestatten Sie mir nun noch einige Worte zu dem Antrag der Grünen. Meine Fraktion begrüßt den Vorstoß, das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zum Anlass zu nehmen, konkrete Handlungsschritte einzuleiten. Darüber wird Frau Helmhold sicherlich gleich noch detaillierter berichten.

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Ja!)

Meine Fraktion muss hier allerdings einiges ergänzen, wie wir es auch schon in den Haushaltsberatungen getan haben. Wir treten für die Wiedererhebung der Vermögensteuer ein; das ist keine Frage. Wir sind auch für eine sogenannte Großerbensteuer.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sind für eine gerechtere Ausgestaltung der Körperschaftsteuer und die Einführung einer Börsenumsatzsteuer. Das haben wir - nicht nur ich, sondern wir - Ihnen mehrfach gesagt.

(Beifall bei der LINKEN)

Für uns ist es ein entscheidender und wesentlicher Baustein für die Armutsbekämpfung, sich darüber Gedanken zu machen, wem mit welchem Vermögen man auch etwas wegnehmen kann.

Zu ergänzen wären Maßnahmen, die auf jene abzielen, die aktuell annähernd aussichtslos in der Falle Langzeitarbeitslosigkeit bzw. in der Falle „arm trotz Arbeit“ stecken.

Wie die einzelnen Maßnahmen aussehen können und wie Armutsbekämpfung als kontinuierliche Langzeitstrategie immer weiter verfeinert und somit verbessert werden kann, ließe sich nach der Etablierung eines umfassenden Armuts- und Reichtumsberichts für Niedersachsen sicher genauer sagen, als ich es an dieser Stelle schon allein aufgrund der Zeit überhaupt kann. Lassen Sie uns Armut und Reichtum in Niedersachsen zum Zweck der Armutsbekämpfung umfassend durchleuchten!

In diesem Sinne freue ich mich tatsächlich auf eine fruchtbare und offene Diskussion im Ausschuss. Ich hoffe, dass die Mehrheitsfraktionen in diesem Hause das zulassen werden. Wir werden versuchen, mit Ihnen in einen Dialog zu kommen. Uns ist es ein sehr wichtiges Anliegen, dass wir uns auch methodisch genau mit der Frage auseinandersetzen, was man an der an sich positiven Tatsache, dass es einen jährlichen Armuts- und Reichtumsbericht gibt, vielleicht verbessern könnte.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Herzlichen Dank, Herr Humke-Focks. - Nun erhält zur Einbringung für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Kollegin Helmhold das Wort. Bitte schön!

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Gestern veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ernüchternde Erkenntnisse und Zahlen. Jeder siebte Bürger/jede siebte Bürgerin - das sind 11,8 Millionen Menschen - lebte 2008 unterhalb der Armutsschwelle. Für Fa

milien mit drei Kindern liegt das Risiko bei 22 %, für Familien mit vier Kindern sogar bei 36 %. An diesen Erkenntnissen kann sich niemand, auch Herr Westerwelle nicht, mit Getöse und Wortgeklingel vorbeidrücken.

Damit sind wir im Grunde wieder bei der Debatte, die wir am Mittwoch in der Aktuellen Stunde geführt haben. Wie kann es sein, dass immer mehr Unternehmer offenbar immer stärker am Lohn knapsen und dadurch ihre Mitarbeiter zu Hartz-IVAufstockern machen? Davon gibt es inzwischen 1,3 Millionen. Hier werden die Solidarkassen und die Steuerkassen dreist geplündert. Die FDP feiert das auch noch als normal, statt endlich die Forderung nach gesetzlichen Mindestlöhnen zu unterstützen.

Mittlerweile scheint der Vorsitzende der FDP langsam mit seinen Ausfällen gegen die vermeintliche Faulenzerbande der Arbeitslosen zurückzurudern - Gott sei Dank.

(Christian Dürr [FDP]: Wann hat er „Faulenzerbande“ gesagt? - Roland Riese [FDP]: Wann hat er das ge- sagt?)

Nun flüchtet er sich, wie die HAZ schreibt, wieder „in die Sicherheit liberaler Gemeinplätze“. Er merkt wohl, dass er mit seinen Ausfällen eher Schaden für die NRW-Wahl anrichtet als Nutzen bringt. Selbst Ihren eigenen Anhängern ist das ja zu viel.

Hilfreich war in diesem Zusammenhang wohl auch die Veröffentlichung der OECD-Studie, nach der Deutschland bei der Unterstützung für Langzeitarbeitslose im Mittelfeld liegt. Von fürstlicher Versorgung kann also überhaupt keine Rede sein. Das wirkliche Problem ist doch, dass die Menschen keine Arbeit finden - und wenn doch, dann oft nur zu Niedriglöhnen.

Ich will durchaus zugestehen, dass sich speziell die FDP sehr um die Schaffung neuer Jobs bemüht. Beispielsweise gibt es das Jobwunder im Hause Niebel in Berlin. In dem Ministerium, das Herr Niebel eigentlich abschaffen wollte, werden 20 neue Stellen auch für Unqualifizierte geschaffen - leider nur für verdiente Parteifreunde.

(David McAllister [CDU]: Sie haben so etwas ja nie gemacht!)

Der neue beamtete Staatssekretär Beerfeltz, ehemals FDP-Geschäftsführer, ist entwicklungspolitisch ebenso unerfahren wie der künftige Abtei

lungsleiter Oberst a. D. Friedrich Eggelmeyer, ehemaliger Militärberater der FDP-Fraktion,

(David McAllister [CDU]: Der kommt aus Niedersachsen!)

und wie Gudrun Kopp, ebenfalls eine verdiente Parteifreundin, als Parlamentarische Staatssekretärin -

(Christian Dürr [FDP]: Frau Kopp ist hervorragend! Kennen Sie Frau Kopp überhaupt? Sie kennen die Dame doch gar nicht!)

ein Posten, den Herr Niebel an anderer Stelle eigentlich ebenso wie das Ministerium schrecklich gerne abschaffen wollte.

Frau Kollegin Helmhold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riese?

Sehr gerne, Herr Riese; immer.

Herzlichen Dank, Frau Helmhold. - Ich wüsste gerne, ob Sie entweder zur Tagesordnung zurückkehren wollen oder ob Sie uns dann, wenn Sie von der Tagesordnung abweichen, wie Sie es jetzt getan haben, indem Sie die Personalbesetzung von Ministerien in Berlin erörtern, erläutern wollen, wie die Grünen als Beteiligte an einer Landesregierung in Niedersachsen zwischen 1990 und 1994 den Personalbestand des Landes so aufgebläht haben, dass wir noch heute unter den finanziellen Folgen leiden.

(Beifall bei der FDP - Lachen von Helge Limburg [GRÜNE])

Frau Helmhold!

Lieber Herr Riese, zum Ersten spreche ich exakt zu dem Antrag, den ich hier vorstelle. Darin geht es nämlich darum, wie Menschen so viel verdienen können, dass sie nicht in Armut leben müssen.

Zum Zweiten spreche ich darüber, dass Ihr Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Dirk Niebel Jobs an einer Stelle schafft, von der er vorher immer gesagt hat, dass er sie abschaffen wolle. Dieses Thema finde ich sehr interessant. Ich glaube

Ihnen allerdings, dass Sie das nicht so gerne hören.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Gegen diese Umwandlung des Entwicklungshilfeministeriums in eine Versorgungsanstalt für FDPFunktionäre gibt es inzwischen sogar massive öffentliche Kritik des Personalrats. Den normalen Arbeitslosen hilft das nicht, den Armen im Lande auch nicht.

(Björn Thümler [CDU]: Was war denn jetzt mit dem zweiten Teil der Frage? Sie haben die Frage nicht beantwor- tet!)