Ich habe für heute zwei Werke vorbereitet, zwei Kompositionen. Die Erste ist eher nachdenklich: „Enosch k‘chozir“, „Des Menschen Tage sind wie Gras“. Das ist nachdenklich, von Louis Lewandowski komponiert, dem großen, berühmten Berliner Kantor und Synagogenmusiker.
Das zweite Stück, das ich nach der Ansprache des Präsidenten spielen werde, ist etwas aus dem synagogalen Alltag. Das gibt es auch heute auf der ganzen Welt, an jedem Sabbat, nachdem wir unser Gesetzbuch, die Thora, gelesen haben. Dann legen wir symbolisch die Thora auf ihren Platz in die Lade zurück.
Ich meine, dass die Musik des Komponisten und Synagogenmusikers Moritz Henle aus Hamburg für mich stellvertretend für alle Kantoren und alle Synagogenchorleiter ein Symbol sein kann. Er hat für diesen Akt, für diesen wunderbaren Moment ein Gebet "Haschiwenu adoschem", "Und führe uns zurück zu dir" komponiert. Auch wenn ich in der Musik ein bisschen von dem Original abweiche, betrachten Sie das bitte als normal, weil jeder Kantor in seiner Synagoge mit der Materie etwas anders hat machen wollen. So entstand die synagogale Liturgie, die Sitte. Wir Juden sagen Minhag Hannover, Minhag München oder Minhag Stuttgart.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor drei Tagen hat die israelische Malerin Sara Atzmon ihre Bilder "Neues vom Hofe des Satans" in unserem Landtag erläutert. Sie war als 13-Jährige im April 1945 kurz vor Magdeburg aus einem Güterzug, der aus Bergen-Belsen kam, von der amerikanischen Armee befreit worden. Sie wog damals noch 17 kg. Erst nach 40 Jahren fühlte sie sich stark genug, die traumatischen Erlebnisse, die sie als Kind in Majdanek, Auschwitz, Bergen-Belsen und in den Zugfrachten dazwischen in sich trug, malerisch zu verarbeiten. So lange kann so etwas dauern. Wenn Sie die Bilder auch im Zusammenhang mit den Texten auf sich wirken lassen
- vielleicht haben Sie das schon getan -, dann spüren Sie etwas von der elementaren Wucht, die sie zu diesen Bildern und Skulpturen trieb.
Wir wissen, warum wir uns diesem Thema auch nach 56 Jahren und darüber hinaus stellen: Weil wir im Respekt vor den Opfern die Verantwortung dafür mittragen, was unser Volk dauerhaft aus seiner historischen Schuld macht und wie es damit in Zukunft umgehen will.
Historisches Lernen ist schwer. Das gilt auch dann, wenn die Befunde von Gut und Böse, von Fakten und Folgen so eindeutig sind wie im von Anfang an verbrecherischen Ansatz und im mörderischen Vollzug der nationalsozialistischen Politik. Wie wenig es nützt, die Untaten nur festzustellen und zu behaupten, man sei nun auf der gerechten Seite der Geschichte, kann man an der offenbaren Folgenlosigkeit des offiziellen DDR-Antifaschismus sehen.
Man muss tiefer graben und die unselige Verquickung von materieller Not, ethischer Verwilderung, religiöser Verwilderung und politischem Interesse thematisieren. Man muss ansprechen die tiefe Verachtung der Mehrheit der deutschen Eliten gegenüber der Demokratie der Weimarer Republik. Man muss die Verführbarkeit der verängstigten proletarischen und bürgerlichen Schichten kennen, wie Helmut Plessner es formulierte. Aber auch das „feine Schweigen“ der wenigen intellektuellen deutschen Köpfe, die das undemokratische Treiben durchschauten, darf man nicht vergessen. Und man darf auch diejenigen nicht vergessen, die von Anfang an das Regime auf seinem Grund erkannt hatten, die Widerstand leisteten oder ins Exil gingen.
Die Forschung, die politische Bildung und auch die jahrzehntelange Beschäftigung mit den Gründen der NS-Herrschaft und ihren Erscheinungsformen, die ihr notwendiges, auch emotionales Entsetzen erst mit dem Auschwitz-Prozess in den 60er-Jahren bekam, haben viele Aspekte hervorgehoben. Als besonders fruchtbar haben sich die regional orientierten historischen Forschungen erwiesen, weil damit klar wurde, dass nicht nur die große Politik - mit der man ja normalerweise nichts zu tun hat -, sondern benennbare Personen in der Nachbarschaft, im Kollegenkreis und manchmal auch in der Verwandtschaft verstrickt waren. Wir haben gelernt, dass man auch durch Schweigen, durch Wegschauen, durch mangelnde Zivilcourage, durch uneindeutige persönliche Haltung mit dazu
beiträgt, ein öffentliches Klima entstehen zu lassen, das die gesamte politische Entwicklung vorprägt.
Der „Hof des Satans“, wie Sara Atzmon sagt, kann nur entstehen, wenn es genügend Leute gibt, die hingehen und applaudieren.
Die Lerngeschichte an dieser Frage zeigt uns aber auch, dass jede neue Kinder- und Jugendgeneration, quasi in jedem Jahrzehnt neu, einen eigenen Zugang zu diesem Thema braucht. Auch das gerechteste Argument kann zur Phrase werden, wenn einem nichts weiter einfällt, als es zu wiederholen. Der überwiegende Teil unserer Jugend lernt seit Jahrzehnten an diesem Thema, und diese Jugend lernt gut. Dabei hat sich herausgestellt, dass Authentizität, also Anschauung, und Berichte von Überlebenden besonders glaubwürdig nachwirken. Wir können dankbar sein, dass dies heute noch vielfach in unseren Schulen und Bildungsanstalten und bei anderen Veranstaltungen geschieht. Das tausendfache Engagement auch niedersächsischer Schülerinnen und Schüler und Jugendlicher im internationalen Zusammenhang in der Gedenkstättenarbeit und, wie ich während des vergangenen Jahres festgestellt habe, auch in der Kriegsgräberfürsorge macht hoffnungsvoll.
Wenn aber in wenigen Jahren die letzten Überlebenden der Verfolgung, der Lager und der Gefängnisse nicht mehr sein werden, wird die Weitergabe ihres Zeugnisses nicht mehr von Angesicht zu Angesicht möglich sein. Dies stellt ein großes gesellschaftliches, politisches und, auf Bildungseinrichtungen bezogen, didaktisches Problem dar.
Eine zusätzliche Schwierigkeit heute ist es - wir haben darüber geredet -, dass wir einen Teil der Jugend, der von „national befreiten Zonen“ schwadroniert, von Ausländerfeindlichkeit trieft und rassistisch motivierte Untaten begeht, nicht oder kaum erreichen. Bei ihnen grassiert historische Verklärung, in die die Verachtung der geschändeten Opfer eingeschlossen ist.
Die Beschäftigung mit dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist die Beschäftigung mit einem Teil unserer Geschichte zu politischen LernZwecken. Darin enthalten ist auch die Aufforderung zu konkretem politischen Handeln. Die Idee, aus der Geschichte lernen zu wollen, würde sich allerdings schrecklich blamieren, wenn sich wichtige Teile der Gesellschaft nicht angesprochen fühlen, weil Interessen dagegen stehen. Die quä
lende Debatte z. B. um die Zwangsarbeiterentschädigung mit ihrem verhältnismäßig geringen Volumen belegt, dass Teile unserer Wirtschaft nicht begriffen haben, worum es geht. Ich halte es für unerträglich, wenn sich öffentlich bekundete Demut am Geist der knickerigen Schäbigkeit bricht.
Im Übrigen zeigt sich an diesem Thema, dass es auch eine fromme zeitbedingte Lüge ist, von der Halbwertszeit allen Wissens zu reden. In der Substanz unserer historischen Frage und des Wissens um sie gibt es keine Halbswertszeit, auch dann, wenn sich neue Detailerkenntnisse ergeben und moderne Präsentationsformen entwickeln. Die Substanz der Frage ist nämlich die Bereitschaft, die Schwierigkeit historischen Lernens für sich und andere gelten zu lassen und gegebenenfalls auch einzufordern.
Die Verdrängungsgeschichte der Gründe für das Entstehen des Nationalsozialismus und das Beschweigen der Untaten nach dem Krieg sind sattsam bekannt. Die Verdrängung von Verbrechen des eigenen Volkes macht ganze Gesellschaften und Völker krank. Die Wahrheit wühlt weiter. Die Verdrängung bewirkt auch, dass man die warnenden und - wie sich häufig herausgestellt hat - auch richtigen Mahnungen von Zeitgenossen verschweigt. Es ist der Vorzug unserer demokratischen Gesellschaften, die Andersdenkenden gelten lassen zu können. Es ist deshalb auch die Chance unserer demokratischen Gesellschaften, dies auch zu wollen.
Auch andere Völker haben, auf anderem Niveau und mit anderen Hintergründen, Verdrängung von Verbrechen praktiziert und beginnen jetzt mit schmerzhaften Diskussionen: in Japan, was den Zweiten Weltkrieg angeht, in der Türkei, was die Armenier-Verfolgung angeht, und in Frankreich, was Algerien betrifft.
Es wäre vielleicht nicht schlecht, aus diesem Tag die Frage mitzunehmen, wie man in Anstand und Respekt voreinander in unserem Land überhaupt über Geschichte diskutiert unter Einschluss unserer Erfahrungen und manchmal mehrfach gebrochener Biografien in Ost und West in den verschiedenen Generationen und unterschiedlichen Milieus.
Eine solche Gesellschaft würde es unmöglich machen, dass man KZs baut und dass man 8- bis 13-jährige Mädchen, wie Sara Atzmon, in Viehwagen sperrt und in Vernichtungslager karrt. - Ich danke Ihnen.
(Andor Izsák spielt die Komposition "Haschiwenu adoschem“ - "Und führe uns zurück zu dir" - Beifall)
Herr Izsák, ich danke Ihnen sehr. Sie machen mit Ihrem Wirken deutlich, dass wir bei allem Bemühen, über die Vergangenheit zu reden und an sie zu denken, auch wissen, was wir an Ihnen und dem Reichtum jüdischer Überlieferung in Musik und Kultur haben und haben können. Das schafft nicht nur Andenken, das schafft auch Hoffnung und Zuversicht. Dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich in Verbundenheit danken.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass der nächste Tagungsabschnitt vom 21. bis 23. Februar dieses Jahres vorgesehen ist. Ich werde Sie dazu im Einvernehmen mit dem Ältestenrat einladen. Alles Gute.
In einer halbseitigen Anzeige in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ vom 30. Dezember 2000 erklärt Ministerpräsident Gabriel Folgendes: „Es bleibt noch viel zu tun. Alle Länder machen noch immer zu viele Schulden. Auch wir in Niedersachsen. Das Problem gehen wir an. Denn weniger Schulden bedeuten mehr Handlungsfähigkeit für die Politik.“
In der Ausgabe der „NOZ“ vom 2. Januar 2001 wird der Ministerpräsident wie folgt zitiert: „Wir müssen runter von der hohen Nettokreditaufnahme des Landes und einsteigen in ein mittelfristiges Entschuldungskonzept. Und wir müssen die Bildungsreform vorantreiben. Themen wie Lehrereinstellungen oder Ganztagsschule müssen sich im Haushalt 2002/2003 wiederfinden.“
Mit dieser Anfrage sollte der Ministerpräsident die Gelegenheit bekommen und nutzen, diese Aussagen entweder mit Zahlen zu belegen oder entsprechend der bisher ausgewiesenen Zahlen zu korrigieren.
1. Wie hoch war der Schuldenstand des Landes Niedersachsen bei Übernahme der Regierung durch Gerhard Schröder, und wie hoch ist der Schuldenstand heute einschließlich der ausgewiesenen Verschuldung im Haushalt 2001?
2. Wie hoch war die jährliche Nettokreditaufnahme (einschließlich 2001), und wo sind die Senkungsabsichten des Ministerpräsidenten in der gültigen Mittelfristigen Finanzplanung zu erkennen?
3. Wenn der Ministerpräsident wirklich meint, was er in der Anzeige und in der Berichterstattung der „NOZ“ von sich gegeben hat, warum hat dann die ihn tragende Mehrheit im Landtag nicht dem CDU-Vorschlag auf Senkung der Neuverschuldung unter Verwendung der im Jahre 2000 zu erwartenden Rücklage für den Haushalt 2001 zugestimmt?
Die Verschuldung des Landes Niedersachsen ist ab dem Jahre 1948 über Jahrzehnte aufgewachsen. Wiederholt gab es Ansätze, diese Entwicklung zu stoppen und mittelfristig eine Senkung des Schuldenstandes zu erreichen. So findet sich beispielsweise in der Mittelfristigen Planung 1988–1992 folgende Erläuterung zu den Landesschulden: „Eine Senkung des Schuldenstandes ist in absehbarer Zeit nicht möglich. Die Landesregierung setzt - nach einer Konsolidierungspause 1987 und 1988 – jedoch im mittelfristigen Zeitraum den stetigen Abbau des Schuldenzuwachses durch eine Verringerung der Nettoverschuldung fort.“ Die letzte Planung der Regierung Albrecht (Mipla 1989- 1993) bekräftigte noch einmal das Ziel einer zukünftigen Verringerung der Nettoneuverschuldung, sah im Planungszeitraum bis 1993 aber gleichwohl ein Anwachsen des Schuldenstandes auf immerhin 45,5 Milliarden DM vor.
Eine Trendwende bei der Schuldenaufnahme ist in der Regierungszeit von Ministerpräsident Dr. Albrecht im Übrigen nicht gelungen, obwohl das Land Niedersachsen in den Jahren 1976 bis 1986 über insgesamt 9,1 Milliarden DM zusätzliche Einnahmen verfügte, bevor der Förderzins ab 1987 voll in den Länderfinanzausgleich einbezogen wurde. Symptomatisch für die leichthändige Haushaltsfinanzierung dieser Jahre ist etwa das Jahr 1982: Die Bereinigten Ausgaben betrugen damals 24,3 Milliarden DM. Sie wurden zu 10 % durch zusätzliche neue Schulden finanziert (2,4 Milliarden DM) und zu weiteren 7,4 % durch die gewaltigen Förderzinseinnahmen des Landes (1,8 Milliarden DM). Diese seinerzeit erhobenen Förderzinsen sind heute in Milliardenhöhe strittig und stellen das mit Abstand größte Prozessrisiko dar, dem das Land derzeit ausgesetzt ist.
Seither haben sich die finanzpolitischen Rahmendaten dramatisch verändert. Entgegen der von der damaligen Bundesregierung geäußerten Erwartung ergaben sich aus der deutschen Wiedervereinigung erhebliche Belastungen für die öffentlichen Haushalte, die für das traditionell strukturschwache Niedersachsen besonders schwer zu verkraften waren (u. a. Solidarpakt, Föderales Konsolidie- rungsprogramm).
Die wirkliche Einsicht in die Brisanz der Entwicklung und der ihr innewohnenden Dynamik setzte in der finanzpolitischen Diskussion - nach der durchaus selbstkritischen Wahrnehmung der Landesregierung - nur langsam ein.
Der Niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel stellte hierzu in seiner Regierungserklärung vom 21. Juni letzten Jahres fest, dass jedenfalls seit der zweiten Hälfte der 90er-Jahre die dramatisch veränderten finanziellen Rahmenbedingungen und die sich daraus ergebende Notwendigkeit zur Haushaltskonsolidierung ein zentrales Leitthema der Landespolitik geworden sei. Der Ministerpräsident hat – über die in der Anfrage zitierten Stellungnahmen hinaus – wiederholt deutlich gemacht, dass die Haushaltskonsolidierung auch Leitthema der Landesregierung bleiben wird. Unter anderem ist im Vorwort zur Mipla 2000–2004 nachzulesen, dass Sparen in Niedersachsen sowohl als Sachzwang wie auch als politischer Gestaltungsanstoß verstanden wird. Nach dem Verständnis der Landesregierung heißt dies konkret, dass zentrale Reformvorhaben wie die Steuerreform auf Bundesebene oder die Bildungsoffensive als landespolitische Schwerpunktsetzung dauerhaft nur durch Einsparungen und Umschichtungen realisiert werden können. Dies ist im Haushalt 2000 ohne Ausweitung der Neuverschuldung vollständig gelungen. Mit dem eingeschlagenen Konsolidierungsweg verfolgt die Landesregierung deshalb konsequent und nachprüfbar das Ziel, den Anteil der Kreditfinanzierung am Landeshaushalt abzusenken und mit diesem wichtigen ersten Schritt den Zuwachs der Zinsbelastungen abzubremsen.