Als Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945 das Lager Auschwitz betraten, fanden sie noch 7 650 halb verhungerte, kranke und schwache Häftlinge vor. Im nahe gelegenen Birkenau hatten sie die Leichen von 600 Häftlingen gefunden, die nur wenige Stunden vor Befreiung des Lagers getötet worden waren. Als sich ab Mitte Januar die Rote Armee in einer Großoffensive von Krakau her näherte, wurden fast 60 000 Gefangene von der SS auf Todesmärsche Richtung Westen getrieben. Von ihnen überlebten nur wenige. Wer zu schwach war, das Marschtempo einzuhalten, wurde an Ort und Stelle erschossen. Viele Menschen verhungerten, erfroren, starben an Erschöpfung am Wegesrand. Nur wenige von ihnen erreichten die Lager Bergen-Belsen und Dachau, wo sie ein paar Monate später befreit wurden.
Die wenigen Menschen, die in Auschwitz verblieben waren, hatte die SS in der Eile nicht mehr töten können. Es gelang ihnen nicht, bei ihrer hastigen Flucht die Lagerhäuser von Auschwitz zu räumen. So fanden die Befreier 350 000 Männeranzüge, 837 000 Frauenkleider und große Mengen an Kinderund Babybekleidung. Mehr als 7,5 Tonnen menschliches Haar war in Papiertüten fertig zum Abtransport gepackt worden. Aus diesen Zahlen, die ich der "Enzyklopädie des Holocaust" und aus anderen Dokumenten entnommen habe, ergab sich eine Schätzung von mehr als einer Million Ermordeter allein in Auschwitz.
Meine Damen und Herren, die Zahlen sind furchtbar, sie sind schrecklich und doch zeichnen sie nur das höchst unvollkommene Bild eines monströsen Völkermordes. Das Elend der Unglücklichen, die dort vergast, erschlagen, erschossen wurden, an Entkräftung oder bei teuflischen so genannten medizinischen Versuchen starben, kann man eben
so nur erahnen wie die Verzweiflung und die Angst von Millionen Juden im von den Nazis besetzten Europa. Elf Millionen europäischen Juden drohte der Tod, elf Millionen, deren Zahl die Teilnehmer der so genannten Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 festgelegt hatten. Unter Leitung des Himmler-Stellvertreters und Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, hatten sich in einer Villa am Berliner Wannsee die Schreibtischmörder zusammengesetzt, um die „Endlösung der Judenfrage in Europa“ zu beschließen. Elf Millionen Menschen, denen Heydrich und sein „Judensachverständiger“ Adolf Eichmann ganz selbstverständlich die Juden Englands und Irlands zugerechnet hatten, sollten sterben, unter ihnen auch meine Eltern, meine Schwester Rosa und ich.
Sechs Millionen ermordete Juden in Europa ist eine solch gigantische Zahl, dass man sich nur anhand des Schicksals einzelner die Monstrosität dieses Verbrechens vorstellen kann. Übermorgen, am 27. Januar, vor 57 Jahren tat die Welt das erste Mal bewusst einen Blick in das Grauen von Auschwitz, als die Soldaten der Roten Armee das Lager betraten und es befreiten. Seit einigen Jahren gehen an diesem Tag junge Juden aus aller Welt nach Auschwitz, um sich an diesem Ort des Grauens zum „Marsch der Lebenden“ zu versammeln. Diese Jugendlichen, die Nachgeborenen der wenigen Überlebenden, zeigen damit: „Wir sind da!“ und „Hitler hat sein mörderisches Ziel nicht erreicht!“.
Bundespräsident Roman Herzog hat vor einigen Jahren - das hat der Landtagspräsident bereits erwähnt - diesen Tag als Tag der Erinnerung und des Gedenkens bestimmt. Dieser Tag ist für uns Juden ein Tag der Befreiung aber auch ein Tag der schmerzlichsten Erinnerung. Dieser Tag, der 27. Januar 1945, erinnert uns einmal mehr an das Unfassbare der Shoah. Aber dieser Tag ist auch ein Tag der Mahnung. Denn er mahnt uns, dass solche Verbrechen gegen Menschen nie wieder geschehen dürfen, nirgendwo auf dieser Welt. Und er mahnt jeden, die Verantwortung für unser Leben und für unsere gemeinsame Zukunft zu übernehmen.
Meine Damen und Herren, seit mehr als 56 Jahren genießen wir im Westen Deutschlands und seit fast 13 Jahren im ganzen Land das Glück der Demokratie. Niemand muss Angst haben vor staatlicher Repression. Es erfordert keinen Mut, laut und deutlich seine Meinung zu sagen und auf die Einhaltung der Menschenrechte für alle - auch in
diesem Land - zu bestehen. Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde ist ebenso eine Selbstverständlichkeit wie die Freiheit der Meinung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Recht einer freien und geheimen Wahl. Also gibt es keine, aber auch gar keine Entschuldigung dafür wegzusehen, wenn Unrecht geschieht. Bis heute ist es mir unbegreiflich, dass in den vergangenen Monaten auf deutschen Straßen Menschen gejagt, verletzt, ja sogar ermordet wurden ohne entschlossenes Eingreifen von Passanten, die das beobachtet haben. Ja, oft wurde noch nicht einmal - gefahrlos - die Polizei vom nächsten Telefon oder vom Handy aus verständigt. Zivilcourage war damals nicht in Mode, und ich fürchte, dass sie auch heute noch nicht so verbreitet ist, wie es in einer Demokratie selbstverständlich sein sollte, ja selbstverständlich sein muss. Es ist für mich anders nicht zu erklären, dass es dieser Mangel an Zivilcourage mitverschuldet hat, dass sich der Rechtsextremismus hierzulande so frech und unverhohlen ausbreiten konnte.
Vor sechs Jahren gab es z. B. im Internet 32 Websites von Rechtsextremisten, die Hass predigten. Heute zählt der Verfassungsschutz mindestens 1 300 solcher Hassseiten. Bei eher geringem Wahlerfolg rechter Parteien hat sich die Zahl der Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund in der Zeit von 1998 bis 2000 auf 998 Vorfälle erhöht, das sind 33,8 % mehr als 1992. Für das Jahr 2001 erwartet der Verfassungsschutz wieder eine beträchtliche Steigerung. Gegenwärtig geht er von 51 000 Personen aus, die dem rechtsextremistischen Lager zuzurechnen sind. Während diese Zahl in den vergangenen Jahren mehr oder weniger konstant geblieben ist, stieg die Zahl der gewaltbereiten unter ihnen seit Mitte der neunziger Jahre auf Besorgnis erregende 10 000. Leider muss man feststellen, dass in den östlichen Bundesländern der Anteil gewaltbereiter Rechtsextremisten besonders hoch ist. Pro 100 000 Einwohner haben dort die Behörden doppelt so viele Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund registriert wie in den alten Bundesländern.
Meine Damen und Herren, oft wird als Rechtfertigung erklärt, dass sich junge Leute in den östlichen Bundesländern in ihren Lebenschancen benachteiligt fühlen. Keine persönliche Lage ist so hoffnungslos, dass sie es gebietet, einem Menschen,
Die meisten der inzwischen verurteilten Straftäter bedienen dabei keineswegs das Klischee vom chancenlosen jugendlichen Arbeitslosen. Vielmehr gehören sie in der Mehrheit zur Gruppe der ordentlichen Angestellten oder derjenigen, die eine Ausbildungsstelle gefunden haben. Sie sind in der Regel Täter, die aus unbändigem Hass Menschen verletzen oder gar töten. Dieser Hass kommt nicht von ungefähr.
Es ist mir unverständlich, dass den braunen Rattenfängern nicht nachhaltig das Handwerk gelegt wird. Da darf, um nur ein Beispiel zu nennen, der ehemalige RAF-Terrorist und heutige NPDFunktionär Horst Mahler sich unverhohlen öffentlich rechtsextremistisch und volksverhetzend in einer Fernsehsendung äußern, ohne dass ein Aufschrei der Empörung durch das Land geht. Im Gegenteil: Stille Zustimmung ist vielerorts zu spüren. Diese Zustimmung ist auch keine Frage des „Klassenstandes“, wie man in früheren Jahren gelegentlich zu hören bekam.
Heute treten immer wieder - auch öffentlich eindeutige Briefeschreiber oder Diskutanten mit akademischem Titel auf. Die antisemitischen und fremdenfeindlichen Klischees und Legenden sind indessen dieselben. In den vergangenen Jahren stelle ich sogar eine qualitative Steigerung des Antisemitismus fest. So wurden aus anonymen Schmierereien namentlich gekennzeichnete Beiträge, und heute tritt man ohne Skrupel in eine regelrechte antisemitische Debatte ein, die dann darin endet, dass erklärte Antisemiten sich bei ebensolcher Bezeichnung beleidigt fühlen und beschweren.
Die Walser-Bubis-Diskussion und andere danach haben einen Großteil zur Enthemmung der so genannten Eliten beigetragen. Wenn dann auch noch Politiker mit entsprechender Vorbildfunktion die „Leitkulturdebatte“ beginnen und diese auch heute noch mit Sätzen fortführen wie z. B. „Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schächten erleichtert nicht etwa, sondern erschwert die Integration von Muslimen, weil letztlich gewachsene Traditionen und akzeptierte Prinzipien unseres Staates zurückgedrängt werden“, dann, meine Damen und Herren, darf man sich nicht
Es sind rund 35 rechtsextremistische Szenemagazine in Deutschland auf dem braunen Markt. In den vergangenen beiden Jahren beschlagnahmte die Polizei bei bundesweiten Razzien mehr als hunderttausend CDs mit antisemitischen, rechtsextremistischen und volksverhetzenden Inhalten. Solche CDs fanden in der Szene Abnehmer zu einem Einzelpreis von mehr als 100 DM. Um einem eventuellen Vereinsverbot zu entgehen, versuchen zurzeit mehr als 2 200 Neonazis, andere Organisationsformen zu finden. Mittlerweile existieren rund 150 so genannte, meist regional auftretende „Kameradschaften“. Gemeinsam mit Skinheads und NPD-Anhängern versuchen Neonazis, eine öffentliche Plattform herzustellen. Das gelingt zum einen durch Demonstrationen. So hat es seit August 2000 bundesweit mehr als 50 solcher Demonstrationen gegeben. Zum anderen nutzen sie aber auch die modernen Kommunikationsmittel. So gibt es Mailboxen, so genannte „Nationale InfoTelefone“ und nicht zuletzt das Internet, in dem ohne viel Aufwand Aktionen vorbereitet und gesteuert werden, Strategiediskussionen geführt und neonazistische Propaganda betrieben wird.
Meine Damen und Herren, das ist mehr als Besorgnis erregend. Rechtsextremismus, das ist die menschenverachtende Ideologie des Hasses. Das ist Antisemitismus, das ist Fremdenfeindlichkeit, das ist die Verhöhnung menschlicher und demokratischer Werte, die wir alle, meine Damen und Herren, nicht dulden können.
Neonazis und Rechtsradikale sind nicht nur eine Gefahr für die Minderheiten in diesem Land: Sie sind auch eine Bedrohung für die Demokratie nicht minder als der Terrorismus.
Das Recht, sich frei zu versammeln und öffentlich seine Meinung kundzutun, ist das Privileg der Bürger in einer Demokratie. Diesem Privileg steht aber auch die Pflicht eines jeden Bürgers gegenüber, für diese Demokratie aktiv einzutreten und sich zu engagieren, wenn diese Demokratie in Gefahr ist. Demokratie ist kein Geschenk des Himmels, sondern sie muss jeden Tag aufs Neue verdient werden. Was aber, wenn dieses Recht missbraucht wird, wenn Symbole und Parolen strafbaren Inhalts gezeigt und gebrüllt werden? Ist
es dann wirklich die Aufgabe unabhängiger Gerichte, diese Demonstrationen nicht nur zu gestatten, sondern sie auch an solch symbolischen Plätzen wie am Brandenburger Tor zu erlauben? Ich meine nicht. Es sträuben sich einem doch die Nackenhaare, wenn Neonazis brüllend durchs Brandenburger Tor marschieren dürfen. Es muss die Frage erlaubt sein, ob wir Demokraten es den Gerichten überlassen, diese Demokratie zu schützen und zu verteidigen, oder ob wir ebenso auf die Straße gehen und für diese Demokratie aktiv unsere Stimme erheben, also demonstrieren.
Meine Damen und Herren, es stimmt: Deutschland ist kein antisemitisches und rechtsradikales Land, aber es darf auch keines werden!
Es darf noch nicht einmal den Anschein erwecken! Es muss für unsere Kinder und Jugendlichen eine Selbstverständlichkeit sein, in Respekt vor allen Menschen aufzuwachsen, ganz gleich, woher sie kommen, ganz gleich, welche Religion sie haben oder welche Hautfarbe. Jeder, der versucht, jungen Menschen etwas anderes einzuflüstern, ist ein Feind der Demokratie und ihrer Werte. Wir begleiten die Jugend bei ihrer Orientierung und ihrem Weg ins Leben. Wir sind es, die ihnen Werte vermitteln, als Erwachsene, als Eltern, Lehrer, aber auch als Politiker.
Die Politiker haben dabei eine besondere Verantwortung für die Schaffung jener Rahmenbedingungen, die es gestatten, dass Kinder in Respekt vor anderen aufwachsen, dass aber auch ihnen der Respekt entgegengebracht wird, auf den jeder Mensch, ob groß oder klein, Anspruch hat. Dabei denke ich mit Besorgnis an überfüllte Schulklassen, überforderte Lehrer und verkommene Schulgebäude. Ich denke aber vor allem auch daran, Kindern und Jugendlichen ihre Geschichte zu vermitteln. Sie müssen die deutsche Geschichte kennen, und dazu gehört auch die Geschichte der Juden in Deutschland. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass es nicht darum geht, dass sich Kinder und Jugendliche schuldig fühlen sollen an dem, was möglicherweise ihre Großeltern taten. Es geht darum, ihnen das Gefühl ihrer Verantwortung für eine Zukunft zu vermitteln, die sie gestalten werden.
Elternhaus oder in der Politik, die auch ihnen durch die Medien nahe gebracht werden. Aus diesem Grunde, aber auch aus vielen anderen halte ich es für fatal, wenn das Zuwanderungsgesetz zum Thema im kommenden Wahlkampf gemacht werden sollte. Da werden dann nicht nur an den Stammtischen Töne laut, die wir alle lieber nicht zu hören hofften. Wir haben seinerzeit aus dem hessischen Wahlkampf gehört, dass die ausgelegten Unterschriftenlisten nicht selten von Wählern als „Unterschrift gegen Ausländer“ begriffen und gebilligt wurden.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Je eher wir uns damit anfreunden und auch beginnen, die Realitäten aktiv zu gestalten, umso mehr werden wir Akzeptanz für die Zuwanderung schaffen und die große Chance der Einwanderung für unsere Wirtschaft, unsere Kultur und damit unsere gemeinsame Zukunft nutzen.
Es darf nicht sein, dass Zuwanderer, die in Deutschland eine neue Heimat suchen und finden, sich als Bürger zweiter Klasse fühlen müssen, wenn die Mehrheit sie nicht akzeptiert und mit billigen Klischees versieht. Nichts anderes steht aber zu befürchten, betrachtet man die sich abzeichnenden Diskussionen um die Zuwanderung und die im Vorwahlkampf vielerorts verwendeten vermeintlichen Argumente. Mit ernst zu nehmenden Ängsten kann und darf in Deutschland keine Politik gemacht werden. Politiker haben eine besondere Verantwortung für die politische Kultur und das gesellschaftliche Klima in diesem Lande. Wer als Politiker ernst genommen werden und vor allem glaubhaft sein will, der muss mit dieser Verantwortung sorgsam umgehen. Gefordert ist eine sachliche Auseinandersetzung, nicht aber Plattitüden oder Klischees.
Meine Damen und Herren! Wir Juden in Deutschland freuen uns über die Zuwanderung von Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion seit dem Beginn der neunziger Jahre. Gleichwohl gibt es hier und da auch Angst vor den neuen Zuwanderern und der damit einhergehenden Veränderung von lieb gewordenen Traditionen. Waren wir vorher nicht mehr als 28 000 Menschen, so hat die jüdische Gemeinschaft in Deutschland heute fast 100 000 Mitglieder und ist damit die drittgrößte jüdische Gemeinschaft in der Europäischen Union.
Das grenzt für mich an ein Wunder. Denn als mein Vater meine Mutter und mich 1945 aus Belgien, wo wir durch den Mut aufrechter belgischer Katholiken überlebt haben, nach Hause, nach Warendorf holte, gab es in dieser Stadt außer uns nur noch eine jüdische Familie. An den Wiederaufbau der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Warendorf war nicht mehr zu denken, so sehr mein Vater sich auch bemühte. So schuf er gemeinsam mit anderen die kleine jüdische Gemeinde in Münster. Bis 1990 gab es nur wenige große jüdische Gemeinden in Deutschland. Das waren vor allem Berlin, Frankfurt, München und Düsseldorf.
Heute gründen sich durch den Zuzug der Juden aus den GUS-Staaten überall in Deutschland Gemeinden neu oder wieder. In MecklenburgVorpommern und Brandenburg haben jüdische Zuwanderer erstmals nach dem Ende des Krieges Gemeinden neu gegründet und sind mit Engagement dabei, sie aufzubauen. Aber auch in den alten Bundesländern - Sie erleben das intensiv hier in Niedersachsen - entstehen neue Gemeinden. Das ist für uns wahrlich eine Freude. Es bedeutet aber auch eine große Herausforderung, die die alteingesessenen Gemeinden angenommen haben und leisten. Wir helfen diesen Menschen, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Das geht vom Lernen der deutschen Sprache über den oft notwendigen Neu-Abschluss ihrer Examina und Berufe, es geht über das Suchen und Finden eines Arbeitsplatzes, und nicht zuletzt geht es um ihre Integration ins Judentum.
Denn die meisten von ihnen wussten nur, dass sie Juden sind, weil sie in der Sowjetunion als solche diskriminiert wurden. Von ihren Wurzeln jüdischer Religion und Tradition sind sie oft abgeschnitten. Unter Stalin war die Ausübung der jüdischen Religion bei Todesstrafe verboten. Hier wieder ein Fundament zu bauen, ist die Aufgabe der jüdischen Gemeinden. Das geht nicht ohne erheblich mehr Rabbiner, Lehrer, Kindergärtnerinnen und Sozialarbeiter. Wir sind dabei dringend auf die finanzielle Hilfe des Staates und seiner Behörden angewiesen. Nicht nur die zugewanderten Eltern, sondern auch die Kinder und Jugendlichen aus diesen Familien sind die Träger unserer Gesellschaft von morgen. Nicht wenige von ihnen haben bereits die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Diese 100 000 Juden, die nun in Deutschland leben, sind nur ein Sechstel von der jüdischen Gemeinschaft, die in der Weimarer Republik in Deutschland lebte. Damals haben 600 000 Juden in Deutschland gelebt.
Meine Damen und Herren! Der 11. September 2001 hat der Welt vor Augen geführt, welche Gefahr für unser aller Freiheit vom internationalen islamistischen Terrorismus ausgeht. Mehr als 3 000 Menschen haben durch Mörderhand ihr Leben verloren. Dies Anschläge auf New York, Washington und Pitsburgh haben uns alle bis ins Mark getroffen, haben uns den Hass der islamistischen Terroristen auf uns, auf unsere Lebensart, auf unsere Werte und Religionen verdeutlicht. Vor diesem Hass müssen wir uns schützen. Wir müssen trotz dieses Hasses unsere Freiheit und unsere gemeinsamen Grundwerte bewahren. Und in unserer pluralistischen Gesellschaft in Deutschland geht das nur mit Respekt und Toleranz. Auch wenn sich einige der islamistischen Attentäter in Deutschland auf ihr Verbrechen vorbereitet haben, so sind die Millionen friedlicher Muslime in unserem Land doch unsere Nachbarn, die es nicht verdienen, dass man ihnen mit Misstrauen oder Ablehnung begegnet.
Seit dem 11. September hat Deutschland eine neue außenpolitische Rolle erhalten. Bundeskanzler Schröder hat es so bezeichnet: „Unsere Stimme hat an Gewicht gewonnen. Unsere Stimme, aber auch unser Rat sind gefordert Unzweifelhaft hat die Stimme Deutschlands an Gewicht gewonnen, nicht zuletzt weil sie in der Vergangenheit mit Bedacht und Umsicht genutzt wurde.“ Der Bundeskanzler hat Recht, wenn er sagt, dass die blutige Geschichte zweier Weltkriege nicht zum Vorwand dafür werden dürfe, dass Deutschland sich der Verantwortung entziehe.
Die Verantwortung aus den blutigen Weltkriegen und den Grauen des Holocaust heißt aber zweierlei: Erstens aus dem Wissen um die Vergangenheit, ohne selbst schuldig geworden zu sein, die Verantwortung abzuleiten und dafür aktiv einzutreten, dass Menschenrechte überall auf der Welt nicht mit Füßen getreten werden. Dies tut Deutschland auf dem Balkan und jetzt auch in Afghanistan, um nur einige Orte zu nennen. Es heißt aber auch, die Erinnerung an die Opfer des Holocausts wach zu halten, damit diese nicht völlig vergebens ihr Leben gelassen haben. Man muss sich aber auch davor hüten, mit der neuen Rolle Deutschlands automatisch einen vermeintlichen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit der Geschichte des Nazi-Terrors zu ziehen. Nur die Geschichte wird zeigen, wann die Zeit reif dafür ist, dieses jede Phantasie sprengende Kapitel abzuschließen.
Meine Damen und Herren! Die schreckliche Erfahrung, die nun Amerika mit dem Terrorismus im eigenen Land gemacht hat, ist für die israelische Bevölkerung ein täglicher Albtraum. Der Anschlag in Chedera vor wenigen Tagen zeigt, dass dort täglich ein ganzes Volk von fundamentalistischen Terroristen in Geiselhaft gehalten wird. Ein 12jähriges Mädchen feiert mit Familie und Freunden ein fröhliches Fest, als ein Mörder mit einer Schnellfeuerwaffe sechs Menschen erschießt und mehr als dreißig verletzt. Junge Leute wollen das Wochenende mit einem Discobesuch am Strand von Tel Aviv beginnen, Sekunden später sind mehr als zwanzig von ihnen durch eine Bombe zerfetzt. In Jerusalem, in Haifa, in den Städten und Dörfern Israels können sich die Menschen nicht mehr sicher fühlen. Die Fahrt mit dem Autobus, der Besuch eines Restaurant, der Spaziergang auf der Straße, der Heimweg von der Schule, der Arbeit oder vom Einkauf kann im Bruchteil einer Sekunde das Leben von Menschen brutal beenden.
Das ist die israelische Realität, und doch hat sich die Welt angewöhnt, mit Fingern auf Israel zu zeigen, weil es seine und seiner Bürger Rechte zu schützen versucht. Und doch, meine Damen und Herren, bin ich zuversichtlich, auch wenn es zurzeit ganz und gar nicht so aussieht, dass sich auch im Nahen Osten die gemäßigten Kräfte auf allen Seiten durchsetzen und zu einem Frieden führen, der die Rechte beider Völker respektiert.
Aus der Geschichte der Nazizeit, für die Auschwitz ein so bedrückendes Symbol ist, gibt es viele Lehren. Eine, und die darf niemals vergessen werden, ist die besondere Verantwortung Deutschlands, sich für die Existenz Israels einzusetzen. Dies schließt konstruktive und damit sachliche Kritik an der jeweiligen Regierungspolitik ebenso mit ein. Sechs Millionen Menschen und ihre Nachkommen, unter ihnen meine kleine elfjährige Schwester Rosa, würden noch leben, hätte es damals einen jüdischen Staat gegeben, der die Verfolgten aufgenommen hätte. So ist Israel für uns Juden, ganz gleich, welche Bürger welchen Landes wir auch sind, Heimstatt und Heimat.
Israel ist auch aus der Asche Auschwitz entstanden, an dessen Befreiung vor 57 Jahren wir uns heute erinnern. - Ich danke Ihnen.
Sehr geehrter Herr Spiegel, ich danken Ihnen sehr für die entschiedene Rede. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir bei allem Erinner heute für morgen Politik zu machen haben. Wir wollen und müssen Ihre Erfahrungen und Ihre Mahnungen dahin mitnehmen.
Meine Damen und Herren, damit ist dieser Sitzungsabschnitt beendet. Der nächste, der 38. Tagungsabschnitt, ist für die Zeit vom 13. bis 15. Februar 2002 vorgesehen. Der Präsident wird den Landtag einberufen und im Einvernehmen mit dem Ältestenrat den Beginn und die Tagesordnung bestimmen. - Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt.