(Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU – Meinhold [SPD]: Wir werden einmal darüber reden, was in 16 Jah- ren Kohl entstanden ist!)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bitte für die Debatte zum Thema „Armut von Kindern und Jugendlichen“ um eine würdige Situation.
Arbeits- und Lebensverhältnisse ändern sich heute rasanter als jemals zuvor. Die Arbeitswelt, die Schulen, die familiären Strukturen, alles ist davon berührt und überall liegen große Chancen, aber auch Risiken, mit denen vor allem junge Menschen und Kinder konfrontiert sind. Etwa 1,6 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Niedersachsen, die meisten davon – trotz der wirtschaftlichen Umwälzungsprozesse – in stabilen sozialen Verhältnissen.
Aber das ist eben nur ein Teil der Wahrheit, wie z. B. die Armutsberichte der freien Wohlfahrtspflege oder der kürzlich vorgestellte Forschungsbericht des AWO-Bundesverbandes „Gute Kindheit, schlechte Kindheit“ verdeutlichen.
Einen Mangel an Lebenslagenuntersuchungen zum Thema Armut gibt es nicht. Im Gegenteil: Seit einer Reihe von Jahren gibt es in zunehmendem Umfang diverse Informationen zur Situation von Kindern und Jugendlichen, die in sozial deprimierten Verhältnissen aufwachsen. Diese Untersuchungen beanspruchen für sich – wie ich finde, zu Recht – auch Aussagegültigkeit für Niedersachsen.
Kinder und Armut, das ist ein Synonym für Spaltungslinien in unserer Gesellschaft, Spaltungslinien, die deshalb besonders bedrohlich und beunruhigend sind, weil sie die Jüngsten treffen, diejenigen, die selbst nichts dafür können und auf unseren Schutz und unsere Hilfe angewiesen sind. Das hohe Risiko einer fehlgeschlagenen Sozialisation durch Armut ist das eigentliche sozialpolitisch brisante Thema.
Deshalb nehme ich diese Gelegenheit zur politischen Debatte über Kinderarmut gerne wahr. Zugleich gibt es mir die Möglichkeit, darüber zu berichten, was das Land, die Kommunen, die freie
Wohlfahrtspflege, Jugendverbände und viele andere Gruppierungen tun und planen, um dieses Problem zu bearbeiten.
Das Thema „Armut von Kindern“ ist in den letzten Jahren von verschiedenen Stellen in den Mittelpunkt von Untersuchungen, Analysen und Berichten gestellt worden. Ich meine, wir sollten die Gelegenheit dieser Debatte nutzen, allen Akteuren, die auf diese Weise mit dazu beigetragen haben, dass die Problematik in die Öffentlichkeit gebracht und in verstärktem Maße diskutiert wurde, ausdrücklich zu danken.
Ich möchte den Kirchen danken, den Gewerkschaften danken, den Verbänden, hier der Arbeiterwohlfahrt, dem Kinderschutzbund und vielen anderen mehr, verschiedenen Gremien, Wissenschaft und Forschung, aber auch der Verwaltung. Sie alle zusammen haben umfangreiche Bestandsaufnahmen und Analysen zusammengetragen und vernünftige Lösungskonzepte entwickelt. Diese müssen wahrgenommen und umgesetzt werden.
Damit ist allerdings das Thema „Armut von Kindern“ keinesfalls erledigt. Vielmehr wird deutlich, dass die verschiedenen Handlungsebenen stärker vernetzt und Bündnisse zwischen den Beteiligten und engagierten Kräften geschlossen werden müssen. Gemeinsame Aktionspläne und die Einbindung der Bekämpfung von Armut von Kindern und Jugendlichen in politische Rahmenkonzepte können entscheidend zu Fortschritten führen.
Diesen Rahmen setze ich zukünftig mit einem familienpolitischen Gesamtkonzept, in dem die Frage, unter welchen Bedingungen Kinder und Jugendliche in Niedersachsen aufgewachsen sind und heute aufwachsen, eine gewichtige Rolle spielt. In Gemeinschaft mit allen, die sich der jungen Generation verpflichtet fühlen, möchte ich den Stellenwert der Familien- und Kinderpolitik in der öffentlichen Diskussion stärken. Kinder brauchen ihr eigenes politisches Programm und ihre eigene politische Lobby. Ich möchte Sie auffordern, sich zu beteiligen, und hoffe auf entsprechende Unterstützung.
Meine Damen und Herren, wie ist nun die Lage? In den letzten 20 Jahren ist der Anteil von Kindern, Jugendlichen und Familien, die über kürzere oder längere Zeit in ärmlichen Verhältnissen leben müssen, stark angestiegen. Das ist überhaupt nicht
zu leugnen. Dies ist in der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage mit beeindruckenden Zahlen belegt. Das hat zu tun mit der in dieser Zeit gewachsenen und immer länger andauernden Arbeitslosigkeit und einer infolge davon steigenden Zahl von Menschen, die Sozialhilfe beziehen. Aber darauf lässt sich das Thema nicht reduzieren. In diesen Zusammenhang gehört nämlich ebenfalls die Zunahme von unsicheren und nicht mehr existenzsichernden Beschäftigungsverhältnissen insbesondere für Frauen.
Armut hat aber auch zu tun mit hohen und in den letzten Jahren angestiegenen Scheidungsraten und der zunehmenden Zahl von Kindern, die nicht bei beiden Eltern aufwachsen. Und, meine Damen und Herren, das hat vor allem zu tun mit einer völlig unzureichenden Entlastung der Familien von kinderbezogenen finanziellen Belastungen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu 1998 deutliche Worte gesprochen.
Die Auswirkungen für Kinder und Jugendliche macht ein einziger Blick auf die Sozialhilfestatistik deutlich. Nur bezogen auf das frühere Bundesgebiet lebten 1998 dreimal so viel Kinder von Sozialhilfe wie 1980.
Allerdings - auch dies sollten wir im Interesse der Menschen feststellen - ist der Zenit überschritten. Erste deutliche Anzeichen einer Verbesserung der Situation sind erkennbar: Die Sozialhilfe- und Arbeitslosenquoten sinken - langsam, aber stetig. Die genauen Daten können Sie der schriftlichen Antwort entnehmen. Diese Entwicklung - so jedenfalls die Einschätzung von Experten - kann als Trendwende bezeichnet werden und wird - so hoffen wir jedenfalls alle - die materielle Situation von vielen Familien mit Kindern verbessern.
Doch noch einmal zurück zur Entwicklung in den 80er- und 90er-Jahren. Neben einer wachsenden Zahl von Kindern und Jugendlichen, die in eher armen Verhältnissen aufwachsen, nahm in dieser Zeit auch die Zahl von sehr wohlhabenden und gut situierten Familien zu. Insbesondere Kinder und Jugendliche registrieren die mit einer solchen Scherenentwicklung einhergehenden ungleichen Chancen sehr genau, was zu hohen Anspannungen und Belastungen führen kann. Die Folgen sind soziale Auffälligkeit, Leistungsstörungen, Abbruch sozialer Kontakte, Delinquenz, psychosomatische Störungen und vieles mehr. Immer häufiger wird auch der Zusammenhang von Armut und Gesundheit thematisiert. Ein gesundes Kind ist sozial,
körperlich und psychisch ausgeglichen. An dieser Aussage wird die enge Verknüpfung mit den Lebensbedingungen im Kinder- und Jugendalter deutlich.
Kinder reagieren mit Persönlichkeits- und Sozialproblemen auf Armut. Der Druck, nicht länger im sozialen Abseits stehen zu wollen, kann zu aggressiven und selbstgefährdenden Verhaltensweisen führen. Häufig genug wirkt Armut aber auch ganz subtil - in Unsicherheit, Selbstwertproblemen und sozialer Randstellung der jungen Menschen.
Allerdings sei an dieser Stelle auch angemerkt, dass ein großer Teil der Kinder aus armen Verhältnissen ihr Leben aktiv meistert und ganz unbeeindruckt von ihrer objektiv schlechten Lage eine gute Kindheit haben. Umgekehrt gibt es aber auch eine Art von „Wohlstandsverwahrlosung“: Kinder und Jugendliche, denen es materiell gut geht und die über alle Attribute der Konsumgesellschaft verfügen, die aber das Wichtigste vermissen, nämlich aufmerksame Zuwendung.
Diese Feststellung ist mir wichtig, denn wir tun gut daran, Kinder, die in Armut leben, nicht noch zusätzlich zu stigmatisieren. Zwar gilt der Satz „Wer arm ist, ist auch arm dran“ für viel zu viele Kinder, er würdigt aber nicht die Erziehungsleistung vieler sozial benachteiligter Familien und vor allem auch von allein Erziehenden.
Meine Damen und Herren, ich sprach von einer Trendwende, die sich laut Expertenmeinung in Bezug auf die materielle Situation von Kindern und Familien langsam abzeichnet. Diese Entwicklung wird von der Bundesregierung und der Landesregierung effektiv unterstützt. So hat die Bundesregierung seit 1998 die Leistungen für Familien deutlich verbessert. Das Kindergeld wurde zweimal erhöht. Der steuerliche Kinderfreibetrag ist auf fast 10 000 DM angehoben worden, und mehr Eltern erhalten wieder das volle Erziehungsgeld von 600 DM. Wer in diesem Zusammenhang von einer „Familienpolitik für Spitzenverdiener“ spricht, wie es CDU-Politiker in dieser Woche getan haben, kann nur die 16 Jahre vor dem Regierungswechsel in Bonn gemeint haben.
Insgesamt ist die Summe, die der Staat für Familien ausgibt, seitdem um fast 20 Milliarden DM erhöht worden.
Die Bundesleistungen werden durch viele niedersächsische Bausteine, durch die Familien in besonderen Lebenssituationen bedarfsgerecht geholfen wird, flankiert. Auch die Arbeitsmarktpolitik des Landes leistet einen wichtigen Beitrag. Durch spezielle Programme erhalten etwa allein erziehende Frauen und Sozialhilfeempfängerinnen einen Zugang zur Erwerbstätigkeit und damit für sie und ihre Kinder einen Ausweg aus der Armut. Benachteiligte und arbeitslose junge Menschen waren und bleiben ein Schwerpunkt in der niedersächsischen Arbeitsmarkt- und Jugendpolitik. Auch die Wohnungspolitik der Landesregierung ist insbesondere auf Wohnungssuchende mit niedrigem Einkommen und auf kinderreiche Familien ausgerichtet.
Eine Reihe politikfeldübergreifend angelegter Konzepte trägt ebenfalls dazu bei, die Armutsfolgen zu verringern. Zu nennen sind u. a. das Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt“, die im Rahmen der Schulentwicklung erarbeiteten Konzepte einer gemeinwesenorientierten Arbeit, das von Jugendhilfe und Schule gemeinsam entwickelte Präventions- und Integrationsprogramm zur Verbesserung der Lebenslagen in sozialen Brennpunktbereichen, Projekte, die Gesundheitsförderungsangebote für sozial benachteiligte Gruppen vorsehen. Die Angebote reichen von Ernährung über Suchtprävention bis hin zu Früherkennungsprojekten, die einzelne Gesundheitsämter in sozial benachteiligten Stadtteilen anbieten.
Meine Damen und Herren, in den zurückliegenden Jahren sind die Leistungen des Landes und der Kommunen in Niedersachsen für Familien, Kinder und Jugendliche im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe ausgebaut worden. Das zeigt ein Blick in die Statistiken. So sind die Gesamtausgaben der öffentlichen und freien Träger von rund 1,8 Milliarden DM im Jahr 1992 auf rund 2,6 Milliarden DM im Jahre 1999 angestiegen. Hinter dieser Summe verbergen sich zahlreiche Angebote für Kinder und junge Menschen. In der letzten Woche hat im Rahmen einer Veranstaltung des Kinderschutzbundes die Arbeiterwohlfahrt allein über die Angebote für die Zielgruppe armer junger Menschen in Hannover berichtet. Das Referat war länger als eine halbe Stunde. Deshalb lassen Sie uns vor dem Hintergrund der Ausführungen der Kollegin von den Grünen nicht die Leistungen vernachlässigen, die von den freien und öffentlichen Trägern in Niedersachsen für diese Zielgruppen in steigendem Umfang erbracht werden.
Spezielle Armutsprogramme wird es aber in der Jugendhilfe nicht geben; denn alle Erfahrung lehrt, dass sie ins Leere laufen, weil sie nicht angenommen werden. Es gibt keinen Zweifel: Die Angebote müssen niedrigschwellig sein, um diese Zielgruppen zu erreichen, und dürfen nicht als Armutsprogramme konzipiert sein. Insofern dürfen wir aber nicht dem Missverständnis aufsitzen, dass diese Angebote der Jugendhilfe nicht speziell für die Zielgruppe armer Menschen seien.
Zukünftig werden wir in der Jugendhilfe Angebote weiterentwickeln, die insbesondere auch den Erscheinungsformen von Armut begegnen, z. B. bei der Verhinderung von Vernachlässigung von Säuglingen und Kleinkindern, bei der Betreuung von so genannten Lückekindern, bei der beruflichen Integration junger Sozialhilfeempfänger, im Opferschutz und in der Gesundheitsversorgung von Kindern. Aber auch die Berichterstattung und die öffentliche Wahrnehmung des Themas muss weiter deutlich verbessert werden, vor allem durch Bündnisse und Allianzen, bei denen Sie alle mithelfen können.
wenn es um die Bekämpfung von Kinderarmut geht; denn Armut ist für uns kein Tabuthema, sondern ein politisches Warnsignal, und die Solidarität mit den Schwächeren der Gesellschaft ist politisches Programm der sozialdemokratischen Landesregierung. - Vielen Dank.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eben wurde der Zwischenruf gemacht, dass bereits alles gesagt worden sei. Natürlich ist schon viel gesagt worden; das stimmt. Wir freuen uns natürlich auch darüber, dass die neue Ministerin gleich schon Stellung bezogen und viele Versprechen gemacht hat, die in den nächsten Monaten hoffentlich auch umgesetzt werden.
Das Thema „Armut von Kindern und Jugendlichen“ ist erschreckend. Man hat sich früher sicherlich nicht vorstellen können, dass es in Deutschland oder speziell in Niedersachsen einmal eine so große Anzahl von Kindern und Jugendlichen gibt, die in Armutsverhältnissen leben müssen.
Aus der Großen Anfrage, die von den Grünen gestellt worden ist, und aus den Antworten darauf kann man viele Daten ziehen und daraus auch viele Informationen entnehmen. Die Antwort wurde zwar unheimlich schnell erstellt, die Mitarbeiter des Sozialministeriums haben wirklich schnell gearbeitet; bei der Beantwortung sind aber auch noch sehr viele Fragen offen geblieben. Insofern ist die Landesregierung gefordert, noch umfangreiches Datenmaterial zur Verfügung zu stellen, um uns gemeinsam die Möglichkeit zu geben, auch künftig Initiativen und die richtigen Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen in Armutsverhältnissen einzuleiten.
Einige Aussagen in den Antworten sind nicht ausreichend. Wenn es darin z. B. heißt, dass keine Daten über die möglichen Haushaltstypen vorlägen, und deshalb nur in geringem Umfang Aussagen über die Haushaltsgrößen der Betroffenen gemacht werden, dann wird klar, dass wir hier ergänzende Aussagen benötigen.
Auch die Darlegung, dass das Einkommen mit der Familiengröße sinke, dass also das Armutsrisiko mit der Anzahl der Kinder steige, ist nach Meinung meiner Fraktion so nicht ausreichend. Wir müssen dazu weitere Informationen bekommen, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können.
Der Bezug von Sozialhilfe betrifft in Niedersachsen auch sehr, sehr viele Kinder. Wir alle wissen, dass es schon für Erwachsene sehr schwierig ist, mit dieser Lebenssituation fertig werden zu müssen. Wenn Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung an die eigene Lebensführung herangeführt werden sollen, dann muss man bedenken, dass sich die Armutsgrenze und der Sozialhilfebezug dabei sehr nachteilig auswirken und dass in einer solchen Situation insbesondere die Teilnahme an sozialen und kulturellen Veranstaltungen nicht in dem wünschenswerten Maße möglich ist. Soziale Kontakte sind hier nicht in dem sonst üblichen Maße möglich.
Wenn es dann heißt, dass Elternverzicht den Kindern die Möglichkeit gibt, nicht allzu viele Einschränkungen hinnehmen zu müssen, dann ist das
meiner Meinung nach nicht die Lösung, weil die Eltern in der Armutssituation, in der sie selbst leben, nicht in der Lage sind, mit dem eigenen Lebensumstand fertig zu werden und dann auch noch die richtigen Lebensgrundlagen für die Kinder zu schaffen.