Protocol of the Session on November 10, 2005

Wir brauchen nicht nur eine rechnerische, sondern eine echte Ausweitung der Kapazitäten. Niemand kann wollen, dass wegen des Mangels an Studienplätzen der Druck auf den Ausbildungsmarkt noch größer wird und dass Real- und Hauptschulabgänger überhaupt keine Chance mehr haben. Es muss jetzt begonnen werden, wenn Niedersachsen rechtzeitig gerüstet sein will. Schlagzeilen wie „Hilflos vor dem Studentenberg“ können wir nicht gebrauchen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Herzlichen Dank, Frau Graschtat. - Für die CDUFraktion Herr Professor Dr. Brockstedt, bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der im Juni 2003 beschlossenen Schulreform haben wir uns in diesem Haus für das Abitur nach zwölf Jahren entschieden. Damit war klar: Wir werden im Schuljahr 2011/2012 einen doppelten Abiturjahrgang haben.

Schauen wir über die Grenzen Niedersachsens hinaus, so stellen wir fest: Fast alle Bundesländer haben inzwischen das Abitur nach zwölf Jahren eingeführt. Alle diese Länder haben entsprechend zwischen 2007 und 2014 einen doppelten Abiturjahrgang. In Schleswig-Holstein hat man sich heute im Landtag mit diesem Thema beschäftigt. Dabei forderte der Sprecher der Grünen für die besten Schüler ein Abitur sogar nach elf Jahren.

(Hans-Christian Biallas [CDU]: Was?)

Im Landtag haben wir uns in der Sitzung am 6. Oktober schon einmal mit diesem Thema beschäftigt. Wir sind also nicht ganz ahnungslos. Frau Graschtat, wir haben uns in der Tat gewundert, woher Sie die Aussage haben, dass 4 200 Studienplätze vernichtet seien. Wir konnten uns das gar nicht vorstellen. Dann haben wir festgestellt: Mensch, Sie meinen ja die Zahl der Studienplatzbewerber und damit der Anfänger, die in dieser Zeit zurückgegangen ist. Aber vernichtet sind diese Studienplätze nicht.

Würden wir heute so vorgehen, wie Sie als SPD es damals getan haben, dann würden wir heute eine Kommission gründen, wir würden dann eine Beratungsfirma engagieren, man würde die Ergebnisse prüfen und davon gar nichts umsetzen. - Wir wollen anders vorgehen, und wir machen das auch anders. Sie haben das ja an den bisherigen Aktivitäten dieser Landesregierung und der sie tragenden Fraktionen gesehen. Wir stellen uns unserer Verantwortung und auch unserer Zukunft.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Walter Meinhold [SPD]: Die haben wir gesehen, Ihre Aktivitäten!)

Herr Minister Stratmann sagte in seiner Rede zur Großen Anfrage der Fraktion der Grünen, bezugnehmend auf die durch den Bologna-Prozess ausgelösten Entwicklungen im Hochschulbereich, dass sich die Hochschullandschaft ab 2010 erheblich von der durch Traditionsstrukturen und Abschlüsse geprägten Landschaft des Jahres 2005 unterscheiden wird. Ich kann ihm darin nur zustimmen.

Mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses sind wir in Niedersachsen besonders weit. Die Umstellung auf Bachelor- und Masterstrukturen wird bei den meisten Studiengängen im Jahre 2007 abgeschlossen sein. Ab dann können wir das Studierendenverhalten beobachten, bewerten und Prognosen für die Jahre 2011, 2012 und folgende stellen und darauf basierende Vorschläge ausarbeiten.

Die Frage ist nämlich, wie viele der Hochschulzugangsberechtigten dann ein Studium aufnehmen werden. Zurzeit nehmen gerade 40 % der Hochschulzugangsberechtigten im Jahr des Erwerbs ihrer Zugangsberechtigung ein Studium auf, im folgenden Jahr sind es 30 %, im dritten Jahr noch etwas weniger.

Wir wissen heute noch gar nicht, wie sich das Verhalten in Abhängigkeit von Bachelor und Master verändern wird. Werden sich die Studienzeiten durch Modularisierung verkürzen? Wird sich die Einführung von Studiengebühren studienzeitverkürzend auswirken? - All das werden wir erst in wenigen Jahren wissen. Das können wir dann auswerten, und dann können wir darauf reagieren.

Auf jeden Fall können wir nicht davon ausgehen, dass sich die Zahl der 55 400 Hochschulzugangsberechtigten in den Jahren 2011 und 2012 direkt auf die Hochschulen auswirken wird. Es wird eine

deutlich kleinere Anzahl als diese 55 400 auf die Hochschulen zugehen. In den Jahren nach 2012 werden ebenfalls mehr Hochschulzugangsberechtigte als in den Jahren vor 2011 auf die Hochschulen zugehen. Das Ganze wird sich im Hochschulalltag bis zum Jahre 2020 auf die Größen der Studierendengruppen - sprich: der Semesterstärken - auswirken. Nicht nur das Jahr 2011 ist also ein Problem, sondern wir müssen die ganze Zeit bis 2020 berücksichtigen.

Meine Damen und Herren, wir beschäftigen uns, wie ich vorhin schon sagte, seit 2003 mit diesem Thema. Bereits im Jahre 2007 gibt es in den ersten Bundesländern einen doppelten Abiturjahrgang. Aus diesen Erfahrungen werden wir auch für Niedersachsen Lehren ziehen können. Nach dem doppelten Abiturjahrgang in Niedersachsen in 2011/2012 wird es an unseren Schulen kein 13. Schuljahr mehr geben.

(Wolfgang Wulf [SPD]: Das wissen wir alles!)

Viele Lehrer werden plötzlich ohne Schüler dastehen. Geeignete Lehrer können wir sicherlich, wenn sie geneigt wären, für eine Übergangszeit an Universitäten und Fachhochschulen als wissenschaftliche Mitarbeiter in der Lehre beschäftigen. Zum Vertrauensschutz für die Studierenden, die sich heute für das Lehramtsstudium am Gymnasium entscheiden, wird aber auch zählen, dass sie 2012 und in den Folgejahren eingestellt werden und nicht erst warten müssen, bis die dann überzähligen Lehrer nicht mehr im Schuldienst sind. Das alles können wir sicherlich zufrieden stellend lösen, wenn wir den Zusammenhang von Schule und Hochschule betrachten. Dann muss man sich auch überlegen, was die Hochschulen selber leisten können. Man könnte vielleicht den Lehranteil an ihren Gesamtaktivitäten steigern, ohne die Forschung zu vernachlässigen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Universitätsprofessoren für einen festgelegten Zeitraum, wenn man sie vielleicht hinterher an anderer Stelle entlastet, zehn oder zwölf Stunden statt acht Stunden in der Lehre tätig werden.

(Zuruf von der CDU: Das machen die sofort!)

Vorlesungs-, Seminar- und Übungsräume sowie Labore können deutlich effektiver genutzt werden. Wo steht denn geschrieben, dass Vorlesungen nicht vor 8 Uhr morgens stattfinden und dass sie

auch nicht nach 20 Uhr stattfinden dürfen? Ich habe 1989 in Weimar auch Vorlesungen um 7 Uhr morgens gehalten. Das war für mich als Wessi ein interessantes Phänomen, um 7 Uhr auf der Matte zu stehen.

(Zuruf von der CDU: Auch an der Uni Hannover!)

Wir werden auch noch erleben, dass unsere Schulen im Jahre 2012 leer stehende Klassenräume haben, weil das 13. Schuljahr wegfallen wird. Wir können dort, wo es möglich ist, sicherlich auch Räume für die Hochschulen anmieten. Das sind durchaus einfache, praktische Vorschläge, die es umzusetzen gilt.

Aber entscheidend wird sein: Wir müssen betrachten, wie sich die Hochschullandschaft bis 2012 und darüber hinaus entwickeln wird, welche Probleme, die wir heute vielleicht noch gar nicht sehen, sich neu ergeben werden. Die alten Probleme, die neuen Probleme, auf all das zusammen müssen wir reagieren. Heute übereilt Entscheidungen zu treffen, kann es nicht sein. Unsere Aufgabe muss es sein, dann zeitnahe und praxisgerechte Lösungen zu finden. Natürlich müssen wir heute mit den Überlegungen anfangen. Wir müssen die Zahlen betrachten. Ich glaube, unser Ministerium, aber auch wir werden das ganz genau beobachten.

Die Kultusministerkonferenz auf Bundesebene - Frau Graschtat hat es ja auch schon gesagt bearbeitet jetzt auf Initiative Niedersachsens dieses Thema. Wir werden die Erfahrungen der Länder berücksichtigen, die diesen doppelten Abiturjahrgang schon vor uns hatten.

Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben auch schon bei der Schulreform 2004, bei der Auflösung der Bezirksregierungen und bei vielen anderen Aufgaben und Aktivitäten der Landesregierung gesehen, dass wir das durchaus können, dass wir Probleme nicht nur bestaunen, wie wir es aus Ihrer Regierungszeit kennen, sondern die Probleme werden erkannt und analysiert. Dann wird angepackt, und die Probleme werden gelöst. Seien Sie gewiss: Dieses Thema ist bei uns in guten Händen. Wie gesagt, der vorliegende Antrag erscheint mir etwas verfrüht. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herzlichen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Frau Kollegin Dr. Heinen-Kljajić das Wort. Bitte!

(Jörg Bode [FDP]: Eigentlich war schon alles gesagt!)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon die Beantwortung unserer Großen Anfrage im letzten Plenarabschnitt hat deutlich gemacht, dass diese Landesregierung Probleme, die sich jenseits der laufenden Legislaturperiode akut stellen, lieber ausblendet. Nach den Ausführungen des Kollegen Brockstedt hat sich daran auch nichts geändert.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Aussagen, dass die Hochschulen aus eigener Kraft in der Lage sein werden, die steigenden Studierendenzahlen und den doppelten Abiturjahrgang im Jahre 2011 zu bewältigen, müssen jetzt aber auch Sie, Herr Minister Stratmann, nach Veröffentlichung der KMK-Zahlen revidieren.

Lieber Herr Kollege Brockstedt, es nutzt dann auch nichts, das Problem schönzurechnen. Sie wollen natürlich dieses Problem aussitzen, weil eine Inangriffnahme dieses Problems schlagartig die Fehlsteuerung Ihrer Hochschulpolitik deutlich machen würde. Denn wer in großem Umfang wie Sie Studienplätze abbaut, hat in der Tat ein Problem, wenn er plötzlich eine Lösung für eine rasant ansteigende Zahl von Hochschulzugangsberechtigten vorlegen soll.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Meine Damen und Herren, der Anstieg der Zahl der Studienanfänger wird nach den neuen Zahlen noch gewaltiger sein, als bisher angenommen. Bis 2020 wächst die Zahl ohnehin. Zwischen 2010 und 2014 wird durch die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur bundesweit eine zusätzliche Spitzenlast erwartet. In Niedersachsen wird demnach die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten von heute 23 700 auf 53 400 im Jahre 2011 steigen, d. h. sie wird sich für einen kompletten Studienzyklus mehr als verdoppeln.

Gleichzeitig läuft die Umstellung auf Bachelor und Master, welche eine Verbesserung der Betreu

ungsrelation zwischen Lehrenden und Studierenden erfordert, ohne das Aufstocken der Betreuungsrelation. Auch hier haben wir eine andere Einschätzung, als sie eben von dem Kollegen Brockstedt vorgetragen worden ist. So - das ist übrigens auch die Expertenprognose - wird die Studienreform scheitern.

Meine Damen und Herren, ich glaube allerdings nicht, dass die Länder wirklich aus eigener Kraft in der Lage sein werden, dieses Problem zu lösen. Ich kann die einzelnen Forderungen des SPDAntrages inhaltlich unterstützen. Ihr Antrag, liebe Kollegen von der SPD, greift aber an einer ganz entscheidenden Stelle zu kurz. Damit, woher die notwendigen finanziellen Mitteln kommen sollen, setzt er sich nämlich nicht auseinander. Ohne ein Bundesprogramm wird das Problem nicht zu lösen sein.

(Beifall von Ina Korter [GRÜNE])

Der erforderlichen Bundeslösung steht aber der zwischen SPD und CDU in Berlin ausgehandelte Kompromiss zur Föderalismusreform im Wege,

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

der den Ländern künftig die alleinige Zuständigkeit für die Bildung und deren Finanzierung übertragen will.

Was bedeutet das für den doppelten Abiturjahrgang? - Erstens werden, wie gesagt, die Länder nicht in der Lage sein, die notwendigen Programme selbständig zu finanzieren. Zweitens werden Absprachen zwischen den Ländern mit Sicherheit nicht dazu führen, dass diese ihre spezifischen Interessen aufgeben werden. Da halte ich es dann, ehrlich gesagt, für illusorisch, auf die KMK zu verweisen.

Ich will Ihnen das an einem Beispiel erläutern, meine Damen und Herren. Während in den alten Bundesländern die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten sprunghaft ansteigen wird - sie wird sich mehr als verdoppeln -, wird im gleichen Zeitraum in allen neuen Bundesländern, ausgenommen Brandenburg, die Zahl der Studierenden um mehr als die Hälfte zurückgehen. Angesichts dieser Entwicklung wäre es Irrsinn, wenn die neuen Bundesländer ihre Studienplatzkapazitäten abbauen würden. Sie werden es aber trotzdem tun. Denn warum sollte beispielsweise Thüringen den Studentenberg Niedersachsens finanziell auffangen?

Ich glaube, an dieser Stelle wird klar, dass der schwarz-rote Kompromiss in Sachen Bildungsföderalismus in eine Sackkasse führt.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Ich kann Sie daher auf beiden Seiten dieses Hauses nur dazu aufrufen, Ihren Verhandlungsführern in Berlin diese Problematik noch einmal verschärft nahe zu bringen. Auch die Hochschulrektorenkonferenz und der Wissenschaftsrat wüssten das zu schätzen; denn sie teilen unsere Auffassung. Immerhin hat jetzt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers auch schon einen Vorschlag in diese Richtung gemacht.

Meine Damen und Herren, nichtsdestotrotz steht in erster Linie das Land in der Verantwortung. Herr Minister Stratmann, stellen Sie sich also endlich Ihrer Verantwortung! Nehmen Sie zur Kenntnis,

(Reinhold Coenen [CDU]: Das tut er doch!)

dass Ihr Hochschulentwicklungskonzept mit seinem Abbau von Studienplätzen genau in die falsche Richtung steuert, und leugnen Sie nicht länger das Problem!

Frau Dr. Heinen-Kljajić, Sie müssen zum Schluss kommen. Einen letzten Satz gestatte ich Ihnen.