Protocol of the Session on March 5, 2003

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Deutschland insgesamt liegt im OECD-Bericht in diesem Bereich auf Platz 23 unter 26 Vergleichsländern. Bei den Studienabschlüssen sieht es ähnlich aus. Mit 16 % je Altersjahrgang liegen wir weit unter dem OECD-Durchschnitt von 25 %. Bis zum Jahre 2010 werden insgesamt 2,4 Millionen neue Hochschulabsolventen benötigt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung stellen fest, dass in Zukunft der Bedarf an Absolventen mit einer Hochschulqualifikation in den Betrieben größer wird als der an Absolventen mit einer dualen Berufsausbildung. Das ist eine Zukunftsfrage, der Sie sich widmen müssen. – Keine Antwort darauf!

Statt dessen zurück in die 60er-Jahre mit einem „begabungsgerechten Schulsystem“. Was heißt für Sie eigentlich „begabungsgerecht“? Glauben Sie wirklich, dass bei Kindern nach der vierten Klasse bereits endgültig sichtbar ist, wozu sie für den Rest ihrer Schulzeit begabt sind? Sind wirklich 30 Jahre pädagogischer Debatte an Ihnen vorbeigegangen? Sie müssen doch wissen, dass das keine Antwort auf die hochkomplexe Lebenssituation unserer Kinder und Jugendlichen mehr ist.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir können von mir aus über Sinn und Unsinn des Förderstufenmodells aus unserer Regierungszeit trefflich streiten.

(Zustimmung von Rebecca Harms [GRÜNE])

- Rebecca, gerne. - Aber eines stand im Mittelpunkt – das geben Sie auf –, dass es nämlich in den entscheidenden Phasen nach der Grundschule in den Klassen 5 und 6 nicht auf die Schulform, sondern auf die Schülerinnen und Schüler ankommt und dass wir diese fördern müssen. Wo ist denn der Fördergedanke für die Klassen 5 und 6 bei Ihnen geblieben? - Sie wollen sortieren; mehr nicht!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Warten Sie einmal ab, bis die Eltern merken, was Sie da vorhaben. Das wird eine schöne Debatte. Seit 30 Jahren wird in Deutschland – auch bei Ihnen – über eine Stärkung der Hauptschule schwadroniert. Aber jedes Jahr ist sie schwächer geworden. Warum denn?

(Friedhelm Biestmann [CDU]: Durch Ihre Arbeit!)

Doch nicht deshalb, weil in der Hauptschule schlechter gearbeitet wird oder weil die Lehrer das nicht wollen,

(Zuruf von der CDU)

sondern weil die Eltern und Schüler wissen, dass ihre Chancen dramatisch schlechter werden, je geringer ihre formale Qualifikation an der Schule ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich will Ihnen keine Nachhilfe erteilen, aber schauen Sie sich doch in diesem Zusammenhang einmal die Reform der beruflichen Bildung an.

(Zuruf von der CDU)

- Ich kann mir vorstellen, dass Sie von der Reform der beruflichen Bildung bei industriellen Metallund Elektroberufen nichts verstehen. Dann müssen Sie sich das aber sagen lassen. In den 80er-Jahren sind die Qualifikationsanforderungen – fragen Sie einmal unseren Kollegen Lenz – derartig nach oben gedrückt worden, dass allein wegen der theoretischen Anforderungen die klassischen Hauptschülerinnen und Hauptschüler das nicht mehr geschafft haben. Deshalb stimmen sie mit den Füßen ab, weil die Eltern wissen, dass sie so große Probleme haben.

(Ursula Körtner [CDU]: Die haben in der Tat abgestimmt!)

Sie kämpfen um eine Schulform, wir aber kämpfen um die Schülerinnen und Schüler und deren Berufsperspektive, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich sage Ihnen einmal, wer der Hauptschule das Wasser abgräbt - aber Gott sei Dank nicht in allen Bereichen. Es gibt Regionen in Niedersachsen mit starken und guten Hauptschulen. Keine Frage.

(Ursula Körtner [CDU]: Ach ja?)

Aber schauen Sie einmal in viele Großstädte und mittelgroße Städte, was dort läuft. Dort findet eine Abstimmung mit den Füßen statt. Auch Sie werden doch nicht eine überhöhte oder doppelte Lehrerbesetzung für Arbeitsgemeinschaften oder für Fachlehrerunterricht an die Hauptschulen bringen, son

dern Sie wollen mehr Schülerinnen und Schüler an die Hauptschulen bringen. Sie wollen die Abstimmung mit den Füßen rückgängig machen. Sie müssen einmal erklären, wie Sie das mit Ihrem Wunsch nach freiem Elternwillen in Übereinstimmung bringen wollen.

(Beifall bei der SPD)

Die Eltern haben die Komplexität der Berufsausbildung zur Kenntnis genommen; Sie noch nicht. Deswegen entscheiden sich die Eltern. Wenn Sie das verhindern wollen, werden Sie das nicht durch noch so viele Ressourcen für die Hauptschule verbessern, sondern dann werden Sie den Elternwillen binden müssen, wie dies übrigens das Handwerk in Niedersachsen konsequent fordert.

Wir haben uns dieser Forderung des niedersächsischen Handwerkes immer verschlossen. Wir wollten den freien Elternwillen.

Das wird eine ganz spannende Debatte und eine schöne Schlussbilanz Ihrer Regierung in fünf Jahren. Wollen wir einmal gucken, was dabei hinsichtlich der Hauptschule herausgekommen ist.

(Zuruf von Friedhelm Biestmann [CDU])

Ich sage in diesem Zusammenhang auch ganz offen: Mit dem Wechsel vieler Hauptschulempfohlener zur Realschule besteht die Gefahr der Abwertung der Realschulabschlüsse; das ist keine gute Situation. Wer beides nicht will, die Abstimmung mit den Füßen und die Entwertung der Realschulabschlüsse, darf nicht rückwärts in die Dreigliedrigkeit gehen, sondern der muss vorwärts zur Kooperation von Haupt- und Realschule gehen! Das ist das eigentliche Thema.

(Beifall bei der SPD - Friedhelm Biestmann [CDU]: In die Gesamt- schule!)

- Ich schreibe mir am besten keine Rede mehr auf. Man kann sich auf Sie verlassen; natürlich kommt der Pawlowsche Reflex: Der muss in die Gesamtschule gehen. – Ich sage Ihnen mal eines: Nicht wir haben ein Gesamtschulproblem, sondern Sie. Sie haben irgendwie ein ideologisches Problem. Sie schnappen immer gleich zu, wenn jemand von Zusammenarbeiten spricht. Besuchen Sie einmal Real- und Hauptschulen. Die sitzen zum Teil in einem Gebäude. Die Lehrerzimmer befinden sich in einem Raum: zwei Tische. – Jeder Lehrertisch

beantragt bei der Landesregierung getrennt voneinander die Einrichtung einer Ganztagsschule. Das ist doch abenteuerlich. Jeder Betrieb würde pleite gehen, wenn er einen solchen Blödsinn machen würde.

(Beifall bei der SPD)

Ich gehe, damit Sie ein wenig Futter für die Gesamtschuldebatte bekommen, sogar einen Schritt weiter. Ich bin nicht nur für Kooperative Hauptund Realschulen. Ich bin natürlich dafür, dass möglichst überall eine Kooperation zwischen Hauptschule, Realschule und Gymnasium existiert. Das ist das, was wir brauchen.

(Beifall bei der SPD)

Das ist nichts, was in Ihre Ideologie zur Gesamtschule passt. Bei der kooperativen Schule befinden sich Hauptschule, Realschule und Gymnasium unter einem Dach; mit eigenen Schulabschlüssen für jede Schulform, aber – das ist das Entscheidende für die Hauptschüler und auch für die Realschüler – mit Durchlässigkeit in alle Richtungen, in allen Fächern, mit Kooperation in der Sprach- und Frühförderung gemeinsam mit Kindergärten und Grundschulen. Das ist eine Schule der Zukunft, meine Damen und Herren, und nicht der Dreiklassen-Waggon der 50er- und 60er-Jahre.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sie werden sich rechtfertigen müssen, wie Sie das hinkriegen wollen. Der Knackpunkt ist der Elternwille; wenn Sie den nicht binden wollen, dann gibt es weiterhin die Abstimmung mit den Füßen und keine Chance für die Hauptschule. Ich will den Hauptschulabschluss, den Realschulabschluss und den Gymnasialabschluss behalten; keine Frage. Geben Sie den Kindern und Jugendlichen die Chance, natürlich auch für Hauptschülerinnen und Hauptschüler, und geben Sie vor allem dem Wirtschaftsstandort Niedersachsen ausreichend qualifiziert ausgebildete Schulabgängerinnen und Schulabgänger. Schauen Sie sich bitte einmal an, wie heute in einem mittelständischen Betrieb Elektrotechniker oder Industriemechaniker ausgebildet werden. Der Betriebsschlosser der 70er-Jahre hatte zwei Seiten Ausbildungsverordnung; der Industriemechaniker mit der Fachrichtung Werkzeugtechniker hat über 100 Seiten. Das ist die Realität, die Sie entwickelt haben. Deswegen finden Hauptschüler bald keine Chancen mehr; daher brauchen

wir nicht nur die 10. Klasse, sondern auch die Kooperation mit Realschulen.

Natürlich muss das Angebot der Ganztagsschule erhalten werden - nicht als Pflicht für alle Schülerinnen und Schüler - das wollten wir auch niemals -, aber wir wollen natürlich qualifizierte pädagogische Angebote, durchaus in Kooperation mit freien Trägern, Vereinen und dem Sport, aber eben nicht als billige Verwahranstalt für den Nachmittag. Wir werden in der inhaltlichen Debatte einmal schauen, wie Sie das finanzieren werden und was Sie aus Ihren Versprechungen machen.

Natürlich sind diese Ganztagsschulen auch für Familien von Bedeutung, vor allem für Frauen, die berufstätig bleiben wollen und müssen. Kinderund Familiengeld, meine Damen und Herren, sind für viele Frauen kein Ersatz für eine eigene berufliche Perspektive und Absicherung im Alter. Nicht jede Frau und nicht jede Familie kann sich hauptberufliche Nannys leisten.

Die Interessen von Frauen unterliegen aber bei Ihnen inzwischen einem besonders rustikalen Charme - einmal abgesehen davon, dass der Frauenanteil im Kabinett gesunken ist -; die Anzahl von emanzipatorisch denkenden Männern, Herr McAllister, offenbar auch. Denn was stand in der Zeitung? - Nach Auffassung der Männer in der CDUFraktion sei die Frauenriege der CDU nur für Tupper-Partys geeignet.

(Zuruf von der SPD: Was?)

- Ich weiß nicht, warum ich bei dem Satz immer an bestimmte Menschen gedacht habe - als wörtliche Zitatengeber. Das stand in der HNA vom 19. Februar 2003. - An die Damen in der CDUFraktion gerichtet: Wir verteidigen Sie gerne gegen solch einen Blödsinn.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich habe das nur aus einem Grund gesagt. Gestern, Herr Ministerpräsident, haben Sie die Kollegin Bührmann an der Stelle angemacht. Ihnen täte eine Frauenministerin auch ganz gut. Ich meine, das wäre nicht schlecht.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Friedhelm Biestmann [CDU]: Die haben Sie abgeschafft!)

- Ich meine, wir haben das gemacht, was Sie immer wollten. Als wir sie jedoch abgeschafft haben,

gingen wir nicht davon aus, dass bei Ihnen solche Machos und Chauvies sitzen. Sonst hätten wir das nicht gemacht.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Zuruf von der CDU: Ich war davon ausgegangen, dass hier im Landtag Niveau herrscht!)