Protocol of the Session on September 13, 2000

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Verkehr in der Drucksache 1821 zustimmen will und damit den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Drucksache 1491 ablehnen möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt, und der Beschlussempfehlung des Ausschusses wurde mit großer Mehrheit gefolgt.

Ich wünsche Ihnen eine schöne Mittagspause und einen guten Appetit.

Unterbrechung: 13.01 Uhr.

Wiederbeginn: 14.32 Uhr.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach der für Sie hoffentlich angenehmen und erholsamen Mittagspause fahren wir in unserer heutigen Sitzung fort.

Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 15: Erste und zweite Beratung: Unser Land: vielseitig und weltoffen Für Demokratie und Menschenrechte Gegen Gewalt und Fremdenhass - Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 14/1845

Dazu liegen mir mehrere Wortmeldungen vor. Zunächst erteile ich das Wort Herrn Professor Wernstedt. Bitte schön, Herr Professor Wernstedt!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute zu einem Thema, das in den vergangenen zwei, drei Monaten die gesamte Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in große Aufmerksamkeit und auch Erregung versetzt hat.

Das Thema Rechtsextremismus und Gewalttaten ist an sich kein isoliertes deutsches Phänomen. Das

demokratische Deutschland hat nach unserer Auffassung trotzdem besonderen Grund, mit rechtsextremem Denken und Handeln wachsamer und streitbarer umzugehen als manches andere Land der Welt.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir sind nach den Exzessen des Nationalsozialismus sozusagen gebrannte Kinder und daher in unserem eigenen Interesse aufgefordert, unzweideutig und entschieden in dieser Frage zu sein.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Der Niedersächsische Landtag hat in den letzten Jahrzehnten - ich sage „Jahrzehnten“, das ist eine lange Zeit - wiederholt über Rechtsextremismus diskutiert und auch gemeinsam Anträge verabschiedet. Wir waren uns z. B. immer einig, dass Bergen-Belsen und die Gedenkstätten für unser Land wichtige Orte der Begegnung, des Lernens und des Gedenkens sind und dass man sie pflegen und fördern muss, wenn es über Details selbstverständlich auch unterschiedliche Meinungen gab. Als z. B. mitten im Wahlkampf 1982 die SPD nach dem Auffinden von Waffen von Neonazis in der Lüneburger Heide eine Anhörung zum Rechtsextremismus durchführte, sprachen selbstverständlich auch die der CDU angehörenden Minister Dr. Möcklinghoff und Dr. Remmers. Ich bin dankbar dafür, dass dies in diesem Landtag immer möglich war und möglich ist, wie es der heute zu diskutierende Antrag auch wieder dokumentiert.

Dennoch gibt es in diesem Sommer eine Besonderheit: Endlich, so scheint es, reagieren Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft so eindeutig und entschieden auf die Morde und anderen Gewalttaten und Provokationen von Rechtsextremisten, dass dies breiter wahrgenommen wird als zuvor. Ich bin genau einen Tag, nachdem der schreckliche Mord an einem Obdachlosen in Ahlbeck vor einer Kirchentür passiert war, in dem Ort gewesen und habe mitbekommen, wie zunächst überhaupt nicht reagiert worden ist und wie dann am Ende der Woche auch die Bewohner des Ortes anfingen, darüber zu reden, dass dies nicht eine zu entschuldigende Sache einiger dorf- und stadtbekannter Jugendlicher war, sondern dass die Schwelle des Verbrechens überschritten war. Nachdem die Menschen, die zunächst bereit waren, vieles zu entschuldigen, und zwar aus Gründen, die wir alle kennen, das erkannt hatten, wurde die Debatte ernsthafter.

Es ist gut zu wissen, dass die demokratischen Kräfte in diesem Lande jedwede Form von Extremismus, wie es in dem Antrag auch heißt, ablehnen und den Schutz der Menschen garantiert wissen wollen und auch selber garantieren wollen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Dies ist ein unmissverständliches Bekenntnis gegen Gewalttätigkeit jeder Art, aber auch umgekehrt - auch das, wie man sagen muss - die Erinnerung daran, dass das Monopol der Gewalt - es gibt nämlich keine Gesellschaft, in der nicht auch Gewalt passiert - in unserem Land beim Staat und seinen demokratisch legitimierten Institutionen liegt und bei niemandem sonst.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Die Diskussion der letzten Wochen hat, so meine ich, das Bewusstsein dafür geschärft, dass es sich bei der Frage des Rechtsextremismus und seiner Bekämpfung nicht nur um tagespolitisch isolierte Aufgaben und kurzfristige Maßnahmen handelt. Ich verstehe die Debatte heute auch so, dass wir versuchen herauszufinden, an welchen Stellen das sozusagen im Bewusstsein ständig bleiben muss, ohne dass man beginnt, Phrasen zu dreschen.

Fast alles, was konkret dazu gesagt worden ist, mag richtig sein, und vieles ist auch notwendig, seien es die Vorschläge der Fraktionen, der Parteien, die Beschlüsse von Regierungen, unserer Regierung, der Bundesregierung, der Regierungen aller anderen Länder, und dennoch: Wenn es nur jeweils isoliert gesehen wird, so meine ich, bleibt es unzureichend. Es muss ein öffentliches Klima herrschen, und zwar gegenwärtig herrschen und nicht nur deshalb, weil es in der Tageszeitung gestanden hat, damit schneller, damit leichter und damit vor allem auch einheitlich in der Bevölkerung identifizierbar ist, was gut ist und was böse ist, was wir wollen und was wir nicht wollen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Der Zorn konnte einem ja ins Gesicht steigen, als man die unterschiedlichen Begründungen hörte, was warum geschah, ob es in Dessau oder in Ahlbeck war oder ob es der bisher unaufgeklärte Mordanschlag in Düsseldorf war, also ob es in Ost oder in West war, wenn auch jeweils mit unterschiedlichen Begründungen und in verschiedenen Zusammenhängen.

Was kann es bedeuten, wenn wir sagen, es handele sich um ein tiefer liegendes Problem? Ich möchte versuchen, das an zwei Beispielen deutlich zu machen, die mir im Zusammenhang hiermit außerhalb der unmittelbaren Tagesprobleme und der Fantasie, die man da aufbringen kann, einfallen.

Das erste Beispiel: Ignatz Bubis, der in diesem Landtag vor sieben Jahren so eindrucksvoll gesprochen hat - die dabei waren, wissen es noch -, hat kurz vor seinem Tod im letzen Jahr eine ungeheuer pessimistische Bilanz seines Wirkens gezogen. Ihm schienen sein ganzes Bemühen um Aufklärung und sein Vertrauen in die deutsche Gesellschaft, dass sie alles das, was mit Nationalsozialismus oder Rechtsextremismus zu tun hat, bewältigt hat, vergeblich zu sein. Viele haben damals gesagt, dass sei übertrieben.

Paul Spiegel, Bubis‘ Nachfolger im Amt des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, der das damals auch gesagt hat, meinte in der letzten Woche, Bubis habe vielleicht sensibler und früher gewittert als andere, was sich im Gefüge der gesamten deutschen Gesellschaft tat und tut, und zwar bevor es zu Rechtsextremismus und diesen scheußlichen und von uns allen in ihrer Wertigkeit überhaupt nicht zu diskutierenden Taten kam. Ich weiß - er hat es mir bei seinem Besuch im Mai 1999 gesagt -, dass ihn der stürmische Beifall der gesamten anwesenden deutschen Elite zu Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober 1998 zutiefst verstört hat. Warum? - In den Debatten der darauf folgenden Monate hat sich etwas geklärt - es ist wohl ganz wichtig, dass wir es noch einmal in Erinnerung rufen -, was so gefährlich ambivalent an Walsers Rede war: Walser hat zu Recht kritisiert - das sagte Bubis auch -, dass es ritualisierte Formen des Gedenkens und sozusagen der Political Correctness gibt, die nur noch in Phrasen daherkommt, und dass das viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande wirklich aufregt. Ich meine, man muss dann auch zugestehen, dass man das nachvollzieht. Die berechtige Kritik Walsers am ritualisierten Gedenken hätte er, Walser, aber unterscheiden müssen von der weiterwirkenden Verantwortung aller Deutschen - auch eines sprachmächtigen Schriftstellers - in den Fragen der Erinnerung und daraus folgender historischpolitischer Rede. Wenn dies nicht klar ist und bleibt - so hat es Bubis mir auch noch einmal erklärt -, gerät das letzte Tabu, das die deutschen Demokraten in diesem Lande beachten, ins Wan

ken, nämlich die einheitliche Beurteilung dessen, was wir auf der rechten Seite nicht wollen.

Es ist natürlich immer eine Zumutung für eine Gesellschaft, mit Geschichte in der Form eines ethischen Imperativs konfrontiert zu werden, in diesem Falle nämlich mit dem wiederholten „Nie wieder“. Wir können uns und unsere Kinder daraus nicht mehr befreien, auch dann nicht, wenn die Zukunftsaufgaben und die Gegenwartsbewältigung alle Kräfte aufzuzehren scheinen und wir glauben, von Termin zu Termin hetzen zu müssen. Das bedeutet im Übrigen für jede Generation eine neue Anstrengung und auch neue Formen. Das, was wir erarbeitet haben und worüber wir uns in den letzten Jahrzehnten bis heute hin einig sind, ist insofern eine Verpflichtung. Aber diese anzunehmen, wenn sie einer Form entspricht, die die Jungen annehmen können, ist Anstrengung der Jungen selbst.

Das zweite Beispiel: Es wurde in den letzten Wochen als Sensation gehandelt, dass bis zu 15 % der Deutschen potenziell rechtsextremistisch wählen könnten. Für die alte Bundesrepublik ist dies nicht überraschend, weil bereits die so genannte SinusStudie - einige werden sich daran erinnern - von 1981 - die Befragung ist also 20 Jahre her - diese Dispositionen für die alte Bundesrepublik ermittelt hatte. Autoritäre und undemokratische Gesinnung in unterschiedlichen Varianten und Zusammensetzungen sind der Hauptnährboden dafür, und dass es valent ist, wissen wir. Trifft diese Disposition auf sich verstärkende soziale Probleme, kann ein gefährliches Gemisch aus Benachteiligungsängsten, unverstandenen Zusammenhängen und Ressentiments entstehen, die sich dann in verschiedenen Wellen und Gelegenheiten auch politisch artikulieren: in den 60er-Jahren in der NPD, in den 70er-/Anfang der 80er-Jahre mit den Republikanern und vor zwei Jahren in der DVU in SachsenAnhalt.

Die Statistiker haben ermittelt, dass in Deutschland etwa 10 % der Menschen in Armut leben - das ist schlimm, und wir alle haben die Aufgabe, daran mitzuwirken, dass sich das bessert - und etwa 10 % in so genanntem prekärem Wohlstand. „Prekärer Wohlstand“ heißt, dass sie am Rande dessen leben, was sozusagen ein Abgleiten unter die Armutsgrenze bedeuten würde. Das heißt, dass 10 % der Bevölkerung ständig Angst haben, ihre ohnehin schwache Position in der Gesellschaft noch zu verlieren. Aus der Geschichte des Untergangs der Weimarer Republik wissen wir, dass nicht so sehr die wirklich Armen, sondern diejenigen, die Angst

hatten, in die Armut zu geraten, in die Arbeitslosigkeit zu fallen oder ihre Existenz zu verlieren, der stärkste aggressive Nährboden für den Nationalsozialismus waren. In dieser Situation ist dann auch die Ausländerfeindlichkeit nicht weit. Die demokratischen Parteien dieses Landes sind in der Pflicht, mit diesen Problemen sorgfältig umzugehen und auch Ängste aufzunehmen und rational abzuarbeiten.

Alle wissen, nicht erst seit der Greencard-Debatte, dass wir ohne Zuwanderer in den nächsten Jahrzehnten weder die Produktion noch die Renten werden sichern können. Jeder dritte Arbeitsplatz ist heute schon vom Export abhängig, d. h. vom Ausland abhängig. Internationale Verflechtungen der Ökonomie, der Ökologie, des kulturellen Lebens, der Akzeptanz kultureller Einflüsse, natürlich auch der politischen Organisationen, der EU, der offenen Grenzen - die wir alle so begrüßt haben -, der NATO, der EXPO - darüber haben wir gestern geredet - und vieler anderer Dinge zeigen, dass wir ohne den Blick nach draußen und ohne das offene Land in Zukunft wirklich überhaupt nicht werden leben können. Das müssen alle verstehen und begreifen, sonst werden sie in diesem Lande nie heimisch sein.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Ansonsten werden auch die Deutschen, die in diese rechtsextremistische Ecke denken, nicht heimisch in ihrem eigenen Land sein.

Alle wissen auch, dass wir in der Frage des politischen Asyls besonders bewusst, vor allem menschenrechtsbewusst vorgehen müssen, aber dabei auch klar vorgehen müssen. Wir alle wissen, dass das gesamte Problem im Kern seit Jahrzehnten verschleppt wird.

(Zustimmung von Oestmann [CDU])

Ein Zuwanderungsgesetz, das beide Seiten - sowohl, wenn man so will, die arbeitsmarktpolitisch-perspektivische Seite der Entwicklung der deutschen Gesellschaft als auch die Asylproblematik- inhaltlich im Blick hat, ist längst überfällig; aber es wird ohne Übereinkunft aller demokratischen Parteien nicht erreichbar sein. Damit - auch politisch - zu spielen, wird zum Schluss jedenfalls niemandem in diesem Lande nutzen. Ich hoffe, dass die Süßmuth-Kommission, die gestern ihre Arbeit aufgenommen hat, in diesem Sinne auch wirklich einen solchen Grad an Rationalität und

Information in ihre Arbeit einbringen kann, dass dabei etwas Vernünftiges herauskommt.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Solange dies nicht der Fall ist, frisst sich eine Denkweise in diese Gesellschaft hinein, die direkt in unser heutiges Thema führt, nämlich die Annahme, dass es wertvolle und weniger wertvolle Menschen gibt. Die Empörung, die uns angesichts malträtierter und getöteter Ausländer, Behinderter oder Obdachloser erfasst, beruht auf unserer gemeinsamen Überzeugung - sei sie grundgesetzlich, ethisch, religiös motiviert oder alles zusammen -, dass jeder Mensch eine Würde besitzt und diese unverletzlich ist und wir sie auch geschützt wissen wollen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Aber genau diese Voraussetzung wird von rechtsextremistisch Argumentierenden oder dumpf Agierenden nicht erfüllt. Man muss das wissen. Sie denken und handeln insofern rassistisch. Das heißt, dass nach diesem Denken Menschen prinzipiell unterschiedliche Wertigkeit haben. Dies steht in eklatantem Widerspruch zu allen Werten, die diesen Staat und diese Gesellschaft begründen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Es ist deshalb falsch, abwiegelnd und beschönigend auf solche Gewalttaten zu reagieren. Es gibt in unserem Land nämlich keinen Spielraum für eine derartige Haltung, und es darf ihn nicht geben. Mir scheint, dass die Klarheit in den Debatten der letzten Monate - auch die Klarheit der Sprache in unserem gemeinsamen Antrag - bereits eine gewisse Wirkung in diesem Sinne erzielt hat.

Aber täuschen wir uns nicht. Die politische Verantwortung darf natürlich nicht nur repressiv sein - das ist eine Seite; sie ist wichtig und in den letzten Jahren vielleicht auch manchmal zu sehr vernachlässigt worden -, sondern sie muss sich natürlich auch präventiv zeigen. Dazu gehören Projekte der Jugendarbeit, ausreichende Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, kulturelle Angebote, aber auch die Sozialpflichtigkeit des Auftretens. Ich nenne diesen Begriff deswegen, weil vieles von dem, was uns heute beunruhigt, wohl aus der Sprachlosigkeit resultiert.

Außerhalb dieser im engeren Sinne politischen und erzieherischen Aufgaben - die man sehr viel weiter fassen kann - scheint es mir notwendig, die unge

lösten Probleme im Zusammenhang mit der Anwesenheit von Ausländern mit präzisen Begriffen und ohne Furcht zu bearbeiten. Weltoffenheit ist die Selbstverpflichtung eines Volkes und von Menschen, neugierig, kooperativ und rational in die Welt und zu anderen Völkern zu gucken, über sie nachzudenken und mit ihnen zu agieren. Dies ist natürlich verbunden mit der Hoffnung, dass andere uns genau so sehen und behandeln, denn überall in der Welt, außer in Deutschland, sind auch wir Ausländer.

(Starker Beifall im ganzen Hause)

Danke schön, Herr Professor Wernstedt. - Meine Damen und Herren, Herr Kollege Schünemann hat jetzt ums Wort gebeten.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident Wernstedt, ich darf mich im Namen meiner Fraktion ausdrücklich für Ihre sehr nachdenkliche Rede bedanken.