Protocol of the Session on July 2, 2008

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20:

Erste Beratung: Niedersachsens Schlusslichtposition verändern - Aktionsplan „frühkindliche Bildung“ jetzt - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 16/283

Zur Einbringung erteile ich dem Abgeordneten Brammer von der SPD-Fraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unstrittig ist: Kindertagesstätten sind heute, anders als noch vor zehn Jahren, Bildungseinrichtungen. Die Rahmenbedingungen für unsere Kinder haben sich in den letzten Jahren sehr stark verändert. Immer mehr Kinder wachsen als Einzelkinder auf. Vor allem digitale Medien mit all ihren negativen Auswirkungen bestimmen den Alltag unserer kleinen Kinder in zunehmendem Maße.

In Deutschland stammt jede zehnte Familie aus dem Ausland. Kinder brauchen die Befähigung, sich in dieser interkulturellen Welt zu bewegen. Sozialisationsprozesse werden durch die gerade beschriebenen Tatsachen umfassender und müssen vor allem in immer kürzerer Zeit bewerkstelligt werden - und dies vor dem Hintergrund, dass Eltern sich zunehmend überfordert sehen, wofür es viele Gründe gibt. Hier sei nur einer beispielhaft genannt: Es ist heute völlig normal, dass Eltern, insbesondere Alleinerziehende, mit nur einer Arbeitsstelle nicht mehr klarkommen, weil das Geld nicht mehr reicht.

(Editha Lorberg [CDU]: Das wissen wir aber schon ziemlich lange!)

Die PISA-Studie sorgte seinerzeit für eine allgemeine Ernüchterung im deutschen Bildungswesen. Die Vergleiche mit anderen Ländern haben uns gezeigt, dass wir auch im Bereich der Elementarpädagogik viel aufzuholen haben. Niedersachsen rangiert beim Ländervergleich in dieser ohnehin schon schlecht aufgestellten Republik am unteren Ende. Dies beweist der kürzlich erschienene Länderreport „Frühkindliche Bildungssysteme 2008“. Niedersachsen liegt beispielsweise bei den Ausgaben für die frühkindliche Bildung bundesweit an zweitletzter Stelle. Die Teilhabe der Kinder in Niedersachsen an frühkindlicher Bildung ist geringer als in den meisten anderen Bundesländern.

(Ursula Körtner [CDU]: Wir hatten ja 13 Jahre eine SPD-Regierung! - Wolf- gang Jüttner [SPD]: Das ist aber lang- sam verjährt! Ihr seid doch angeblich seit fünf Jahren klasse! - Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Der Länderreport belegt unsere Annahme, dass vieles, was Kindertagesstätten betrifft, für diese Regierung offensichtlich Nebensache ist.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei der LINKEN)

Diese Landesregierung ist grottenschlecht aufgestellt.

(Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der CDU und bei der FDP)

Unsere Kindertageseinrichtungen werden nach wie vor so behandelt, als wären sie Orte zur Aufbewahrung von Kindern berufstätiger Mütter oder manchmal auch berufstätiger Väter. Landesweit gibt es keine verbindlichen Vorgaben für die Versorgungsquote. Je nachdem, welche Priorität die einzelnen Kommunen den Kitas beimessen, wird die Entwicklung vor Ort vorangetrieben oder auch nicht. Das beweist allein die Tatsache, dass das Tagesstättenausbaugesetz auch aufgrund der unterschiedlichen Strukturprobleme in den Kommunen nicht ausgereicht hat, eine entsprechende Dynamik zu entwickeln.

Aufgrund der zwischen Bund und Ländern geschlossenen Verwaltungsvereinbarung, einhergehend mit dem Kinderförderungsgesetz, wird sich auch das Land Niedersachsen seiner Verantwortung nicht mehr entziehen können. In diesem Zusammenhang muss man sich fragen, warum das Land Niedersachsen anders handelt als andere Bundesländer.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von Kreszentia Flauger [LINKE])

Folgendes ist nicht nachvollziehbar: Der Bund geht bei seinem Investitionsprogramm für den Ausbau der Krippen in der Ausbauphase bis 2013 von einer Gesamtsumme von 4 Milliarden Euro bundesweit aus. Darin sind 2,15 Milliarden Euro Bundesbeteiligung und 1,85 Milliarden Euro Länderanteil enthalten. Das macht einen Bundesanteil von 53,75 % und einen Länderanteil von 46,25 % aus. In Niedersachsen zählt das offensichtlich nicht. Sie verkaufen den Bundesanteil als 90-%-Förderung, legen 5 % drauf und unterschlagen den Kommunen den eigentlich viel höheren Landesanteil.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von Kreszentia Flauger [LINKE])

Genau das wollen wir erklärt wissen.

Zum anderen besteht bis heute noch keine verbindliche Regelung, wie die vom Bund geförderten Betriebskosten an die Einrichtungen verteilt werden. Der Bund geht beim Entwurf des KiFöG, des Kinderförderungsgesetzes, von einem Gesamtvolumen von 8 Milliarden Euro bundesweit aus. Der

Bund ist daran mit 1,85 Milliarden Euro, die Länder sind mit 6,15 Milliarden Euro in den nächsten sechs Jahren beteiligt. Sie haben noch keine konkrete Planung, wie Sie das umsetzen wollen. Sie warten auf den Bund und tun selbst nichts. Wenn diese Mittel gemäß der Planung ab 2009 fließen sollen, sollten Sie langsam anfangen und sich Gedanken machen, wie Sie dieses vom Bund angeschobene Programm umgesetzt bekommen.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Die Festsetzung der Betriebskostenzuschüsse für Krippenplätze wird nur über die Änderung des Kindertagesstättengesetzes möglich sein. Wenn das geschieht, werden wir sicherlich vor dem Hintergrund, dass es sich bei den Kindertageseinrichtungen um Bildungseinrichtungen handelt, über einiges mehr reden müssen. So ist zu fragen, ob der derzeitige Landeszuschuss in Höhe von theoretisch 20 % - in der Regel sind es eigentlich nur 17 % - noch zeitgemäß ist. Darüber müssen wir reden.

Können wir es wirklich verantworten, dass in den Krippen eine Fachkraft sieben Kinder betreut? In einer Familie bedeutet das zweimal Zwillinge und einmal Drillinge. Solch eine Familie würde durch die öffentliche Hand unterstützt. In den Einrichtungen verlangen wir, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dies leisten müssen. Das kann man keinem logisch erklären.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von Kreszentia Flauger [LINKE])

Ein weiterer Punkt: Reichen vor dem Hintergrund, dass Kindertagesstätten heute einen anderen Stellenwert als früher haben, 7,5 Verfügungsstunden für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch aus? Der vom Kultusministerium 2005 eingeführte Orientierungsplan bindet, wenn er ernst genommen wird, viel Zeit. Nicht umsonst hat das Ministerium ihn nicht rechtsverbindlich, sondern nur empfehlend eingeführt.

Es ist weiterhin vielleicht überlegenswert, die Auswirkungen des demografischen Wandels zu nutzen, um die Gruppenstärke in den Kitas zu senken, bevor man Gruppen schließt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben seinerzeit aufgrund der Einführung des § 24 KJHG die Vergrößerung der Gruppen hinnehmen müssen, damit der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für über Dreijährige gewährleistet werden konnte.

(Vizepräsident Hans-Werner Schwarz übernimmt den Vorsitz)

Land und Kommunen standen damals, Anfang der 90er-Jahre, vor einem riesigen Finanzierungsproblem, das dann teilweise auf dem Rücken der Beschäftigten gelöst wurde. Diese und noch viele Probleme mehr wollen wir behandelt wissen, bevor diese Landesregierung die erforderliche Entwicklung verschläft. Deshalb ist es angesagt, jetzt sofort die Fundamente für eine vernünftige Bildungspolitik zu legen, ohne zu vergessen, dass dafür vernünftige Sozialisationsprozesse in den Kindertagesstätten dringend erforderlich sind. Wir wollen verhindern, dass dieses Land Schlusslicht in der europäischen Bildungspolitik bleibt.

Danke schön.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und Zu- stimmung von Miriam Staudte [GRÜ- NE] und Kreszentia Flauger [LINKE])

Frau Vockert hat sich zu einer Kurzintervention zu dem Redebeitrag von Herrn Brammer gemeldet. Bitte, Frau Vockert!

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Brammer, auch wenn Sie neu im Landtag sind, entschuldigt dies nicht, dass Sie sich im Vorfeld nicht darüber informieren, was von 1990 bis zum Jahre 2003 die damalige Landesregierung z. B. in diesem Fachbereich getan hat und was danach von 2003 bis 2008 die jetzige Landesregierung getan hat.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Brammer, wenn Sie sagen, wir seien grottenschlecht aufgestellt und hätten uns nicht rechtzeitig dem Thema frühkindliche Bildung zugewandt, muss ich Ihnen vorhalten, dass es die frühere Landesregierung gewesen ist, die überhaupt nicht darauf eingegangen ist, dass wir uns immer auf Bildung und frühkindliche Bildung bezogen und gesagt haben: Wir wollen, dass Bildung in den Kindergarten hineinkommt.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Was?)

- Herr Jüttner, 1998 - lesen Sie es im Protokoll nach - haben Sie einen Antrag der CDU-Fraktion genau zu diesem Thema abgelehnt.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Sie hatten Schiss und haben gesagt, Sie möchten nicht, dass Kinder frühzeitig verschult und verkopft werden. Insofern muss wirklich einmal geradegerückt werden, was Sache ist.

Sie haben weiterhin gesagt, wir hätten keinen Bildungsplan auf den Weg gebracht. Von wegen! Wer hat denn letztlich den Bildungsplan auf den Weg gebracht? - Die SPD-Landesregierung hat seinerzeit gesagt: Der Kitabereich ist für uns kein bildungspolitischer Bereich. - Wir haben 2003 nach der Regierungsübernahme unverzüglich einen Orientierungsplan für Bildung und Erziehung auf den Weg gebracht. Herr Brammer, auch diesbezüglich hätten Sie sich besser informieren müssen, genau wie bei dem gesamten Thema der Finanzen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Brammer hat die Gelegenheit zur Erwiderung. Ihm stehen anderthalb Minuten zur Verfügung. Bitte, Herr Brammer!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Vockert, Sie brauchen mich nicht zu belehren, was im Bereich der Kindertagesstätten in den letzten zehn Jahren gelaufen ist. Ich bin seit elf Jahren Mitglied eines Kreistages und dort Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses und habe hautnah erlebt, was gelaufen ist. Sie haben sich hier auf den Orientierungsplan bezogen. Diesen Plan haben nicht Sie und Herr Busemann entwickelt, sondern die Verbände. Ohne diese wären Sie überhaupt nicht in der Lage gewesen, einen solchen Plan auf den Tisch zu legen.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und Zustimmung von Miriam Staudte [GRÜNE] und Kreszentia Flauger [LINKE])

Die nächste Rednerin ist Frau Staudte von der Fraktion der Grünen.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Abgeordneten! So viel vielleicht zur Vergangenheitsbewältigung. Wir sollten den Blick jetzt aber nach vorne richten. Ab 2013 soll in Deutschland ein Rechtsanspruch auf Krippenplätze bestehen. Das ist eine

unglaubliche Leistung der Großen Koalition. Aber es nicht alles Gold, was glänzt.

(Dr. Bernd Althusmann [CDU]: Aber fast alles! - David McAllister [CDU]: Es ist auch nicht alles grün, was glänzt!)

Dieser Rechtsanspruch gilt nur, wenn im Jahre 2013 ein Platzangebot für 35 % der Kinder vorhanden ist. Da ist in der Großen Koalition wirklich die zittrige Handschrift der CDU zu erkennen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Wolfgang Jüttner [SPD]: Guter Satz!)

Es stellt sich eigentlich nicht mehr die Frage, ob wir den Krippenausbau vorantreiben wollen, sondern es stellt sich nur noch die Frage, in welchem Tempo und in welcher Qualität. Werden wir in Niedersachsen im Jahre 2013 das Ausbauziel 35 % erreichen? Ja oder nein? - Bund, Länder und Kommunen haben sich in einer Vereinbarung verpflichtet, diesen Ausbau gemeinsam zu stemmen. Eine Drittelfinanzierung soll eine gerechte Aufteilung der Kosten sichern. In Niedersachsen stehen in den Jahren 2008 bis 2013 225 Millionen Euro zur Verfügung, und das Land brüstet sich gegenüber den Kommunen, die diese Gelder in Hannover beantragen können, sehr. Absolute Zahlen in dieser Größenordnung - 225 Millionen Euro - machen ja auch einiges her.

Aber wie viele Millionen kommen wirklich vom Land? 11 Millionen von 225 Millionen, für einen Zeitraum von sechs Jahren 11 Millionen, also 5 % vom Land und 95 % vom Bund. Mich erinnert das wirklich sehr an das Ganztagsausbauprogramm, an das Fielmann-Prinzip: Das Land hat keinen Pfennig dazubezahlt.