Protocol of the Session on November 9, 2006

1993 ist § 4 in das Niedersächsische Schulgesetz aufgenommen worden, der verlangt, dass in der Regel Schülerinnen und Schüler, die einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen, an allen Schulen gemeinsam mit anderen Schülern erzogen und unterrichtet werden sollen.

(Daniela Pfeiffer [CDU]: Das geht überhaupt nicht!)

Dennoch stagniert die Integration seit 1994. 260 Kinder mit geistiger Behinderung besuchen Integrationsklassen, aber 6 150 eine Förderschule. Das ist eine Integrationsquote von gerade einmal 4 %. Insgesamt wurden im vergangenen Schuljahr nur 771 Kinder mit besonderem Förderbedarf in Integrationsklassen gemeinsam mit anderen Kindern unterrichtet, während fast 40 000 Kinder eine Förderschule besuchten. Meine Damen und Herren, das ist beschämend wenig Integration.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Integrationsklassen sind noch immer die Ausnahme und nicht die Regel. Auch am Konzept der sonderpädagogischen Grundversorgung nehmen nur 19 % der Grundschulen teil. Anträge auf die Aufnahme weiterer Schulen in dieses Integrationskonzept, z. B. von der Stadt Bramsche, liegen schon seit langem im Kultusministerium auf Eis. Dagegen ist seit 1995 der Anteil der Kinder, die in den Klassen 1 bis 10 eine Förderschule besuchen, von 3,4 % auf 4,4 % angestiegen. Tatsächlich haben wir also einen deutlichen Rückschritt bei der Integration.

Nachdem die integrative Erziehung in den Kindertagesstätten hervorragend läuft, stehen die Eltern dieser erfolgreich geförderten Kinder beim Wechsel in eine Grundschule vor einem immensen Problem, wenn es darum geht, einen integrativen Schulplatz zu suchen. Noch immer müssen sie dort als Bittsteller auftreten. In den meisten Fällen - das wissen Sie auch aus der Anhörung im Ausschuss zum Thema „Autismus“ - bleiben diese Eltern erfolglos. Die Zahlen belegen das. Wenn sie es dann doch tatsächlich irgendwann geschafft haben, bleibt die integrative Schulzeit oft auf die Primarstufe beschränkt; danach kommt das Kind doch auf eine Sonderschule - jetzt Förderschule.

Meine Damen und Herren, wenn Integrationsklassen und regionale Integrationskonzepte nicht weiterhin nur Alibifunktionen haben sollen, dann sind dringend und sofort Konzepte erforderlich, wie der im Grundgesetz durch den Gleichheitsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot formulierte Anspruch der beeinträchtigten Kinder auf Unterricht an Regelschulen flächendeckend verwirklicht werden kann. Wir brauchen anspruchsvolle Ziele für deutlich mehr Integration an der Sekundarstufe, und wir brauchen Konzepte, wie die Kinder der

Primarstufen der Förderschulen nach und nach in die allgemeinen Grundschulen überführt werden können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Fachkräfte der Förderschulen sollen dabei als Unterstützung an die Grundschulen gehen, und die Grundschulklassen mit Integrationsschülern müssen abgesenkte Klassenfrequenzen erhalten.

Meine Damen und Herren, die Förderung von Kindern mit besonderem Bedarf muss im Primarstufenbereich bereits in den nächsten fünf Jahren von der Ausnahme zur Regel werden. Diese Kinder gehören von Anfang an dazu und dürfen nicht an andere Schulen sortiert werden. Der Ausbau der Integration, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird gerade im Primarbereich durch die deutlich zurückgehenden Schülerzahlen erleichtert. Von den ca. 184 Förderschulen in Niedersachsen mit dem Schwerpunkt Lernhilfe haben nach meiner Zählung 43 weniger als 20 Kinder in den Klassen 1 bis 4. Das bedeutet: sehr kleine Klassen, weite Transporte in den ländlichen Räumen - oft einzelner Kinder mit dem Taxi zur Schule -, hohe Kosten für das Land und für die Schulträger. Dabei ginge es doch so einfach: Alle Kinder gehen gemeinsam mit den Kindern aus der Nachbarschaft in die Grundschule vor Ort. Ausgebildete Förderkräfte unterstützen vor Ort. Weite Wege und lange Fahrzeiten für die Kleinsten werden vermieden. Alle profitieren davon.

Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass das nicht teurer wird als das jetzige selektive System, sondern sogar kostengünstiger. In der Antwort auf meine Kleine Anfrage vom 26. Juli dieses Jahres konnte die Landesregierung keine Auskunft über die tatsächlich beim Land und bei den Schulträgern entstehenden Kosten für die Primarstufen der Förderschulen geben. Eine Darstellung der finanziellen Auswirkungen, die auch die Schülerbeförderungskosten, die baulichen Leistungen einschließlich der Folgekosten für die Kommunen mit einbezieht, würde jedoch zeigen, dass die integrative Beschulung insbesondere für die Kommunen nicht teurer, sondern sogar finanziell günstiger wird.

Ich fasse zusammen: Wir möchten, dass die Landesregierung innerhalb von drei Monaten ein Konzept vorlegt, wie die Primarstufen der Förderschulen nach und nach in die allgemeinen Grundschulen überführt werden können. Wir fordern, dass

ehrgeizige Ziele der integrativen Beschulung für den Bereich der weiterführenden Schulen ab Klasse 5 entwickelt und umgesetzt werden. Der grundgesetzliche Anspruch auf Gleichheit, das Verbot der Diskriminierung und der Integrationsauftrag unseres Schulgesetzes müssen endlich ernst genommen werden.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch auf den SPD-Antrag eingehen, den Frau Eckel gleich einbringen wird. Aus meiner Sicht springt die SPD-Fraktion dabei etwas zu kurz. Nach diesem Antrag sollen Lernhilfekinder integriert werden, aber noch nicht die mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, sprachliche Entwicklung und geistige Entwicklung. Entweder will man echte Integration und Inklusion, oder man will sie nicht. Ich meine, da muss man schon klar sein. Aber ich kann mir vorstellen, dass wir zu diesen Anträgen eine gemeinsame Anhörung im Kultusausschuss durchführen und gemeinsam einen guten Weg finden.

Wir wollen eine Schule für alle Kinder mit individueller Förderung und Leistung statt Lernen im Gleichschritt, Anerkennung für jedes Kind ohne Aussortierung. Das muss die Regel sein. Darauf hat jedes Kind ein Anrecht, und dafür stehen wir als Grüne. - Ich bedanke mich.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Danke, Frau Korter. - Jetzt hat Frau Eckel von der SPD-Fraktion das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die SPD-Fraktion fordert in ihrem Antrag mehr Integration für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die Ausweitung eines bestehenden Konzeptes. Bei einem stärkeren Engagement des Kultusministeriums könnte sich das Konzept zur sonderpädagogischen Förderung zügiger ausbreiten und alle Regionen bzw. alle Grundschulen einer Region einbeziehen. Aber wie reagiert der Kultusminister auf diesen Antrag, und zwar sehr schnell? - Er teilt mit, er finde es mehr als befremdlich, wenn die SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag zu einem flächendeckenden Angriff auf das gut funktionierende System der sonderpädagogischen Förderung ansetze. - Tja, dazu kann man nur sagen: Gelesenes muss ers

tens auch verstanden werden. Zweitens war diese Reaktion ein Schnellschuss.

(Beifall bei der SPD)

Sehr geehrte Damen und Herren, seit 1993 fordert das Niedersächsische Schulgesetz, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit anderen Schülerinnen und Schülern zu unterrichten und zu erziehen. Herr Minister, das ist übrigens auch etwas, was wir in den 13 Jahren unserer Regierungszeit zustande gebracht haben.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Mit unserer Unterstützung!)

- Ja, ist ja gut, aber wir haben es forciert. - 1998 wurde unter der Überschrift „Lernen unter einem Dach“ ein Rahmenplan für die gemeinsame Beschulung geschaffen - auch etwas, was in diesen 13 Jahren vorangekommen ist.

(Zustimmung bei der SPD)

Neben der verlässlichen Zuweisung einer sonderpädagogischen Grundversorgung für Grundschulen wurden die mobilen Dienste gestärkt. Neben Integrationsklassen entstanden nun auch Kooperationsklassen - das sind Klassen, die aus Förderschulen in allgemeinbildende Schulen ausgelagert werden. Viele Grundschulen haben sich dem Schulversuch „Regionales Integrationskonzept“ angeschlossen und erhalten für deren Realisierung zusätzliche Lehrerstellen. Das RIK - so wurde es abgekürzt - firmiert heute als „Regionale Konzepte zur sonderpädagogischen Förderung“. Der Inhalt und das Anliegen sind die gleichen. Wenn heute eine Grundschule das Konzept zur sonderpädagogischen Förderung umsetzen will, wird der Antrag in der Regel auch genehmigt.

So gibt es in Niedersachsen inzwischen eine ganze Reihe von Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen, die gleichzeitig als Förderzentrum für ihren Einzugsbereich - das meint hier der Begriff „Region“ - fungieren. Diese Funktion kann auf alle Förderschwerpunkte und auf alle Schulstufen bezogen sein.

Sehr geehrte Damen und Herren, die SPDFraktion steht eindeutig hinter diesem Konzept

(Zustimmung bei der SPD)

und nicht nur, weil es von einer SPD-Kultusministerin eingeführt wurde. Uns geht es um die ge

meinsame Beschulung von Behinderten und Nichtbehinderten, um die Aufhebung von Schranken in der Schulzeit und im Alltagsleben. Wir setzen uns für die individuelle Förderung ein. Das schließt die sonderpädagogische Förderung für jedes Kind ein, das es benötigt.

Der heute von uns eingebrachte Antrag fordert die Forcierung eines bestehenden Konzepts. Schon heute, sehr geehrte Damen und Herren, stellen wir fest: Immer dort, wo das Regionale Konzept zur sonderpädagogischen Förderung konsequent umgesetzt wird, gibt es keine Grundstufen der Förderschule Lernen mehr. Schauen Sie in Ihre eigene Statistik, Herr Minister: In den Jahrgängen 1 bis 4 steht z. B. bei der Astrid-Lindgren-Schule in Bad Münder und bei der Helen-Keller-Schule in Braunschweig „0“. In Delmenhorst hat nur noch eine der beiden Förderschulen eine Primarstufe. Hinzu kommt eine Reihe von Schulen, die keine 1. Klasse mehr haben, sich also allmählich von der Grundstufe verabschieden können.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Statistik zeichnet die Bahn vor, die die Förderschulen Lernen nehmen werden, wenn die sie umgebenden Grundschulen für neue Wege aufgeschlossen sind. Macht es Sinn, Herr Minister, für eine Schulform zu kämpfen, deren Aufrechterhaltung pädagogisch fragwürdig geworden ist und die häufig mit kombinierten Klassen arbeiten muss, um die acht Kinder zusammenzubringen, damit beim geltenden Faktor 2,5 Stunden pro Kind die in Klasse 1 und 2 vorgeschriebenen 20 Wochenstunden erteilt werden können? Es geht um eine Schulform, die nicht in die Verlässlichkeit einbezogen ist, was wir für den Istzustand gefordert haben und was eben gerade von der Mehrheit abgelehnt wurde.

Wir wollen nicht hinnehmen, dass sich in Teilen Niedersachsens die Schulen bewegen und in anderen Teilen sich nichts bewegt, dass in einigen Teilen Niedersachsens Eltern keine Möglichkeit haben, die wohnortnahe Grundschule und nicht die Förderschule zu wählen, und dass Kindern die Trennung von gleichaltrigen Nachbarkindern zugemutet wird.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Die Zahl der Kinder in den Anfangsklassen der Förderschulen Lernen nimmt überall ab. Nur zwölf Schulen von 186 in der Statistik aufgeführten För

derschulen Lernen weisen in den Klassen 1 bis 4 insgesamt eine Zahl von 50 bis 60 Kindern auf.

In unserem Antrag fordern wir auch, die bei der Auflösung frei werdenden Lehrerstunden an die Grundschulen zu verlagern. Es ist davon auszugehen, dass einerseits heute vielerorts nur noch Kinder mit besonderen Schwierigkeiten die Primarstufe der Förderschulen Lernen besuchen, andererseits das Konzept dort nicht Fuß gefasst hat, wo Grundschullehrkräfte eine Überforderung fürchten. In beiden Fällen ist Unterstützung über das jetzige Maß hinaus notwendig. Wir alle wissen, dass vor allem Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder, die einer sozioökonomisch benachteiligten Schicht entstammen, in der Förderschule Lernen zu finden sind: Kinder, die im Elternhaus keine sprachliche und kognitive Unterstützung erfahren, Kinder, die wenig familiäre Anteilnahme erleben und häufig sich selbst überlassen sind. Die Pädagogen an den Förderschulen leisten eine bewundernswerte Arbeit. Die Bedingungen für ihr Wirken sind nicht die besten.

Die Erkenntnisse der letzten Jahre haben auch dazu geführt, die mobilen Dienste auszuweiten und nicht immer gleich nach der Gründung einer Förderschule zu rufen.

Lassen Sie mich noch einige wenige Sätze zum Antrag der Grünen sagen. Unser Antrag soll ein erster Schritt zur Auflösung von Förderschulen sein. Weitere Schritte gehen wir gerne mit. Ob dazu neue Konzepte notwendig sind, wird die Diskussion im Ausschuss zeigen. Ich stimme gerne dem Vorschlag meiner Kollegin Korter zu, eine Anhörung zu beantragen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Danke, Frau Eckel. - Nächste Rednerin ist Frau Körtner von der CDU-Fraktion.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge der Fraktionen der SPD und der Grünen haben bei uns und wahrscheinlich nicht nur bei uns Kopfschütteln hervorgerufen. Der Antrag der Grünen hat uns, um die Worte von Frau Korter aus der Vormittagsdebatte aufzugreifen, sogar „entgeistert“; denn wir sind bisher davon ausgegangen, dass wenigstens der sensible und sehr

differenzierte Bereich der sonderpädagogischen Förderung von radikalen Veränderungsansätzen Ihrerseits verschont bleibt, weil Maßstab aller Entscheidungen immer und ausschließlich das Kindeswohl und nicht die Orientierung auf Institutionen oder Systeme sein kann.

(Zustimmung bei der CDU)

Vor dem Erlass zur sonderpädagogischen Förderung, den diese Landesregierung auf den Weg gebracht hat, gab es für die einzelnen Förderschulformen und Organisationsformen sonderpädagogischer Förderung niemals eine gesetzliche Grundlage; da lief vieles nebeneinander her. Mit diesem Erlass, der pragmatisch und breit angelegt ist, ist erstmals alles möglich geworden.

(Zustimmung bei der CDU)

Bei der Erarbeitung dieses Erlasses hat man sich - ich halte es für wichtig, das zu erwähnen - nicht nur auf die eigenen Experten verlassen. Um die richtigen Entscheidungen zu treffen, wurden in allen Phasen die Kompetenz und die Erfahrung des Verbandes Sonderpädagogik und anderer externer Fachleute mit einbezogen. Durch diese Kooperation und diese Dialoge sind die bestmöglichen Grundlagen und Rahmenbedingungen geschaffen worden. Dies hat auch bundesweite Beachtung gefunden.

(Zustimmung bei der CDU)

Meine Damen und Herren, ein Grundsatz stand dabei immer ganz vorn: Jedes Kind und jeder Jugendliche hat einen Anspruch auf angemessene Förderung, Unterstützung und Hilfen bei der Entwicklung seiner Stärken und Fähigkeiten. Diesem Grundsatz wird die Landesregierung mit einem gut ausgebauten System von Förderschulen und Tagesbildungsstätten sowie verschiedenen Organisationsformen sonderpädagogischer Förderung in den allgemeinen Schulen gerecht.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)