Protocol of the Session on June 21, 2006

Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines beitragsfreien Kindergartenjahres Gesetzentwurf der Fraktion der SPD Drs. 15/2943

und

Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung: Programm für ein familien- und kinderfreundliches Niedersachsen - Bildungsund Betreuungsangebote der Kindertagesstätten ausbauen - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 15/2920

Ich erteile Herrn Jüttner von der SPD-Fraktion das Wort. Bitte schön, Herr Jüttner!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Erwachsene neigen dazu, kleine Kinder systema

tisch zu unterschätzen. Kleine Kinder sind neugierig und wissbegierig. Sie sind so etwas wie Naturforscher. Sie verfügen über alles, was auch wir haben, aber ihnen fehlen die Erfahrungen. Sie sind auf dem Weg, sich diese Erfahrungen anzueignen.

(Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Das ist aber nichts Neues!)

Frau Dr. Elschenbroich hat uns dies am Wochenende auf einer großen Fachtagung, die wir durchgeführt haben, in Filmsequenzen eindrücklich dokumentiert.

Unsere Aufgaben als Erwachsene bestehen darin, Anregungen und Antworten zu geben und Räume für Erfahrungen zu öffnen. Unstrittig ist sicherlich: Die Eltern sind die erste Adresse. Dies muss auch so bleiben. Wir dürfen Eltern nicht aus ihrer Verantwortung für ihre eigenen Kinder entlassen; das ist überhaupt keine Frage.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir haben aber auch zur Kenntnis zu nehmen: Immer mehr Eltern sind immer weniger dazu in der Lage, dieser Verantwortung allein gerecht zu werden, sei es, dass Kinder mit Migrationshintergrund einfach eine höhere Hürde vorfinden oder dass im Bereich von bildungsfernen Schichten das Thema drastisch unterschätzt wird. Aber - darauf will ich ausdrücklich hinweisen - es gibt auch Entwicklungen, und zwar in dem, was wir „bürgerliche Elternhäuser“ nennen, bei denen geistige und mediale Verwahrlosung auf der Tagesordnung steht und bei denen es überhaupt nicht mehr ausreicht, aus diesen Elternhäusern heraus die notwendigen Anstöße für eine umfassende Bildungspraxis zu gewährleisten.

Eine gesellschaftliche Entwicklung kommt hinzu: Geschwisterarmut ist ein Punkt, der dazu führt, dass wir Einrichtungen brauchen, in denen Kooperation und Konkurrenz unter Kindern praktisch erlebbar werden. Deshalb, meine Damen und Herren, brauchen wir hier und heute Einrichtungen, brauchen wir Kindertagesstätten zur vollständigen Abrundung von Persönlichkeitsentwicklungen.

(Beifall bei der SPD)

Der Begriff „Kindergarten“ ist in Deutschland erfunden und entwickelt worden und um die Welt gegangen. Es gibt Sprachen, die das Wort „Kindergarten“ in seiner deutschen Fassung übernommen haben. Aber zum Erfolgsmodell, meine

Damen und Herren, sind Kindergärten woanders gemacht worden. Die Entwicklung in Deutschland stagniert.

(Ursula Körtner [CDU]: Das hat die SPD verschuldet!)

- Frau Körtner, ich glaube, Sie sind sich der Problematik, über die wir gegenwärtig reden, überhaupt nicht bewusst.

(Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der CDU)

Das ist Abteilung „kleine Münze“: Wir gut, ihr schlecht. - Mit einer solchen kleinen Münze ein Thema anzugehen, ist kleinkariert, wie es schlimmer nicht geht, Frau Kollegin.

(Beifall bei der SPD)

In anderen Ländern ist der Kindergarten ein Erfolgsmodell, bei uns tritt die Politik auf der Stelle. Inzwischen fließen nur noch 0,4 % der öffentlichen Ausgaben in den Bereich der vorschulischen Bildung, meine Damen und Herren. Wir fallen hinter alle anderen vergleichbaren Länder deutlich zurück. Der vorschulische Bereich ist der schwierigste und unbedienteste in der gesamten Bildungslandschaft; er ist der Schwachpunkt der deutschen Bildungslandschaft.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Aber nicht in Niedersachsen!)

Dies ist überhaupt nicht akzeptabel. Es ist nicht akzeptabel, dass die öffentlichen Ausgaben für den vorschulischen Bereich in den letzten drei Jahren sogar noch rückläufig gewesen sind, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Der erstmalig - zu Beginn dieses Monats - veröffentlichte deutsche Bildungsbericht hat dies dokumentiert.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Aber nicht in Niedersachsen!)

- Nicht in Niedersachsen! Da kommt der Nächste mit der kleinen Münze, Herr Klare. Das ist doch Unfug!

(Hans-Werner Schwarz [FDP]: Das ist richtig!)

Das gilt für Niedersachsen an einigen Stellen noch schärfer. Herr Klare, wie wollen Sie der niedersächsischen Bevölkerung erklären, dass wir in Niedersachsen nicht einmal 2,5 % an Krippenplätzen vorhalten? Ist das ein Ausweis von Stärke? Das ist peinlich für die Politik!

(Beifall bei der SPD)

In Niedersachsen haben wir die Situation, dass 10 % eines Jahrgangs keinen Kindergarten von innen sehen, meine Damen und Herren. Die Situation hat sich in den letzten Jahren übrigens nicht verändert, sondern ist kontinuierlich so weitergegangen - und das trotz der öffentlichen Debatte, die diesem Sektor des Bildungswesens eine größere Aufmerksamkeit zugebilligt hat. Es ist unheimlich dramatisch, dass insbesondere die Elterngeneration noch immer darüber entscheidet, wer welchen Bildungsweg einschlägt. Kinder aus Haushalten, in denen die Eltern Abitur haben, werden viel eher in den Kindergarten geschickt als Kinder mit Migrationshintergrund und aus sozial schwachen Familien, in denen die Eltern keinen Hauptschulabschluss haben, meine Damen und Herren.

(Christa Elsner-Solar [SPD]: Das kann nicht so bleiben!)

Wir wissen, was das in der Konsequenz heißt: Vernachlässigte Frühförderung verstärkt die bereits vorhandene soziale Ungerechtigkeit im deutschen Bildungswesen.

(Beifall bei der SPD)

Wir wissen, dass viele Talente dadurch unentdeckt bleiben. Wir wissen, dass optimale Förderung auf diese Weise nicht leistbar ist und Defizite im späteren Bildungsweg nicht aufgeholt werden können, meine Damen und Herren.

Ich stelle fest: Der vorschulische Bereich ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen darüber nachdenken, ob es in Ordnung ist, dass die Bundesseite mit Elterngeld und Kindergeld kommt und dann das Thema aus ihrer Sicht für erledigt erklärt. Die Länder und Kommunen dürfen beim Thema vorschulische Bildung nicht allein gelassen werden.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb - dies hätte ich dem Ministerpräsidenten gerne ins Stammbuch geschrieben, aber er hat ja augenscheinlich anderes zu tun - ist es aus meiner

Sicht nicht akzeptabel, dass im Rahmen der Föderalismusreform das Kooperationsverbot für den schulischen Bereich aufrechterhalten bleiben soll.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen darüber nachdenken, wie wir aus Sicht des Landes Anregungen dazu geben können, damit wir dieser Aufgabe gerecht werden können. Die Finanzströme, wie sie heute da sind, müssen überprüft werden.

Wir brauchen einen Aktionsplan „Vorschulische Bildung“. Er umfasst eine Reihe von Bausteinen, und, meine Damen und Herren, er umfasst auch den Baustein „Gebührenfreiheit für die Eltern“.

Wir haben in den letzten Jahren viele kluge Reden gehört. Wir haben überhaupt kein Erkenntnis- und Erfahrungsdefizit, aber wir haben ein riesiges Handlungsdefizit, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb haben wir Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, wonach zum 1. August 2007 die Gebührenfreiheit für ein Jahr eingeführt werden soll. Das Land übernimmt die Finanzierung. Wir wollen mit dem Gesetz gewährleisten, dass die Flexibilität bei den Kommunen erhalten bleibt

(David McAllister [CDU]: Haben Sie einen Goldesel im Garten?)

und dass es dabei zu einer unbürokratischen Ausgestaltung kommt. Die Finanzierung ist einfach.

(David McAllister [CDU]: Der Duka- tenesel schüttet aus! - Karl-Heinz Kla- re [CDU]: Ja, alles ist einfach! - David McAllister [CDU]: Ja, wie denn? Ver- mögensteuer?)

- Ich will es Ihnen erklären.

Meine Damen und Herren, im nächsten Jahr kommen 72 351 Dreijährige in die Kitas. Bei den Sechsjährigen werden es etwas über 78 000. Da die Kommunen das in eigener Regie gestalten können, haben wir einen Mittelwert gegriffen, die Zahlen des Kultusministeriums zugrunde gelegt. Wir haben bei unseren Finanzberechnungen sogar unterstellt, dass 100 % aller niedersächsischen Kinder die Kindertagesstätten besuchen. Wir wissen, dass das mittelfristig nicht der Fall ist. Aber damit will ich Ihnen dokumentieren, dass bei den Zahlen, die wir genommen haben, davon ausge

gangen werden kann, dass wir dort eine Entwicklung bekommen und die tatsächlichen Kosten, die anfallen werden, in nächster Zeit darunter liegen werden. An dieser Stelle ist besonders vorsichtig gerechnet worden.