Protocol of the Session on March 4, 2003

Ich füge ganz persönlich an, meine Damen und Herren: Mein politischer Weg hat vor Jahren mit einem freiwilligen Diakonischen Jahr in den Rotenburger Werken, einer Einrichtung der Inneren Mission für die Pflege und Betreuung behinderter Menschen, begonnen. Während dieser Zeit, die mich politisch bis heute geprägt hat, habe ich zwei Erfahrungen gemacht: erstens dass Hilfsbereitschaft gerade dann besonders zufrieden stellend ist, wenn sie keine Gegenleistung zu erwarten hat, und zweitens dass Not und Leid in unserem Land nicht lautstark daherkommen, sondern dass sich das Leiden von Menschen zumeist in der Stille abspielt. Ich wünsche uns deshalb in dieser lauten und oftmals auch unbarmherzigen Welt die Sensibilität, die notwendig ist, um auch die ganz leisen Stimmen im Lärm der Zeit noch hören zu können.

Meine Damen und Herren, auch in diesen Tagen ist wieder von Politikverdrossenheit und zugleich davon die Rede, dass Politik angeblich den Charakter verdirbt. Beides ist in Wahrheit grundfalsch. Nicht Politik verdirbt den Charakter, sondern schlechte Charaktere verderben die Politik.

(Beifall im ganzen Hause)

In Deutschland gibt es keine Krise des politischen Systems, aber es gibt eine Krise der politischen Glaubwürdigkeit. Sie ist eine Folge von oftmals demoskopisch geprägter Beliebigkeit und von fehlender Grundüberzeugung. Helmut Schmidt nannte dies einmal einen Siegeszug der Oberflächlichkeit. Alles ist möglich, und was gestern galt, gilt heute nicht mehr, und was heute gilt, wird morgen wieder infrage gestellt.

Es ist wahr, die Welt ändert sich täglich in einer ungeheuren Geschwindigkeit, der viele Menschen oft nicht mehr gewachsen sind. Zu spüren bekommen dies vor allem jene, für die das Lebensalter zum Berufskiller wird. Aber gerade deshalb dürfen wir aus dieser Entwicklung nicht einfach aussteigen oder sie passiv über uns ergehen lassen, sondern wir müssen die Kraft aufbringen, sie aktiv mit zu gestalten. Ich warne allerdings davor, den Eindruck zu erwecken, als hätten wir Politikerinnen und Politiker einen schier unerschöpflichen Vorrat an permanent richtigen Antworten. Wer ständig so tut, als besäße er eine allumfassende Lösungskompetenz und als könne er auf einen unermesslichen Vorrat richtiger Antworten hoch komplexer Phänomene sozusagen auf Knopfdruck zurückgreifen,

betreibt eine Selbstüberhöhung, die auf Dauer und am Ende auch durch das intelligenteste PolitEntertainment nicht überdeckt werden kann und bei unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Enttäuschung und Frust enden muss.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, wenn Politiker nämlich beginnen, sich selbst genug zu sein – zumeist geschieht dies, ohne dass sie es selber merken –, haben sie mit den Hoffnungen, Erwartungen und Empfindungen derer, denen sie ihre Ämter verdanken, nichts mehr zu tun.

Politikerinnen und Politiker sind - Gott sei Dank, so sage ich - auch nur Menschen, mit ihren Stärken und Schwächen, mit ihren Empfindsamkeiten und Irrtümern. Wir sollten uns deshalb auch unserer persönlichen Grenzen wieder bewusst werden; denn wenn wir die Distanz zwischen uns und unseren Bürgern wieder ein Stück weit verringern wollen, dann müssen die Menschen die Gewissheit haben, dass wir sie verstehen, dass wir uns Mühe geben, dass wir es ernst meinen, aber auch, dass wir nicht allmächtig sind.

Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger von uns erwarten, dass wir persönlich erkennbar, berechenbar und damit auch verlässlich sind und dass man uns unsere Grundüberzeugungen weniger in Festtagsreden, sondern vor allem im täglichen praktischen politischen Handeln tatsächlich anmerken muss.

Man muss Helmut Schmidt in seiner hanseatischrustikalen Ausdrucksweise nicht unbedingt folgen, aber im Kern hat er sicherlich Recht, wenn er in einem seiner letzten Bücher schreibt:

„Eine Politik ohne Grundwerte ist zwangsläufig gewissenlos, sie ist eine Politik der moralischen Beliebigkeit und tendiert zum Verbrechen.“

Ein Letztes: Vor einigen Tagen berichtete eine große niedersächsische Zeitung darüber, dass wir, auf meine Bitte hin, heute, zu Beginn dieser neuen Legislaturperiode, die dritte Strophe des Deutschlandliedes singen würden. Die Überschrift lautete: „Landtag gibt sich wieder national.“ Meine Damen und Herren, das Lied der Deutschen, das 1841 von einem Niedersachsen, von Hoffmann von Fallersleben, geschrieben wurde, ist - wie könnte es anders sein! - natürlich auch ein Dokument seiner Zeit. Die Menschen waren empört über die Zerstü

ckelung Deutschlands, die der Wiener Kongress 1815 beschlossen hatte. Studenten demonstrierten 1817 auf der Wartburg für die Einheit Deutschlands und später gemeinsam mit tausenden von Bürgern 1832 auf dem Hambacher Schloss auch für ein zusammenwachsendes Europa, für die Menschenrechte und für Meinungs- und Pressefreiheit. Es herrschte ungeheures und unvorstellbares Elend in unserem Land, das sich u. a. 1844 im Aufstand der Weber, der blutig niedergeschlagen wurde, entlud. Kein geringerer als Gerhart Hauptmann hat dies in seinem Schauspiel „Die Weber“ eindrucksvoll beschrieben.

In dieser Zeit also entstand unsere Nationalhymne, die schnell zum politischen Volkslied gegen die Obrigkeit im restaurativen Staat wurde, und hier, verehrte Kolleginnen und Kollegen, knüpft meine herzliche Bitte an, unter „national“ eben nicht „rückwärts gewandt“, „überheblich“ oder „provinziell“ zu verstehen, sondern dieses Lied heute als ein Bekenntnis zu unserer demokratischen Grundordnung mit ihren Elementen Freiheit, Recht und Menschenwürde zu begreifen, so, wie sie aus Krieg, entsetzlichem Elend und grausamer Menschenverachtung einst entstanden ist und seither weiterentwickelt worden ist.

(Beifall bei der CDU und Zustim- mung bei der SPD und bei der FDP)

Deshalb kann es auch keine Freiheit ohne Verantwortung geben; denn da, wo die Menschen nichts anderes mehr verbindet als die Unverbindlichkeit, ist Entsolidarisierung die zwangsläufige Folge. Hinzu kommt, dass in einer Gesellschaft, in der sich jeder seinen eigenen Wertecocktail mixt, nichts mehr verbindlich ist. In einem Staat jedenfalls, in dem alle alles dürfen, geraten die Schwachen zuerst unter die Räder.

Fazit: Wir singen unsere Nationalhymne eben nicht, um zu demonstrieren, wie national wir sind, sondern wir singen sie, weil wir aus der Vergangenheit gelernt haben, dass es ohne eine ethisch fundierte geschichtliche Reflexion nicht möglich ist, eine an Werten orientierte Zukunft für unser Land zu gestalten.

(Beifall bei der CDU und Zustim- mung bei der FDP)

Unser Volk - davon bin ich überzeugt - wird seinen inneren Zusammenhalt abseits aller parteipolitischen und gesellschaftlichen Unterschiede erst dann richtig entwickeln können, wenn die Men

schen, die sich Deutsche nennen, in der Lage sind, ihre kulturellen, sozialen und geschichtlichen Bindungen zu erkennen und ihre Lehren zu beachten. Im Übrigen, meine Damen und Herren: Wenn unsere polnischen Nachbarn in ihrer Geschichte genau diese Fähigkeit nicht besessen hätten, wären sie von der europäischen Landkarte schon lange verschwunden.

Bis heute haben wir Deutschen jedenfalls die wesentlichen Fragen, z. B. was uns in unserem wiedervereinten Land im Kern eigentlich noch zusammenhält, auf was wir stolz sein wollen und welche Werte wir gemeinsam vertreten wollen, nicht beantwortet.

Marion Gräfin Dönhoff hat es einmal so ausgedrückt:

„Jede Gesellschaft braucht Bindungen: Ohne Traditionen und Spielregeln, ohne einen gewissen Konsens über Verhaltensnormen gibt es keine Stabilität im Gemeinwesen.“

In diesem Sinne hat uns die Geschichte nach 1989 auch eine kräftige Lektion erteilt, denn der Wegfall der innerdeutschen Grenze und ein gemeinsamer Personalausweis haben aus Deutschland bis heute leider noch kein Land, geschweige denn eine Nation gemacht, dessen Identität auch nur halbwegs einvernehmlich beschrieben werden könnte. Wenn von der deutschen Einheit auch künftig zumeist im Zusammenhang mit Geld, mit Belastungen und zusätzlichen finanziellen Aufwendungen die Rede sein wird, nicht aber auch von unserer Kultur und Geschichte sowie von den großartigen Menschen, die über vier Jahrzehnte unter einer schrecklichen Diktatur gelitten haben, dann werden wir Deutschen es mit uns selbst noch sehr, sehr schwer haben.

(Beifall bei der CDU und Zustim- mung bei der SDP)

Meine Damen und Herren, der Streit, die emotionalen Reden und die engagierten Auseinandersetzungen in diesem Hause sind für einen so langjährigen Parlamentarier, wie ich es bin, nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern auch eine Notwendigkeit. Ich bitte aber darum, dass wir die - gern auch temperamentvollen - Debatten in dem Bewusstsein führen, dass unser Land, trotz aller Probleme, immer noch das freieste, sozialste und wohlhabendste ist, das es je auf deutschem Boden

gab und um das uns die allermeisten Länder der Welt bis heute beneiden.

(Beifall bei der CDU und Zustim- mung bei der FDP)

Damit dies so bleibt, wünsche ich uns allen viel Erfolg, vor allem bei der Bewahrung des Friedens, ehrliche Bemühungen um den richtigen Weg sowie Verantwortungsgefühl und Gottes Segen. - Ich danke Ihnen.

(Starker, anhaltender Beifall bei der CDU und bei der FDP sowie Zustim- mung bei der SPD und bei den GRÜ- NEN)

Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zu

(Erste Beratung) : Entwurf einer Geschäftsordnung für den Landtag der 15. Wahlperiode - Drs. 15/1 Änderungsantrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 15/3 - Änderungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP - Drs. 15/4 - Änderungsanträge der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 15/5, 15/6 und 15/7 - Änderungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP - Drs. 15/8 Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 15/9 Als Drucksache 15/1 ist die Geschäftsordnung bereits verteilt worden. Ich frage, ob das Wort gewünscht wird. - Bitte schön, Herr Kollege Althusmann! Bernd Althusmann (CDU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dem Niedersächsischen Landtag liegen heute sieben Änderungsanträge zur Geschäftsordnung vor. Sie reichen von zum Teil einvernehmlichen Vorschlägen zur Parlamentsreform über eine Veränderung der Zahl, aber auch der Entschädigung der Mitglieder des Präsidiums, über die Forderung nach einer Kommission für Integrationsfragen bis hin zu einem Antrag zu Verhaltensregeln für Abgeordnete.

Jede Fraktion hat nicht nur das Recht, sondern sie hat mit Sicherheit auch gute Gründe, die wir ausdrücklich respektieren, gleich zu Beginn einer neuen Legislaturperiode die Weichen für unsere gemeinsame Zusammenarbeit in den nächsten Jahren zumindest teilweise neu zu stellen. Bedenken wir aber bei dem Ringen um den richtigen politischen Weg, der hier schon angesprochen wurde, dass die überwiegende Mehrheit der Bürger in unserem Land von uns erwartet, dass wir jetzt schnellstmöglich die wirklich wichtigen Fragen anpacken und uns nicht in Geschäftsordnungsdebatten verbeißen.

(Beifall bei der CDU)

Deshalb werde ich mich im Wesentlichen auf zwei Fragen, den Bereich der Parlamentsreform und die öffentliche diskutierte Frage des Präsidiums, beschränken. Hier im Parlament sitzen 183 neu gewählte Abgeordnete bei unübersehbar neuen Mehrheitsverhältnissen, aber doch im Ziel einig, und zwar parteiübergreifend, dass künftig wieder verstärkt hier im Niedersächsischen Landtag, hier im Parlament, die Entscheidungen zum Wohle dieses Landes fallen müssen – und sonst nirgendwo.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Dieter Möhrmann [SPD]: Deshalb lassen wir alles, wie es ist!)

Mancher mag es vergessen haben: Nach 1945 sind zunächst die Länder und erst im Anschluss daran ist die Bundesrepublik Deutschland entstanden. Weil es um das Selbstverständnis dieses Parlaments ging, weil es um ein Zurückgewinnen von Achtung und Wertschätzung bei den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch um die Achtung vor sich selbst ging, weil es um die Frage ging, wie Länderkompetenzen zurückgeholt werden können, nachdem bis heute 35 von 48 Grundgesetzänderungen zulasten der Landtage gingen – genau deshalb wurde im Juni 2000 eine Enquete-Kommission mit einem klaren Auftrag und mit einer klaren zeitlichen Begrenzung auf zwei Jahre eingesetzt.

Dem Niedersächsischen Landtag der 15. Wahlperiode steht es heute völlig frei, die Empfehlungen sofort oder stufenweise, vollständig oder teilweise oder sogar gar nicht zu übernehmen. Dennoch, so meine ich, haben wir gleich zu Beginn dieser Wahlperiode mit Signalen der Umsetzung weitreichende Beschlüsse zur Reform gefasst.

Durch die Reduzierung von 18 auf 10 Ausschüsse – also fast spiegelbildlich zu den Ministerien – wird nicht nur die Bedeutung der Ausschüsse gestärkt, sondern auch die Arbeit des Niedersächsischen Landtages erheblich gestrafft. Voraussichtlich wird dadurch eine Viertelmillion Euro eingespart werden können. Darüber hinaus wird, wie im Übrigen in allen anderen Bundesländern üblich, ein eigener Petitionsausschuss eingerichtet. Diesem wird künftig als direkter Anlaufstelle für Bürgerbegehren eine sehr große Bedeutung zukommen. Für eine Umsetzung eines Selbstbefassungsrechts der Ausschüsse, für Kurzinterventionen oder aber für die Aufhebung von Redezeitbeschränkungen sehen wir Handlungs- und Umsetzungsbedarf, jedoch nicht sofort und unmittelbar, wohlwissend, dass ein Teil dieser Forderungen in der EnqueteKommission von uns selbst thematisiert wurde.

(Uwe Schwarz [SPD]: Gefordert!)

Wir wollen allen, insbesondere den neu gewählten Parlamentariern die Chance geben, zunächst einmal den parlamentarischen Alltag kennen zu lernen, um auf einer soliden Erfahrungsbasis

(Lachen bei der SPD)

sachgerecht über geplante Veränderungen entscheiden zu können.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Gerade der Fraktion der FDP, die der EnqueteKommission, die zwei Jahre getagt hat, nicht angehören konnte, muss diese Chance eingeräumt werden.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Akt der Für- sorge!)

Wir bieten Ihnen also an, in nächster Zeit stufenweise an die weitere Umsetzung heranzugehen. Also keine Ablehnung, sondern unser Wunsch, die in einer völlig neuen Situation praktische Umsetzbarkeit im Ältestenrat zu beraten und darüber zu beschließen.

Zur Größe des Präsidiums ebenfalls eine Anmerkung vorweg: Unter „Selbstverständnis dieses Parlaments“ verstehen wir auch, dass wir uns selbstbewusst und offen zu einer qualitativen Vertretung nach außen bekennen sollten, die nicht mit Quantität zu verwechseln ist. Es ist im ureigensten Interesse dieses Landtages und auch dieses Bundeslandes, national wie international angemessen

vertreten zu werden. Dahinter müssen politische Eitelkeiten zurücktreten.