Protocol of the Session on April 13, 2011

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine Eingabe unseres ehemaligen Landtagskollegen Rudolf Robbert an den Niedersächsischen Landtag, die im Sozialausschuss beraten wurde, hat uns sehr nachdenklich gestimmt. Er hat die Situation deutscher Jugendlicher in einem Auslandsprojekt der Jugendhilfe in Maramures in Rumänien beschrieben. Er hat mit dieser Eingabe eine Diskussion in den Ausschuss gebracht und ein Thema in den Fokus gestellt, das uns sehr nachdenklich gestimmt und den Ausschuss über einen längeren Zeitraum beschäftigt hat.

Experten gehen davon aus, dass bis zu 600 Jugendliche aus Deutschland derzeit in intensiv-sozialpädagogischen Maßnahmen im Ausland sind, wobei das nur eine Schätzung ist. Warum? - Dazu gleich mehr.

Der Kriminologe Professor Dr. Christian Pfeiffer sagte im Rahmen einer Anhörung, die der Sozialausschuss durchgeführt hat, hier zeige sich ein unsäglicher Verschiebebahnhof, auf dem Jugendliche, die in Deutschland durch alle Raster gefallen seien, ins Ausland verschoben würden, und verband das mit einer deutlichen Kritik an der Qualifikation der Träger, die oftmals mehr als fragwürdig sei.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, all dies hat uns als SPD-Fraktion dazu bewogen, uns diesem Thema mit einem eigenen Entschließungsantrag zu widmen. Wir haben uns im Sozialausschuss viel Zeit genommen - dafür möchte ich den Kolleginnen und Kollegen an dieser Stelle noch einmal danken -, um diskutieren zu können, aber auch um zwei Anhörungen durchführen zu können, bei denen Wissenschaftler und Praktiker aus Jugendämtern uns die Thematik nähergebracht haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben es hier mit einem dunklen Kapitel der Pädagogik zu tun, in Teilen mit schwarzer Pädagogik. Auslandspädagogik in Rumänien heißt - hierzu gibt es diverse Veröffentlichungen des Spiegels sowie von „Monitor“ und anderen Politmagazinen -: Minderjährige erledigen Holztransporte, bestellen die Felder oder machen Gartenarbeit. Manche schleppen früh und spät schwere Wassereimer. Vieh und Familien müssen oft aus einem Brunnen versorgt werden. Es gibt zum Teil drakonische Strafmaßnahmen, Schläge, Spott, Beschimpfungen. Es wird eine Glatze geschoren oder mit Psychiatrie gedroht. Unterricht wird nur in Teilen gegeben, obwohl die Kinder und Jugendlichen aus Deutschland der Unterrichtspflicht nachkommen müssten. Es bestanden mehr als einmal erhebliche Zweifel an der Qualifikation der Träger. Und was ist das Ziel dieser Einrichtungen? - Auch das ist teilweise mehr als fragwürdig.

Das gilt nicht für alle Maßnahmen der Auslandspädagogik; das will ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen. Es geht hier darum, mit diesen Maßnahmen differenziert umzugehen. Aber es gibt hier Fehlentwicklungen. Eine dieser Fehlentwicklungen ist mangelnde Transparenz. Transparenz setzt Information voraus. Deshalb behandelt unser Entschließungsantrag vier aus unserer Sicht elementare Forderungen:

Die Verpflichtung zur Meldung wollen wir mit einer Bundesratsinitiative durchsetzen. Aktuell kann niemand sagen, wie viele Kinder und Jugendliche aus

Deutschland in solchen Maßnahmen sind. Es gibt keine zentrale Meldestelle. Das wird allein durch die Jugendämter geregelt.

Es fehlt an landesweiten Richtlinien zur Durchführung.

Es fehlt an Fach- und Rechtsaufsicht. Wir können uns sehr gut vorstellen, dass das 2007 abgeschaffte Landesjugendamt wieder ein ganz wichtiges Instrument für Niedersachsen sein könnte.

(Beifall bei der SPD)

Ferner fehlt finanzielle Transparenz in Bezug auf die Kosten.

Der Jugendhilfeforscher Matthias Witte von der Universität Bielefeld hat ausgeführt: Letztendlich liegt das Problem in der Intransparenz. Es gibt keine zentrale Stelle, bei der sämtliche Informationen zusammenlaufen. Man weiß nicht wirklich etwas über die Qualität der Projekte und der Mitarbeiter sowie über die Situation vor Ort.

Christian Pfeiffer bestätigte in der Anhörung, dass zwei Drittel der Jugendlichen gegen ihren Willen im Ausland sind.

Wie sieht es mit der Wirksamkeit aus? - Es gibt keine ausreichenden Evaluationen, Rückfallstatistiken oder Wirksamkeitsstudien zu Auslandsprojekten. Ich möchte in diesem Zusammenhang den „Betreuungsreport Ausland“ von Dr. Fischer und Dr. Ziegenspeck von der Universität Lüneburg erwähnen. Sie haben sehr deutlich gemacht, dass in dem, was wir als Auslandsprojekte definieren, häufig gar keine Erlebnispädagogik mehr stattfindet. Sie führen aus, bei manchen Projekten sei die Notwendigkeit, diese Projekte im Ausland durchzuführen, verloren gegangen. Vor allem die renommierten Schiffs- und Reiseprojekte sind zurückgegangen. An ihre Stelle treten Standprojekte, die an einem Ort eine familienähnliche Ersatzumgebung schaffen. Aber in diesen Standprojekten kommen erlebnispädagogische Methoden nur noch am Rande vor, sodass sich hier die Frage nach der Wirksamkeit deutlich stellt. Der Deutsche Verein bestätigt, Evaluation von Auslandsprojekten sei wichtig.

Wir als Landtag sind auch gefordert, uns mit den Ursachen dieser Fehlentwicklungen auseinanderzusetzen. Was ist eigentlich los mit Jugendlichen, die sich in diesen Situationen befinden? - Häufig sind prekäre Lebenssituationen, sozialstrukturelle Belastungsfaktoren, Armut, mangelnde Teilhabe usw. Ursachen delinquenter Karrieren.

Den Kommunen fehlt es häufig an einer vernünftigen finanziellen Ausstattung, um erfolgreiche Jugendarbeit im präventiven Bereich leisten zu können. Auch hierfür braucht es ein Jugendamt auf Landesebene, um Unterstützung zu bieten, aber auch um eine hinreichende Fach- und Rechtsaufsicht zu gewährleisten.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen politische Konsequenzen und keine Sonntagsreden. Die Anhörung im Sozialausschuss hat gezeigt, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Das Jugendamt des Landkreises Celle hat dargestellt, dass es vor Ort in Rumänien war und die Maßnahme sofort beendet hat.

Die Anhörung hat gezeigt, dass unser Antrag auf breite Zustimmung stößt.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter begrüßt eine Pflicht zur Meldung an eine zentrale Stelle und hält eine Evaluation von Auslandsprojekten für dringend erforderlich und überfällig.

Die Universität Lüneburg empfiehlt die Entschließung ohne jede Einschränkung und hält die Vorschläge zu einer nachgelagerten Evaluation für substanziell notwendig.

Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege verspricht sich davon eine stärkere Aufsichtsfunktion des Landes und begrüßt die Initiative zur Wiedereinführung des Landesjugendamtes.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Eingabe von Rudolf Robbert ist der Landesregierung zur Erwägung überwiesen worden. Uns würde interessieren, was die Landesregierung seitdem gemacht hat. Wir haben mit großer Einigkeit Kinderrechte in die Niedersächsische Verfassung aufgenommen. Was im Abstrakten richtig war, muss im Konkreten weiterhin richtig bleiben. Von daher kann die Konsequenz nur sein: Stimmen Sie unserem Antrag zu!

Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Für die FDP-Fraktion spricht nunmehr der Kollege Riese.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Brunotte hat es richtig dargestellt. Wir haben uns mit der Materie anhand der Eingabe und auch anhand dieses Antrages im Ausschuss in großer Breite und mit großer Intensität beschäftigt und uns dort ein genaues Bild davon verschaffen können, wie die Intensivmaßnahmen der Jugendpädagogik in der Gegenwart gestaltet sind.

Es ist ja nicht so, meine Damen und Herren, dass wir uns in diesem Bereich in einem rechtsfreien Raum bewegen. Die ganzen Maßnahmen, über die wir hier sprechen, basieren auf § 27 des Achten Bandes des Sozialgesetzbuches als Hilfe zur Erziehung.

Im Landesrecht, meine Damen und Herren, wird festgelegt, welche Aufgaben im Einzelfall dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe und welche Aufgaben dem örtlichen Träger der Jugendhilfe obliegen. Die meisten Bundesländer haben es so gestaltet, wie es in Niedersachsen der Fall ist: Die Verantwortung ist klipp und klar beim örtlichen Träger der Jugendhilfe.

(Zustimmung bei der CDU - Norbert Böhlke [CDU]: Sehr richtig!)

Der handelt allerdings nicht im rechtsfreien Raum, meine Damen und Herren, sondern er ist in seinen Maßnahmen durch weitere Vorschriften des Achten Bandes des Sozialgesetzbuches gebunden. Dieses schöne Gesetzeswerk hat überhaupt keinen Ansatz für solche Kontroll- und Berichtspflichten, wie sie in dem Antrag der SPD vorgesehen sind.

(Johanne Modder [SPD]: Also weiter so?)

Auch der Antragsteller weiß sehr genau, dass sowohl das Bundesrecht als auch das Landesrecht in der Jugendhilfe letztendlich nur einen allgemeinen rechtlichen Rahmen abbilden. Die Praxis ist weitaus mehr von den Empfehlungen des Deutschen Vereins - das hat Herr Brunotte schon genannt - und auch von den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter bestimmt und im Land wiederum auch von der Zusammenarbeit der Jugendämter, die sich über die Erfahrungen und auch darüber austauschen, welche Qualität solche Träger haben. Die Vertreterin des Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie hat auf diese Empfehlungen hingewiesen und uns auch genau darüber unterrichtet, wie die Zusammenar

beit mit dem Arbeitskreis der Träger der Auslandspädagogik gestaltet ist.

Die lückenlose Fach- und Rechtsaufsicht, wie sie von der SPD verlangt wird, ist aus gutem Grund im SGB VIII nicht angelegt. Dieses Verlangen, verehrter Herr Brunotte, wirft ein Licht darauf, wie bei der SPD mit der Selbstständigkeit der Kommunen im Einzelfall umgegangen wird.

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Was sa- gen Sie zu den Mängeln?)

Sie trauen nämlich den Kommunen nichts zu und wollen sie im Einzelfall letztlich immer gängeln.

(Johanne Modder [SPD]: Das ist doch Quatsch! Sie wissen, dass das so nicht stimmt!)

Sie sind uns überdies die Auskunft schuldig geblieben, Frau Modder, mit welchem Aufwand Sie diese neue Verwaltung, die Sie nicht nur landesweit, sondern bundesweit etablieren wollen, für letztlich wenige Einzelfälle einrichten wollen. Außerdem wissen Sie ganz genau, dass dem ersten Schritt, der in diesem Antrag angelegt ist, sofort weitere Schritte folgen würden, wenn wir nämlich die lückenlose Aufsicht verlangen, d. h. die Doppelprüfung des Einzelfalls auf örtlicher Ebene dann auf Landesebene. Dann bleibt es nicht nur bei den Maßnahmen der Auslandspädagogik, sondern jede einzelne Maßnahme im Heim, jede Unterbringung in einer Pflegefamilie müsste letztlich mit den gleichen Argumenten ebenfalls doppelt geprüft werden.

(Zustimmung bei der FDP - Ursula Helmhold [GRÜNE]: Sagen Sie doch einmal etwas zu den Missständen!)

Meine Damen und Herren, die FDP erwartet von den örtlichen Trägern der Jugendhilfe, dass sie im Einzelfall nur mit solchen Trägern von Jugendhilfeprojekten im Ausland zusammenarbeiten, die sich nachprüfbar den hohen Standards des Arbeitskreises Auslandspädagogik unterziehen.

Im Übrigen bleibt es bei dem Grundsatz, der auch im SGB angelegt ist, dass die Auslandsunterbringung die Ausnahme ist, für die der Gesetzgeber, aber auch der örtliche Kämmerer hohe Hürden gesetzt hat.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Ursula Helmhold [GRÜNE]: Sagen Sie doch einmal etwas zu den Missstän- den!)

Zu einer Kurzintervention hat sich der Kollege Brunotte gemeldet. Bitte schön!

(Johanne Modder [SPD]: Kein Wort zu den Fehlentwicklungen! Alles ist gut! - Gegenruf von Norbert Böhlke [CDU]: Er hat nicht gesagt „Alles ist gut“!)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Riese, Sie können sich darin sicher sein, dass die SPD-Fraktion den Kommunen viel zutraut, weil wir wissen, dass es viele Kommunalpolitiker im ehrenamtlichen Bereich gibt, die sich vor allem in den Jugendhilfeausschüssen viele Gedanken über nachhaltige, präventive Arbeit in ihren Kommunen machen.

(Beifall bei der SPD)

Aber eines hat sich auch gezeigt: Es hat sich bei Weitem nicht bewährt, dass wir in den letzten Jahren in Niedersachsen all diese unterstützenden Maßnahmen für Kommunen abgebaut haben. Wir haben vorhin über die Landeszentrale für Politische Bildung gesprochen, die es nicht mehr gibt. Das Gleiche gilt auch für das Landesjugendamt, das eine fachliche Unterstützung der Kommunen an der Stelle mit leisten kann, weil es gerade nicht zum Alltagsgeschäft der Kommunen gehört, sich mit Auslandsprojekten auseinanderzusetzen. Wenn alles in Ordnung wäre, hätten wir es nicht mit diesen Fehlentwicklungen zu tun, die in einigen Bereichen deutlich zu merken sind.

Wir haben bei der Anhörung im Ausschuss sehr deutlich dargestellt bekommen, wie groß die Unsicherheit ist und wie schwierig es für die Kommunen und Landkreise ist, über diese Entfernung nachvollziehen zu können, was in den Auslandsprojekten stattfindet. Deswegen glauben wir, dass es sehr zielführend wäre, wenn sich das Land Niedersachsen seiner Verantwortung für diese Kinder und Jugendlichen stellt und eine vernünftige Fach- und Rechtsaufsicht gewährleistet, sodass es die Kommunen in ihren Entscheidungen qualifiziert unterstützen kann. Das kann aktuell leider nicht stattfinden, Herr Riese.