Protocol of the Session on November 10, 2011

Meine Damen und Herren, wir haben zu dem Thema der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge eine Große Anfrage eingereicht, weil wir uns ein Bild davon machen wollen, wie sich die Gesamtsituation und der Umgang mit den Kindern und Jugendlichen unter entsprechenden Bedingungen ausgestalten. Besonders die verschiedenen Formen der Unterbringung interessieren uns dabei.

Doch obwohl das Kindeswohl im Mittelpunkt stehen sollte, weist die Antwort der Landregierung zahlreiche blinde Flecken auf. So geht daraus hervor, dass überhaupt nur 37 von 60 Jugendämtern in Niedersachsen der Landesregierung Auskunft geben wollten oder konnten. Der Rest hat es einfach nicht getan. Auch wenn sie nicht dazu verpflichtet sind, so ist doch eine umfassende Vernetzung und Kontrolle durch alle beteiligten und einbezogenen Behörden, Institutionen und Akteure eine Grundvoraussetzung für die Aufnahme und den kindgerechten Umgang mit den Flüchtlingen nötig.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, hätte man sich im Vorfeld um diese Vernetzung bemüht, hätte man nicht aus der Antwort der Landesregierung erfahren müssen, dass es in 43 Fällen überhaupt keine genaueren Hinweise über die derzeitige Unterbringung von Kindern und Jugendlichen gibt - sie scheinen einfach irgendwo herausgefallen zu sein - oder dass im Ergebniszeitraum von 2008 bis Mitte 2011 von den 521 minderjährigen in Obhut Genommenen 338 Personen nicht nach Geschlecht differenziert worden sind.

Meine Damen und Herren, das kann nicht sein. So geht das nicht weiter. Die zuständigen Behörden sind dringend aufgefordert, hier Klarheit zu schaffen.

(Beifall bei der LINKEN)

Außerdem gibt es immer noch zu viele Fälle, in denen Kinder und Jugendliche in Sammelunterkünften untergebracht werden.

(Filiz Polat [GRÜNE]: Unglaublich!)

Auch das ist nicht hinnehmbar. Minderjährige Flüchtlinge müssen entweder in Familien oder in entsprechenden Jugendeinrichtungen untergebracht werden, in denen ihnen umfassende medizinische und psychologische Versorgung zuteil wird und nicht nur eine bloße Notfallversorgung.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Integration, Bildung sowie soziale und gesellschaftliche Teilhabe müssen bei uns zur Selbstverständlichkeit werden.

Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit der Professionalisierung der Behörden durch intensivere Vernetzung habe ich bereits angeführt. Aber auch die Sensibilisierung der Behörden im Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen muss auf die

Tagesordnung. Dazu gehört auch die Information über die Grundsätze der UN-Kinderrechtskonvention. Dies ist dringend voranzutreiben und die Konvention mit Leben zu erfüllen. Zudem muss sichergestellt werden, dass den Betroffenen ein ausreichender Rechtsbeistand zur Seite gestellt wird, der sie bei formalen Prozessen und Behördengängen unterstützt. Eine bloße Rechtsbetreuung durch Behördenmitarbeiter ist nicht ausreichend, vor allem mit Blick auf die Tragweite der daraus resultierenden Entscheidungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Blick auf die seit Jahren steigenden Zahlen von Kindern und Jugendlichen, die ohne Begleitung in unser Land flüchten, dürfen wir nicht die Hände in den Schoß legen. Zeigen wir den Kindern und Jugendlichen, dass ein Leben in Frieden und Freiheit in Niedersachsen möglich ist! Meine Damen und Herren, packen wir’s an!

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Herzlichen Dank. - Wie bereits angekündigt, erhält entsprechend unserer Geschäftsordnung nun die Landesregierung das Wort. Herr Minister Schünemann, bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Großen Anfrage geht es um minderjährige Ausländerinnen und Ausländer, also unter 18 Jahren, die ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten oder einer sorgeberechtigten Person nach Deutschland einreisen.

Sie kommen nach Deutschland, da sie vor Kriegshandlungen, Menschenrechtsverletzungen oder wirtschaftlicher Not fliehen und Schutz oder auch bessere Lebensumstände suchen. Manche verlieren aufgrund von Kriegen ihre Angehörigen. Andere werden auf der Flucht von ihren Eltern getrennt. Viele werden aber auch von ihren Familien geschickt, weil sich ihre Eltern für sie hier eine bessere Zukunft erhoffen.

Mit der Einreise, der Aufnahme und einer eventuellen Rückkehr von unbegleiteten ausländischen Minderjährigen ergeben sich verschiedene aufenthalts-, asyl- und sozialrechtliche Maßnahmen und Verfahren, die aufgrund von Vorschriften zum

Schutz von Kindern und Jugendlichen besonderen Anforderungen unterliegen.

Die Große Anfrage geht nach ihrem Wortlaut zu Unrecht davon aus, dass unbegleitete minderjährige Ausländerinnen und Ausländer keinen Zugang zu Einrichtungen der Jugendhilfe haben. Diese Behauptung ist schlicht falsch. Richtig ist vielmehr, dass bei den von den Behörden zu treffenden Entscheidungen auch für diese Jugendlichen das Kindeswohl im Vordergrund steht.

(Filiz Polat [GRÜNE]: Deswegen sind sie auch in Abschiebehaft!)

Hieraus ergibt sich für die Jugendämter der Landkreise und kreisfreien Städte als örtliche Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendpflege die Berechtigung und Verpflichtung zur Inobhutnahme, falls sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte in Deutschland aufhalten. In Niedersachsen wurde hierzu mit den Kommunen ein Verfahren abgestimmt, welches gewährleistet, dass alleinreisende Ausländerinnen und Ausländer, die als unbegleitete Minderjährige angetroffen werden, jeweils dem örtlich zuständigen Jugendamt vorgestellt oder gemeldet werden.

Ich möchte Ihnen hierzu die Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen durch die Jugendämter näher erläutern.

Regelfall einer Inobhutnahme bei Einheimischen ist meist ein Konflikt mit den Personensorgeberechtigten. In den Fällen der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen aber besteht der Anlass der Maßnahme gerade darin, dass die Eltern abwesend sind. Im Rahmen der Inobhutnahme ist es daher eine vordringliche Aufgabe des Jugendamtes, zu prüfen, ob sich sonstige personensorge- bzw. erziehungsberechtigte Personen im Inland aufhalten, denen die oder der Jugendliche übergeben werden kann.

Die Inobhutnahme durch das Jugendamt umfasst die vorläufige Unterbringung des oder der Minderjährigen bei einer geeigneten Person, z. B. einem nahestehenden Verwandten, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen jugendhilferechtlichen Wohnform. Hierbei nutzen einige Jugendämter insbesondere die Clearingstelle im Sozialwerk Nazareth in Norden, die bereits langjährige Erfahrung mit der Aufnahme von unbegleiteten ausländischen Minderjährigen hat und hierauf spezialisiert ist.

Des Weiteren ist im Rahmen der Inobhutnahme zu klären, ob eine Rückkehr in das Heimatland ohne erhebliche Gefahren und unter Berücksichtigung des Kindeswohls möglich ist, ob eine Familienzusammenführung in einem Drittland in Frage kommt und ob ein Asylantrag gestellt oder ein Bleiberecht aus humanitären Gründen angestrebt werden soll. Bei dieser Klärung sind entsprechend kompetente Stellen mit einzubeziehen. Dieses können die Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, der Internationale Sozialdienst oder auch andere Stellen sein.

In jedem Fall der Inobhutnahme ist der erzieherische Bedarf der oder des Minderjährigen vorher zu ermitteln. Es wird geprüft, ob im weiteren Verlauf Jugendhilfeleistungen, beispielsweise Hilfe zur Erziehung, erforderlich sind. Außerdem ist unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen.

Das Verfahren in Niedersachsen soll sicherstellen, dass dem Kindes- und Jugendwohl Rechnung getragen wird. So hat - anders als Sie es hier dargestellt haben - die Abfrage bei den niedersächsischen Jugendämtern ergeben, dass in keinem Fall eine Inobhutnahme aufgrund von Zweifeln an der Minderjährigkeit abgelehnt wurde. Erst nach Feststellung der Volljährigkeit wurde gegebenenfalls die Maßnahme beendet.

Dies wird beispielsweise deutlich an der Meldung der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen, die alle Alleinreisenden, die als unbegleitete Minderjährige eintreffen, dem örtlich zuständigen Jugendamt vorstellt. In den Jahren 2010 und 2011 wurden nach Mitteilung der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen 111 Personen dem Jugendamt als Minderjährige übergeben. Erst nach Feststellung der Volljährigkeit wurden für den Meldezeitraum 90 Personen wieder der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen zur Erstaufnahme zugeführt.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass bei allen Maßnahmen und Entscheidungen des Jugendamtes die besonderen Bedürfnisse von Minderjährigen und die Gewährleistung des Kindeswohls entscheidend sind. Damit werden auch alle Anforderungen der UN-Kinderrechtskonvention erfüllt. Auch das deutsche Aufenthalts- und Asylrecht entspricht nach wie vor diesen Anforderungen. Die Rücknahme der Zusatzerklärung zur UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 2011 hat hieran auch nichts geändert.

Meine Damen und Herren, da es zu den in der Großen Anfrage abgefragten Daten keine regel

mäßigen Meldepflichten gibt, wurden die niedersächsischen Jugendämter und Ausländerbehörden um Bericht gebeten. Sie konnten aber nur teilweise Auskunft geben, da eigenes Zahlenmaterial dort nicht immer in ausreichender Menge vorliegt. Die Zahlen sind daher im Sinne einer landesweiten Gesamtübersicht empirisch nicht belastbar. Gleichwohl können allgemeine Trendaussagen über Zugangsentwicklung und Zusammensetzung der Personengruppen getroffen werden.

Nach den Meldungen der Ausländerbehörden ist von Jahr zu Jahr ein Anstieg der Zugänge von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen. So wurden für das Jahr 2008 40 Personen gemeldet. 2009 waren es 118. Von 2009 auf 2010 betrug der Anstieg 70 %. Dieses im Jahr 2010 erreichte hohe Niveau setzt sich aller Voraussicht nach auch im Jahr 2011 fort. Die Steigerung im Jahr 2009 beruhte auf erhöhten Zugängen aus Afghanistan. 2010 und 2011 kamen darüber hinaus vermehrt Personen aus Syrien und dem Irak. Des Weiteren war es nach Angaben der Ausländerbehörden möglich, in einer nicht unerheblichen Anzahl von Fällen unbegleitete Minderjährige mit Verwandten zusammenzuführen.

Von den im Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zum 30. Juni 2011 von den Jugendämtern angegebenen 521 in Inobhutnahmen von unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländern war der überwiegende Teil männlich und zwischen 16 und 18 Jahre alt.

Abschließend möchte ich feststellen, dass die Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländern bei den niedersächsischen Behörden in guten Händen ist. Die Jugendämter haben die Aufnahme auszuführen. Ich habe überhaupt keinen Anlass, irgendwelche Zweifel zu haben, dass die Jugendämter nicht nach dem Motto „An erster Stelle steht das Kindeswohl“ handeln. Das ist wichtig. Ich bin froh darüber, dass die Aufnahme auf der kommunalen Ebene bei den Jugendämtern auf jeden Fall in guten Händen liegt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herzlichen Dank, Herr Minister. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich Frau Kollegin Polat zu Wort gemeldet. Bitte schön!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Namen meiner Fraktion möchte ich zunächst ausdrücklich unsere Bestürzung, unsere Wut und unsere Empörung über die Abschiebung der vietnamesischen Familie aus Hoya ausdrücken.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Nach gut 20-jährigem Aufenthalt wurden die Eltern mit ihren kleinen minderjährigen neun und sechs Jahre alten Kindern, die in Niedersachsen geboren sind, abgeschoben. Die 19-jährige Tochter bleibt zurück.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Allein!)

Was ist das für ein Rechtsstaat? - Die Grenze der Zumutung ist erreicht!

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Verantwortlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist hierfür in erster Linie die Politik der Landesregierung, die, anders als andere Landesregierungen, den Ausländerbehörden nicht das Recht einräumt, nach Ermessen über die Erteilung eines humanitären Aufenthaltsrechts zu entscheiden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gilt auch für den Umgang mit Kinderflüchtlingen. Herr Minister, in Niedersachsen werden Minderjährige in Haft genommen. In Niedersachsen werden Kinder mit umstrittenen medizinischen Verfahren oder durch Inaugenscheinnahme älter gemacht - ich kann Ihnen die Fälle einmal vortragen, die ich begleitend unterstütze -, sodass sie ihrer Rechte, die ihnen nicht nur unser Grundgesetz, sondern auch - Sie haben es erwähnt - die UN-Kinderrechtskonvention bietet, beraubt werden. Wenn ich Menschen in Niedersachsen von diesen Kinderschicksalen erzähle, schütteln sie zu Recht nur ungläubig den Kopf.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser zentraler Kritikpunkt liegt nach wie vor bei den Altersfestsetzungen. Niedersachsen hat in 2010 bei 52 Personen das Alter auf mindestens 18 Jahre fiktiv festgesetzt. Dann kommen sie nämlich gar nicht erst zum Jugendamt, Herr Minister. Hinzu kommen weitere 51 Personen aus der Landesaufnahmebehörde.

Es liegt auf der Hand, dass das dahinter stehende Interesse der Landesregierung dahin geht, diese als volljährig erklärten Menschen zum einen aus