Mit einer in Niedersachsen bisher unbekannten Vorgehensweise hat die Göttinger Polizei sich mit von ihr selbst als „Gefährderanschreiben“ bezeichnetem Brief an Bürgerinnen und Bürger der Stadt Göttingen gewandt. In diesem Gefährderanschreiben heißt es:
„Der Polizei Göttingen ist bekannt, dass Sie im Zusammenhang mit versammlungsrechtlichen bzw. demonstrativen Aktionen polizeilich in Erscheinung getreten sind. Daher ist nicht auszuschließen, dass Sie auch in Zukunft an demonstrativen Ereignissen teilnehmen werden.
Für den 13. bis 15. Dezember 2001 sind demonstrative Aktionen gegen den EU-Gipfel in Brüssel geplant. Zu diesen Aktionen rufen gewerkschaftliche, studentische, linksautonome, Antifa-Gruppen sowie sonstige Globalisierungsgegner auf.
Bei gleichgelagerten Aktionen (z. B. Göte- borg, Genua pp.) kam es in der Vergangenheit zu erheblichen gewaltsamen Ausschreitungen
Um zu vermeiden, dass Sie sich der Gefahr präventiver polizeilicher Maßnahmen im Rahmen der Gefahrenabwehr (bis hin zur Zu- rückweisung an der deutsch-belgischen Gren- ze) oder strafprozessualer Maßnahmen aus Anlass der Begehung von Straftaten im Rahmen der demonstrativen Aktionen aussetzen, legen wir Ihnen hiermit nahe, sich nicht an den o. g. Aktionen zu beteiligen.“
Nach einem Bericht des Göttinger Tageblattes vom 10. Dezember 2001 hat der Leiter des 4. Polizeikommissariates in Göttingen, Rolf Dietrich, erklärt:
„Die Brief-Aktion der Göttinger Polizei geht auf eine Verfügung des Niedersächsischen Innenministeriums zurück, gefährdete Leute anzusprechen.“
Diese Briefaktion der Göttinger Polizei hat zwischenzeitlich bundesweit für Aufsehen gesorgt. Bürgerrechtler haben das Vorgehen als gravierende Grundrechtseinschränkung kritisiert. Einem nach polizeilichen Kriterien administrativ ausgewählten Personenkreis würde so faktisch ein Demonstrations- und Reiseverbot auferlegt. Da diese Schreiben zudem nicht auf konkrete strafrechtlich relevante Vorwürfe gegen Einzelpersonen gestützt würden, erfolge eine pauschale Diskriminierung. Diese Diskriminierung erfasse auch die Veranstalter und Unterstützer legal genehmigter Demonstrationen wie z. B. den Göttinger DGB-Kreis, der Busse zur Demonstration nach Brüssel angemietet und zur Teilnahme an friedlichen Protestaktionen aufgerufen hatte.
Die in dem „Gefährderanschreiben“ vorgenommene Einschätzung, dass Aktionen, zu denen u. a. Gewerkschaften und Studentengruppen aufrufen, zu „erheblichen gewaltsamen Ausschreitungen“ führen, ist bei den betroffenen Organisationen auf heftige Kritik gestoßen, da diese sich nicht als potentielle Gewalttäter einstufen lassen wollen.
1. Welche Erkenntnisse, Datensammlungen und Rechtsbestimmungen sind die Grundlage für die Auswahl des Personenkreises, dem die Göttinger Polizei dieses „Gefährderanschreiben“ zugesandt hat?
2. Welche Haltung nimmt die Landesregierung zu dieser polizeilichen Aktion und der beschriebenen Kritik an der Polizeiaktion ein?
3. Welche Maßnahmen will sie ergreifen um einer Einschränkung der Grundrechte und der Diffamierung der betroffenen Einzelpersonen
Zu 1: Auf die Beantwortung der Dringlichen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen am 24. Januar 2002 – Drs. 14/3054 - wird verwiesen. Grundlage für die Auswahl des betroffenen Personenkreises durch die Polizeiinspektion Göttingen war die Datei „Gewalttäter Links“ des Bundeskriminalamtes und die Auswertung der vorhandenen Erkenntnisse aus den Kriminalakten. Rechtsgrundlagen für die Datei „Gewalttäter Links“ sind die §§ 7, 8 und 13 des Bundeskriminalamtgesetzes. Diese Datei dient der Polizei zur Verhinderung und Verfolgung politisch motivierter Straftaten, insbesondere zur Verhinderung gewalttätiger Auseinandersetzungen. Rechtsgrundlagen für das Führen von Kriminalakten sind die §§ 38 und 39 des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes.
Zu 2 und 3: Die Polizei ist ihrem gesetzlichen Auftrag nachgekommen, Straftaten zu verhüten. Hierin unterstützt sie die Niedersächsische Landesregierung nachhaltig. Die Maßnahmen der Polizei unterliegen der rechtsstaatlichen Kontrolle. Die Landesregierung wird alles dazu beitragen, Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht zu gefährden, indem sie zulässt, dass militante Globalisierungsgegnerinnen und Globalisierungsgegner unter dem Deckmantel der Versammlungsfreiheit im Ausland - wie in Göteborg und in Genua geschehen - erhebliche Straftaten begehen.
In diesem Kontext hat das Niedersächsische Innenministerium die Polizeibehörden gebeten, entsprechend tätig zu werden. Das Handeln der Polizei war auch ein Beitrag, das Versammlungsrecht zu schützen. Die Landesregierung geht davon aus, dass sich die Gewerkschaften und die nicht extremistischen Studentengruppen von den militanten Globalisierungsgegnerinnen und Globalisierungsgegnern distanzieren und die Maßnahme der Polizei begrüßen, mit den Gefährderansprachen die Teilnahme von gewaltbereiten Personen an den von ihnen initiierten Demonstrationen zu verhindern.
In den Maßnahmen der Polizei, auf einen möglichst gewaltfreien Verlauf von Demonstrationen hinzuwirken, eine Diskriminierung legaler Proteste zu sehen, ist somit völlig abwegig. Es wäre im Gegenteil wünschenswert, wenn auch die PDS öffentlich darauf hingewirkt hätte, dass die legalen Aktionen nicht durch Straftäter gestört und in Verruf gebracht werden. Leider war in diesem
Zusammenhang gerade bei der PDS „nicht die geringste Distanzierung von Gewalttätern erkennbar“, wie die Bundesregierung in der Bundestagsdrucksache 14/7968 festgestellt hat.
Nach einem Bericht der HAZ vom 6. Dezember 2001 stach der hörgeschädigte K.-H. W. aus Hannover am 8. November 2001 in Bad Oeynhausen einen 92-jährigen Hauseigentümer nieder und tötete dessen 88-jährige Ehefrau mit mehreren Messerstichen. Die furchtbare Tragik: Zwei Wochen nach diesem Überfall wurde W. wegen eines anderen Doppelmordes, den er im September 2001 verübt hatte, in Hannover verhaftet, weil er durch eine DNA-Analyse überführt werden konnte.
Nach dem Bericht der HAZ wäre der Doppelmord in Bad Oeynhausen zu verhindern gewesen, wenn die DNA-Analyse in Hannover Anfang November vorgelegen und nicht, wie im vorliegenden Fall, zweieinhalb Monate in Anspruch genommen hätte.
3. Welche Maßnahmen wird sie konkret veranlassen, um zukünftig zu schnelleren Ermittlungsergebnissen zu kommen?
Es liegt in der Systematik aller auf Datenabgleich abstellenden Identifizierungsverfahren (etwa auch der Daktyloskopie) begründet, dass für eine erfolgreiche Identifizierung das Vorhandensein des Spurendatensatzes und des Personendatensatzes des Spurenverursachers in der Datei gleichermaßen notwendig sind. Unvermeidbar entsteht in dem Verfahren ein Zeitraum, der vom Erkennen und Sichern der Spur bzw. der erkennungsdienstlichen Maßnahme zur Person bis zur Speicherung der Daten in der entsprechenden Recherchedatei reicht und in dem sachlich begründet keine Identifizierungen möglich sind.
Dieser Umstand wirkt sich in der DNA-AnalyseDatei in besonderer Weise aus. Neben dem bundesweit noch nicht abgeschlossenen Aufbau des Personendatenbestandes besteht bei Spuren eine besondere Problematik. Während bei Personen über die standardisierte Entnahme von Speichelproben noch relativ schnell die Ermittlung des DNA-Profils und die Erstellung eines speicherund recherchefähigen Personendatensatzes möglich ist, gestaltet sich die Untersuchung von Tatortspuren, die zunächst als Träger fremder DNA identifiziert werden müssen, ungleich aufwendiger. Oftmals liegen nur geringste Mengen Spurenmaterial vor, die in einem ersten Schritt in aufwendigen und längere Zeit erfordernden labortechnischen Verfahren zu einer untersuchungsfähigen Probe aufbereitet werden müssen. Erst dann ist Spurenmaterial als Träger einer fremden DNA zu identifizieren, sodass die Ermittlung eines DNA-Profils und, soweit das bestimmbar ist, die Speicherung der gewonnenen Daten erfolgen kann.
Ergänzend ist festzustellen, dass zur Erhöhung der Aussagegenauigkeit des Datenbestandes bundesweit die Auswertung der DNA-Merkmalsysteme von zunächst fünf auf nunmehr acht Merkmale erweitert wurde, womit ein zusätzlicher Aufwand bei der Erstellung der Datensätze verbunden ist.
Das Landeskriminalamt bearbeit in allen Fällen die auflaufenden Untersuchungsanträge für Spuren nach Prioritäten anhand der Bedeutung des Falles. Gewaltverbrechen kommt bei der Bearbeitung höchste Priorität zu. Das schließt vielfach bereits die Beteiligung von Wissenschaftlern der Molekulargenetik bei der Spurensuche und Sicherung am Tatort ein, da die Möglichkeiten der DNAAnalyse mit einem enormen Umfang möglicherweise relevanter Spuren und Spurenträger verbunden sind und oftmals spezifische Maßnahmen des Erkennens und der Sicherung von Spuren und Spurenträgern am Tatort erforderlich werden.
Zu 1: Bei Entdeckung der Leichen zu dem genannten Tötungsdelikt am 24. September 2001 in Hannover hatten die Ermittler einen Tatort mit einem überaus komplexen und besonders problematischen Spurenbild zu sichern. Unter anderem war hierbei von Bedeutung, dass die Tat bereits mehrere Tage zurück lag und die Opfer seit dieser Zeit in der Wohnung unentdeckt geblieben waren. Es erfolgte eine umfangreiche Sicherung von
Unter Hinweis auf die in der Vorbemerkung beschriebene Problematik molekulargenetischer Untersuchungen für Zwecke kriminalistischer Beweisführung und Identifizierung gestaltete sich die anschließende Auswertung und Bearbeitung der Spuren und Spurenträger überaus zeitaufwendig.
Die Spur, die später zur Identifizierung des Täters führen sollte, war zunächst nur eine Spur unter vielen, bei der ein Täterbezug möglich sein konnte. Eben diese eine Spur wurde zudem in einer derart geringen Menge und Konsistenz gesichert, dass sie in einem zeitaufwendigen labortechnischen Verfahren zunächst zu einer molekulargenetisch bestimmbaren Probe aufbereitet werden musste. Allein die dafür labortechnisch notwendige Abstufung der Verfahrensschritte nahm zwei Wochen in Anspruch.
Letztlich war es möglich, die Spur als Träger fremder DNA zu bestimmen und für die Spur ein vollständiges DNA-Profil zu erstellen, das in die Verbunddatei eingestellt werden konnte. Die Übereinstimmung des DNA-Profils der Spur mit dem Profil einer bereits in der Datei erfassten Person wurde am 21. November 2001 festgestellt und sofort dem ermittelnden Fachkommissariat mitgeteilt. Das konnte bereits am darauffolgenden Tag die Festnahme des Tatverdächtigen durchführen.
Zu 2: Es handelt sich um einen Fall, bei dem das überaus schwierige und differenzierte Spurenaufkommen sowie die sich daran anschließenden aufwendigen Untersuchungen den Zeitablauf bestimmen. Im Übrigen siehe Vorbemerkung.
Zu 3: Die Landesregierung wird weiterhin darauf setzen, durch entsprechende sächliche und personelle Haushaltsmittel die absolut positiven Ergebnisse Niedersachsens beizubehalten; siehe Vorbemerkung.