Protocol of the Session on January 24, 2002

Herren, geschieht in Norddeutschland übrigens ungleich öfter als in Süddeutschland.

Dieser Angeklagte, den ich eben geschildert habe, ist seit etwa drei Jahren zivilrechtlich voll verantwortlich, weil voll geschäftsfähig, für all das, was er tut, was er unterschreibt und was er an Verpflichtungen eingeht. Dieser Angeklagte darf seit fünf Jahren wählen und seit drei Jahren gewählt werden. Er darf seit drei Jahren Auto fahren. Geht es nach einigen Diskussionen, die wir in jüngster Zeit verfolgt haben und in denen der Vorschlag unterbreitet wurde, den Führerschein ab 17 Jahren zuzulassen, dürfte er dann schon seit fast vier Jahren Auto fahren. Er hat seinen Wehrdienst oder Wehrersatzdienst absolviert, jedenfalls solange es in Deutschland noch Wehrgerechtigkeit gab. Er hat seine Berufsausbildung abgeschlossen, ist vielleicht schon verheiratet und hat vielleicht schon ein Kind.

Dieser sozialen Entwicklung, immer früher mit Rechten versehen, immer früher auch selbständig in einer Gesellschaft zu sein und zu leben, trägt das Jugendgerichtsgesetz nicht mehr Rechnung. Insbesondere was das System der Sanktionen angeht, weist das Gesetz nach so vielen Jahren des Bestandes einfach entsprechende Defizite auf.

Dieser Mangel wird immer bedrückender, wenn man sich das Kriminalitätsgeschehen des Jahres 2000 in Niedersachsen ansieht: 7 000 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren, 8 930 Heranwachsende im Alter von 18 bis 20 Jahren, also insgesamt 15 930 Verurteilte, hat es im Jahre 2000 in Niedersachsen gegeben, bei denen das Jugendgerichtsgesetz in Niedersachsen Anwendung fand.

Die Zahl der Straftaten junger Menschen hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Sie stagniert auf diesem hohen Niveau. Auf der einen Seite gibt es also eine viel zu hohe Zahl von Straftaten junger Menschen, auf der anderen Seite haben wir ein Gesetz, das im Bereich der Sanktionen völlig veraltet ist und diesem Umstand nicht mehr Rechnung trägt.

Wie reagiert die Politik darauf? - Wir haben vor vielen Jahren über etwas diskutiert, was von der damaligen Justizministerin Frau Merk ins Spiel gebracht worden ist. Natürlich kann man die Zahl der Straftaten reduzieren, indem man einigen Delikten den Charakter einer Straftat nimmt und sie zu einer Ordnungswidrigkeit herabstuft, z. B. Ladendiebstahl. Aus unserer Sicht ist dies zum Glück

nicht zum Tragen gekommen; denn das bedeutet in der Tat, das Pferd von hinten aufzuzäumen.

Man kann auch eine Politik der ruhigen Hand betreiben, wie es die SPD auf Bundesebene tut, also gar nichts tun. Man kann auch das tun, was die SPD-Fraktion in Niedersachsen tut: Man kann Änderungsvorschläge der CDU-Fraktion jahrelang ablehnen, um sie dann irgendwann als eigenes Gedankengut doch zu übernehmen, wie dies bei den unzähligen Vorschlägen der CDU-Fraktion zum Bereich der inneren Sicherheit geschehen ist,

(Schünemann [CDU]: So ist es!)

denen die SPD-Fraktion irgendwann nach vielen Jahren der Diskussion gefolgt ist.

Wir werden sehen, wie unser heutiger Antrag „Änderung des Jugendstrafrechts - Konsequente Bekämpfung der Jugendkriminalität“ von den SPD-Kollegen in den Ausschüssen behandelt werden wird. Egal, wie es sein wird, ich prophezeie Ihnen eines: Zu gegebener Zeit werden auch Sie diesem Antrag zustimmen.

Neben der Zahl der Straftaten, über die ich berichtet habe, haben wir im Bereich des Jugendstrafrechts folgende weitere Feststellungen zu treffen. Beim Jugendstrafrecht geht es nicht mehr nur um so genannte Bagatelldelikte wie Ladendiebstahl. Nein, die Zahl der Gewaltdelikte hat erheblich zugenommen. Das gilt auch für Körperverletzung und gefährliche Körperverletzung. Viele der Täter kommen aus Familien, in denen die Eltern ausländischer Herkunft sind. Das ist ein Zeichen für eine fehlende Integration und damit verbundener Gettoisierung. Verbunden mit Arbeitslosigkeit und Frust ist dies ein Nährboden für kriminelles Verhalten insbesondere aus der Gruppe heraus.

Wir haben auch festzustellen, dass junge Menschen in Norddeutschland wesentlich häufiger straffällig werden als junge Menschen im Süden unserer Republik. Ursache ist die hohe Arbeitslosigkeit. Ursache ist auch die Scheidungshäufigkeit, die den jungen Menschen den Halt in der Familie nimmt. Das hat übrigens der damalige Leiter des Kriminologischen Instituts der Universität Hannover und heutige Justizminister Professor Pfeiffer festgestellt.

Diese Ursachen müssen wir natürlich in erster Linie präventiv bekämpfen. Das Strafrecht steht dabei nicht im Vordergrund, um diesem Einwand gleich entgegen zu treten. Meine Damen und Her

ren von der SPD-Fraktion, Sie hätten also eine Wirtschaftspolitik betreiben müssen, die Arbeitsplätze für Jugendliche schafft. Sie hätten durch Ihre Politik tatsächlich für eine Integration ausländischer Jugendlicher Sorge tragen müssen. Sie hätten eine Schulpolitik betreiben müssen, mit der auch Werte vermittelt werden, z. B. Respekt vor fremdem Eigentum oder die einfache und schlichte Tatsache, dass den Rechten des Einen immer Pflichten Anderer gegenüberstehen.

Am Ende wird aber auch dann, wenn man präventiv tätig ist, für einen verbleibenden Teil von dennoch straffällig werdenden Jugendlichen das Mittel des Jugendstrafrechts stehen. Für diesen Teilbereich schlägt Ihnen die CDU-Fraktion insgesamt sechs Änderungen vor, die ich kurz ansprechen und begründen möchte.

Erstens möchten wir, dass Richter bei der Verurteilung jugendlicher Straftäter neben einer Bewährungsstrafe auch Jugendarrest anordnen können. Wir haben die Feststellung zu treffen – das ist im Übrigen im Erwachsenenstrafrecht nicht viel anders -, dass sehr häufig jemand eine Bewährungsstrafe lieber in Kauf nimmt als eine Sanktion, die er tatsächlich sofort spürt. Eine Jugendstrafe zur Bewährung bringt dem Täter zunächst einmal keine strafrechtliche Sanktion, zumindest spürt er sie nicht unmittelbar. Wenn sie aber mit einem Einstiegsarrest kombiniert wird, spürt er, was er mit seinem Tun eingegangen ist, und merkt, welchen Weg er beschritten hat.

Wir wollen zweitens das Fahrverbot im Jugendstrafrecht auch für solche Straftaten verankert wissen, die keinen Bezug zum Straßenverkehr haben. Im Bereich des Jugendstrafrechtes soll es natürlich spürbare Sanktionen des Staates geben. Nichts ist im Zeichen der Mobilität und des Wunsches der Jugendlichen nach Mobilität effektiver, als diese Möglichkeit denjenigen vorübergehend zu beschneiden, die straffällig geworden sind.

Wir wollen drittens die Verhängung einer Sanktion „Meldepflicht“, die den Jugendlichen zwingt, sich in einer gewissen Regelmäßigkeit bei einer Behörde zu melden, womit er nicht frei und uneingeschränkt seine Zeit verplanen kann.

Wir wollen – das ist ganz wichtig – viertens, dass die Straftaten Heranwachsender in Zukunft anders beurteilt werden als es heute der Fall ist. Wir haben heute die Regel, dass ein Heranwachsender wie ein Jugendlicher behandelt wird. Wir wollen das genau

umgekehrt haben. Wir wollen, dass ein Heranwachsender in der Regel wie ein Erwachsener behandelt wird, und dass es eine Ausnahme darstellt, wenn er wie ein Jugendlicher behandelt wird, eine Ausnahme, die dann auch entsprechend schlüssig zu begründen ist. Nur mit einer solchen Änderung werden wir der tatsächlichen Entwicklung unserer Gesellschaft gerecht.

(Beifall bei der CDU – Frau Vockert [CDU]: Seit 1992 fordern wir das!)

Wir wollen fünftens, dass das beschleunigte Verfahren, das wir aus dem Erwachsenenstrafrecht und auch aus dem Strafrecht für die Heranwachsenden kennen, auch auf Jugendliche angewendet werden kann. Gerade bei Jugendlichen ist es doch unbestreitbar so, dass eine staatliche Sanktion aus dem Strafrecht so schnell wie möglich kommen sollte, um auf den Jugendlichen einzuwirken. Das können wir bei Jugendlichen mit einem beschleunigten Verfahren tun.

Wir wollen sechstens, dass immer dann, wenn ein Jugendlicher zu einer gegen ihn anberaumten Verhandlung nicht erscheint, die Möglichkeit eines Vorführhaftbefehls besteht. Es geht also nicht darum, einen solchen Jugendlichen wegen einer solchen Sache auf Dauer in Haft zu nehmen, sondern ein Vorführhaftbefehl soll erzwingen, dass der Jugendliche zu dem gegen ihn terminierten Hauptverhandlungstermin erscheint.

Wir meinen, dass es dringend an der Zeit ist, die hier beschriebenen Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes auf den Weg zu bringen. Mit unserem Antrag wollen wir die entsprechende Diskussion ein weiteres Mal in den einschlägigen Ausschüssen des Niedersächsischen Landtages bewirken mit dem Ziel, dass das Land Niedersachsen über eine Bundesratsinitiative aktiv wird und aus anderen Bundesländern bereits vorhandene Initiativen unterstützt.

(Beifall bei der CDU)

Frau Kollegin Bockmann, Sie möchten jetzt zu dem Antrag Stellung nehmen.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Konsequente Bekämpfung der Jugendkriminalität“ – so lautet die Headline des CDU

Antrages. Zutreffender wäre aus unserer Sicht „Jugendstrafrecht als Spielball politischer Debatte“.

(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU)

Sie spielen wieder einmal mit dem Sicherheitsgefühl der Bevölkerung. Sie gaukeln wieder einmal angeblich wirksame Maßnahmen vor. Sie werfen sich den Ball in Sachen unwirksamer Kriminalitätsbekämpfung mit Ihrem Kollegen Schill aus Hamburg gegenseitig zu.

(Jahn [CDU]: Das ist gemein, was Sie da sagen!)

Ein Blick in die Praxis des Jugendstrafrechts erleichtert die Wahrheitsfindung.

(Busemann [CDU]: Weiß Herr Schily in Berlin, was Sie da sagen?)

Leider haben Sie es versäumt, aktuelle Kriminalitätszahlen von Jugendlichen und Heranwachsenden zur Kenntnis zu nehmen. Gerade bei diesem Punkt hoffe ich, dass der Justizminister die Gelegenheit zu einigen Ausführungen zu diesem Thema nutzen wird. Leider haben Sie es – gerade bei diesem Antrag – aber auch versäumt, die von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Schließlich müssen Sanktionen auch geeignet sein, dem Täter durch Erziehung das begangene Unrecht klar zu machen. Alles andere sind Spielbälle, die den Jugendlichen und den Heranwachsenden auf ihrem Lebensweg kein Stück weiter helfen.

Nehmen wir einmal den von Ihnen vorgeschlagenen Warn- oder Einstiegsarrest, den nach Ihren Vorstellungen ein Richter neben der Bewährungsstrafe anordnen soll. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wissen Sie eigentlich, wie der Alltag im Jugendstrafrecht aussieht? Diejenigen Jugendlichen, die eine Bewährungsstrafe erhalten, sind keine unbeschriebenen Blätter.

(Beifall bei der SPD)

Fast alle waren entweder früher schon einmal im Jugendarrest oder in der U-Haft. Ein Einstiegsarrest wird überhaupt nichts bewirken. Mit anderen Worten: Der Arrest hat schon einmal versagt. Die von Ihnen gewünschte Schockwirkung geht völlig ins Leere.

(Frau Vockert [CDU]: Was machen Sie stattdessen?)

Nun zu der zweiten von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahme, zur Einführung einer neuen Sanktion „Meldepflicht für Verurteilte“. Das ist nicht neu, sondern uralt. Schon nach heute geltendem Recht besteht die Möglichkeit einer Meldepflicht für Jugendliche und Heranwachsende. Schließlich ist der Katalog der Weisungen nach § 10 JGG nicht abschließend geregelt. Jeder Richter hat daher die Möglichkeit, dem Verurteilten regelmäßige Meldung bei einer amtlichen Stelle aufzuerlegen. Was schon existiert, muss nicht neu gesetzlich normiert werden. Das müsste eigentlich auch Ihre Logik sein.

(Beifall bei der SPD)

Akzeptieren Sie deshalb bitte, dass wir mit Ihrer „Initiative der Wirkungslosigkeit“ keine Senkung der Kriminalität erreichen können.

(Beifall bei der SPD)

Nicht nur als wirkungslos, sondern auch als ausgesprochen kontraproduktiv beurteilen wir Ihre Forderung, bei Heranwachsenden allgemeines Strafrecht und Jugendstrafrecht nur in begründeten Ausnahmefällen anzuwenden. Sie suggerieren mit Ihrem Vorschlag dem fachunkundigen Hörer, dass Jugendstrafrecht milder als Erwachsenenstrafrecht sei. Das ist schlichtweg Unsinn. Sie haben von gesellschaftlichen Veränderungen gesprochen. Das von Ihnen gewünschte „Zittern vor Gittern“ wird mit solchen Maßnahmen nicht eintreten. Kriminologische Untersuchungen belegen eindeutig das Gegenteil. Die Anwendung des Jugendstrafrechts bei den 18- bis 21-Jährigen fällt härter aus. Das Risiko für Erwachsene und für Heranwachsende, ein Mehr an freiheitsentziehenden Sanktionen zu erhalten, ist beim Jugendstrafrecht wesentlich höher. Im Übrigen bietet das Jugendstrafrecht mit seinem breiten, flexiblen Sanktionsspektrum bessere Möglichkeiten, auf den Täter individuell einzugehen.

(Zuruf von Möllring [CDU])

Eigentlich sollten Sie das wissen, denn schließlich ist Ihnen dieses Fachwissen auf Ihre Kleine Anfrage vom Oktober 2001 schon einmal mitgeteilt worden.

Deshalb das Ganze noch einmal ganz langsam von vorne. Beispiel: Wenn sich ein 19-jähriger ar

beitsloser Sozialhilfeempfänger wegen eines Diebstahls verantworten muss, so wäre die Konsequenz nach dem Erwachsenenstrafrecht eine Geldstrafe; zumindest im Regelfall. Nach dem Jugendstrafrecht sieht das anders aus. Danach kann eine erzieherisch sinnvolle Weisung, wie zum Beispiel eine Arbeitsleistung mit spürbarem Umfang, erteilt werden. Mit dieser wirkungsvollen und maßgeschneiderten Möglichkeit des Jugendstrafrechts - darin sind sich alle Kriminologen einig – werden Sie eindrucksvollere Wirkungen bei den Heranwachsenden erzielen. Der von Ihnen gewünschte Schuss vor dem Bug wird auch hier ins Leere gehen.

Ebenso verhält es sich mit Ihrer Forderung, durch Gesetzesänderung eine Beschleunigung von Jugendstrafverfahren zu erreichen. Das Gesetz bietet in seiner jetzigen Fassung ausreichende Möglichkeiten, Jugendstrafverfahren in kurzer Zeit durchzuführen. Viele Modelle in unterschiedlichen Bundesländern – unter anderem auch in Niedersachsen – belegen, dass die Verfahrensabläufe durch eine Verbesserung der praktischen Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft, Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe auf der Grundlage des geltenden Rechts in der gewünschten Weise erheblich beschleunigt werden können.

Zur Klarstellung sei auch hervorgehoben, dass nach der derzeitigen Gesetzeslage die Anordnung einer Vorführung bzw. der Erlass eines Haftbefehls bei einem unentschuldigten Fernbleiben des Jugendlichen von der mündlichen Verhandlung möglich ist, allerdings unter einer Voraussetzung. Es muss sich um ein sogenanntes reguläres Jugendverfahren handeln. Unzulässig sind diese Maßnahmen lediglich in Fällen, in denen im vereinfachten Jugendverfahren eine Verfahrenserledigung angestrebt wird. In derartigen Verfahren, denen leichtere Fälle zu Grunde liegen, erscheint allenfalls die Einführung einer Vorführungsmöglichkeit verhältnismäßig, nicht jedoch Haft.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen: Einer wirksamen Kriminalitätsbekämpfung erteilen wir ein eindeutiges Ja. Zu Populismus aber sagen wir: Nein danke. - Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.