Protocol of the Session on January 27, 2000

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, damit ist die Beratung des Tagesordnungspunktes 17 abgeschlossen. Wir kommen zur Ausschussüberweisung.

Der Antrag soll zur federführenden Beratung und Berichterstattung an den Kultusausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Haushalt und Finanzen überwiesen werden. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! Dann ist das so beschlossen.

Wir haben uns darauf verständigt, dass wir den Punkt 18 der Tagesordnung - Einsetzung einer Enquete-Kommission „Staatsmodernisierung im Parlament“ - nach der Mittagspause unmittelbar nach der Vereidigung des Präsidenten des Staatsgerichtshofs beraten.

Damit kommen wir zu dem Punkt, der heute besonders hervorgehoben werden muss:

Stunde der Besinnung aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus

Sie wissen, dass heute vor 55 Jahren die Truppen der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz erreichten. Sie befreiten die dort noch verbliebenen nicht viel mehr als 10.000 Gefangenen. Über das Ausmaß der in den Jahren davor betriebenen industriemäßig organisierten Vernichtung von mehr als eine Million Juden, Sinti, Roma und anderen Gefangenen hatten die Befreier zunächst gar keine Vorstellung.

Erst die Jahrzehnte danach haben die tatsächlichen Vorgänge in diesem Lager und seine Eingebundenheit in die nationalsozialistische Industrie- und Rüstungsmaschinerie geklärt und Auschwitz zum Symbol der NS-Herrschaft und seiner menschenvernichtenden Ideologie und seiner Folgen gemacht.

Bundespräsident Herzog hat ein Jahr nach der bewegenden Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Er bat darum, Formen des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirken.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in den Nachkriegsjahren bis heute in einem langen, manchmal quälenden Prozess eine Position erarbeitet, die die prinzipielle Ablehnung des Nationalsozialismus in all seinen Schattierungen einschließt. Dies gehört zu den Fundamenten unseres Staates.

Dass die Folgen dieser Jahre bis heute nicht abgeschlossen sind, beweist die hoch aktuelle Frage der Zwangsarbeiterentschädigung. Aber auch die Formen der Erinnerung und des Gedenkens dürfen nicht in Routine erstarren. Jeder Aufruf zum Nachdenken und zur Vergewisserung der eigenen Haltung muss den inneren Stolz überwinden, dass man doch eigentlich genug darüber wisse, um so wieder frei zu werden für einen eigens erarbeiteten inneren Zugang zu dem grässlichsten Ort unserer Geschichte.

Wir haben heute Gelegenheit, den Oberkantor von Jerusalem, Sao Paulo und New York, Herrn Mosche Stern, zu hören. Er gilt in der jüdischen Welt als der ausdrucksstärkste Kantor und hat am 27. Januar 1995 an den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau die Klagelieder gesungen. Ich bin dankbar dafür, dass er eigens für den Niedersächsischen Landtag heute aus Jerusalem zu uns gekommen ist.

Ich bitte Sie, dass wir jetzt gemeinsam ins Forum des Landesmuseums gegenüber der Marktkirche gehen, um uns diese Lieder und einige andere Lieder anzuhören. - Vielen Dank.

„Gesänge der Erinnerung - Gesänge der Hoffnung“ im Forum des Landesmuseums

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befinden uns hier inmitten einer Ausstellung, die synagogale Orgeln zeigt und die von Studierenden gefertigte Modelle zerstörter, auch niedersächsischer ehemaliger Synagogen präsentiert. Organisiert worden ist diese Ausstellung von Herrn Andor Izsák, dem Leiter des Zentrums für jüdische Musik an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover.

Wir haben die Hoffnung, dass diese Orgeln und noch einige mehr auf Dauer in Hannover in einer würdigen Umgebung bleiben können, und würden uns freuen, wenn dies gelingt.

Die Synagogen konnte man verbrennen, die Lieder nicht. Wir sind heute hier, um einige davon zu hören. - Herr Izsák!

Izsák:

Herr Präsident! Herr Ministerpräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass die Orgelausstellung „Magrepha“ dem Niedersächsischen

Landtag für eine Gedenkstunde ein Heim geben darf, ist Glück im Unglück. Die Synagogen sind in der Reichspogromnacht zerstört worden. Das bedeutete den Beginn einer Katastrophe, die bis zur Ermordung der Juden in Europa, bis zu Auschwitz führte. Diese unwahrscheinliche, unvorstellbare Schrecklichkeit, diese Missetat kann man nicht mit Worten beschreiben. Man zerstört die Gotteshäuser, man zerstört jüdische Identität, es schweigen die Gebete, es brennen die Thorarollen - das alles ist unvorstellbar, und ganz bestimmt für einen Juden, der sieht: Wo die Thorarollen brennen, da werden auch Menschen vernichtet.

Ein Tag wie heute hat für uns eine doppelte Bedeutung. Einmal bedeutet er Trauer; denn jeder von uns hat in diesen Konzentrationslagern Freunde, Verwandte oder Bekannte verloren. Zum anderen bedeutet er aber Freude; denn jeder von uns hat auch einen Freund, einen Verwandten oder einen Bekannten, der diese schreckliche Katastrophe überlebt hat.

Wir befinden uns hier in einer Ausstellung über die Magrepha. Die Magrepha war die Orgel auf dem Tempel von Jerusalem. Der Tempel wurde in 70 zerstört, die Orgel damit auch. Sie schwieg, bis ein Rabbi, ein Lehrer, ein Geschäftsmann - ich kann es gar nicht sagen - in Niedersachsen, und zwar in Seesen am Harz, in eine Synagoge, deren Modell Sie hier betrachten können, die erste Orgel in den Gottesdienst einbrachte. Seitdem gibt es in Deutschland wieder Orgelmusik, und das Land Niedersachsen hat etwas dazu beigetragen, dass in den Synagogen überall auf der Welt die Orgel wieder eingeführt wurde.

Die Musik, das Gebet lässt sich nicht von der Liturgie, von den wesentlichsten Elementen des Judentums, trennen. Aus diesem Grunde freue ich mich darauf, dass heute der Jerusalemer Oberkantor Moshe Stern die Gesänge dieser zerstörten Synagogen vortragen wird.

Wir beginnen mit dem Gebet „El Male Rachamim“. Mit diesem Gebet wollen wir an die Menschen erinnern, die wir alle gemeinsam in dieser schrecklichen Zeit verloren haben.

Am Ende von „El Male Rachamim“ erklingt das „Kaddisch“. Ich möchte Sie bitten, sich bei diesem Gebet zu erheben, genauso wie wir das in unserer Synagoge tun.

Das „Kaddisch“ tragen wir nur bei ganz besonderen Anlässen vor. Der heutige Tag ist so ein An

lass. Hören Sie das Gebet genauso, wie wir es in der Synagoge oder auf dem Friedhof singen, oder so, wie es Moshe Stern in Auschwitz am 50. Jahrestag der Befreiung in Erinnerung an die ermordeten 6 Millionen Juden gesungen und gebetet hat.

(Die von Oberkantor Moshe Stern in hebräischer Sprache vorgetragenen Gebete und Gesänge wer- den im Folgenden in deutscher Übersetzung wie- dergegeben. Eine Wiedergabe in hebräischer Spra- che war aus drucktechnischen Gründen nicht mög- lich.)

Moshe Stern:

El Male Rachamim

„Der Vater des Erbarmens, der im Himmel thront, in seinem mächtigen Erbarmen wird er barmherzig der Frommen gedenken, der Geraden und Vollkommenen, der heiligen Gemeinden, die ihr Leben hingaben zur Heilung des göttlichen Namens, der Geliebten und Herrlichen, die im Leben und im Tode zusammenhielten, rascher waren als Adler, stärker als Löwen, den Willen ihres Schöpfers zu erfüllen und den Wunsch ihres Hortes. Möge unser Gott sie zum Guten bedenken mit den übrigen Gerechten der Welt und Vergeltung üben für das vergossene Blut seiner Knechte. Wie in der Lehre Mosches geschrieben, des Gottesmannes: Preiset, Nationen, sein Volk, denn er ahndet das Blut seiner Knechte, Vergeltung zahlt er dessen Bedrängern und sühnt das Erdreich seines Volkes. Und durch deine Knechte, die Propheten, steht also geschrieben: Wenn ich ungeahndet lasse, ihr Blut lasse ich nicht ungeahndet, wenn der Ewige thront in Zion! Und in den heiligen Schriften heißt es: Warum sprechen die Völker: Wo ist ihr Gott! Unter den Völkern wird vor unseren Augen kund werden die Vergeltung für das vergossene Blut deiner Knechte. Ferner heißt es: Der Blutschuld ahndet, gedenkt ihrer, vergißt nicht des Wehklagens der Demütigen. So heißt es auch: Er wird die Völker richten, füllt sie mit Leichen, zerschmettert das Haupt weiter Länder. Ihn, der aus dem Bach am Wege trank, weil er trotzig das Haupt erhoben.“

Kaddisch

„Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen, und sein Reich erstehe in eurem Leben und in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel und in naher Zeit, sprechet: Amen!

Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten!

Gepriesen sei und gerühmt und verherrlicht und erhoben und erhöht und gefeiert und hocherhoben und gepriesen der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprechet: Amen!

Nimm in Barmherzigkeit und Wohlgefallen unser Gebet an.

Möge Erhörung finden das Gebet und die Bitte von ganz Israel vor seinem Vater im Himmel, sprechet: Amen!

Der Name des Ewigen sei gepriesen von jetzt an bis in Ewigkeit!

Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden, sprechet: Amen!

Meine Hilfe kommt vom Ewigen, dem Schöpfer von Himmel und Erde.

Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel, sprechet: Amen!“

Iszák:

Vorige Woche habe ich einen Brief bekommen. Er stammt von einem Herrn Kenneth R. Ward aus England. Ich möchte Ihnen diesen Brief einmal vorlesen, ohne Kommentar, einfach so:

„Ich wurde in Frankfurt am 29. November 1922 geboren. Mein Vater Siegfried Würzburger war Organist an der Westend-Synagoge in der Freiherr-von-Stein-Straße und hatte eine private Musikschule. Meine Mutter Gertrude Würzburger war eine Sprachen- und Musiklehrerin. Ich fuhr am 24. August 1939 mit einem Kindertransport - ich glaube, es war der letzte, der aus Frankfurt abfuhr - nach London. Während des Krieges diente ich in der englischen Armee und musste deshalb meinen Namen wechseln.

Mein Vater Siegfried Würzburger war fast blind, mein ältester Bruder Hans hatte Asthma, und deshalb konnten

meine Eltern und mein Bruder nicht auswandern. Alle drei wurden am 19. Oktober 1941 mit einem großen Transport von Frankfurter Juden nach Lodz verschickt, wo mein Vater im Januar 1942 starb. Meine Mutter Gertrude wurde im Mai 1942 dort vergast. Hans kam auch nicht zurück.

Mein zweitältester Bruder Walter war zu Kriegsbeginn in Singapur, wo er interniert und nach Australien geschickt wurde und wo er dann in die australische Armee gehen durfte. Mein dritter Bruder Paul konnte Ende 1939 nach Palästina entkommen, wo er erst illegaler Einwanderer war. Später ging er in die Jewish Brigade.

Mein Vater gab auch Orgelkonzerte in dem jüdischen Kulturbund in Frankfurt bis zu seiner Deportation in 1941 und komponierte auch für die Orgel. Vor zwei Jahren habe ich zwei von seinen Kompositionen bekommen, die eine Schülerin von ihm Ende 1939 mit nach Amerika genommen hatte. Sie heißt Marhel Hirsch, geborene Sommer, und war Organistin in einer Synagoge in New York, bis sie vor einigen Jahren in den Ruhestand ging. Es ist möglich, dass Sie von ihr gehört haben.

Ich lege je eine Kopie von der „Passacaglia und Fuge über Kol Nidre für Orgel“ und „Mous Tzur Passacaglia“, beide von Siegfried Würzburger, für Sie anbei, in der Hoffnung, dass Sie diese beiden Kompositionen zum Andenken meines Vaters und der Millionen jüdischer Opfer im Holocaust vielleicht noch während des Programms oder zu einer anderen Zeit spielen können. Ich würde sehr dankbar sein, wenn Sie das ermöglichen könnten und mir dann auch sagen könnten, wenn es gespielt wird, damit ich dafür dann, wenn möglich, nach Hannover kommen kann.“

Ich habe diesen Brief vorige Woche bekommen. Ich konnte Herrn Ward natürlich nicht mehr benachrichtigen, dass ich vorhabe, Ihnen aus diesem

Orgelwerk etwas vorzuspielen. Aber ich denke, es ist sehr angemessen.