Protocol of the Session on September 25, 2002

- Ich habe Ihnen gut zugehört. Ich bin sehr an der Sache interessiert. Lassen Sie mich einmal ausreden. - Es geht darum, dass wir bei der ersten Straftat, spätestens aber nach einer Reihe von Straftaten, überlegen müssen, welche Instrumente wir über die Jugendgerichte und über die örtlichen Jugendbehörden haben, dort einzugreifen. Hierbei gibt es nicht nur die Maßnahmen Inobhutnahme und Heim. Eine Vielzahl von Maßnahmen ist vorher möglich. Wenn ich das aber ignoriere, wenn es mir egal ist, was die Polizei dazu sagt, wenn ich Zustände habe, dass der Polizei durch die Sozialarbeiter der Zutritt zu einem Jugendzentrum verboten wird, dann ist es auch die Aufgabe des Ministerpräsidenten dieses Landes, zu sagen: So geht das nicht!

(Beifall bei der SPD)

Ich meine, wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir so tun, als sei die geschlossene Heimunterbringung die Lösung der Probleme. Deswegen finde ich die Ausführungen von Herrn Wulff unredlich. Denn die Auseinandersetzung um Kinder- und Jugendkriminalität ist nicht an einem Thema festzumachen. Herr Wulff behauptet, wir hätten seit Jahren kein Konzept. Das ist Unsinn. Es gibt eine Vielzahl von Maßnahmen. Nur ein Bruchteil davon ist vorgestellt worden. Das kennen Sie alles. Wir machen Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendhilfe, Beratung und ganz viele Dinge, und zwar gerade in diesem Bereich, z. B. Täter-OpferAusgleich. Am Ende reicht das manchmal aber nicht. Man darf nicht den Eindruck vermitteln, als

sei die geschlossene Heimunterbringung das allein Seligmachende.

Aber man darf auch nicht den Eindruck vermitteln, als sei Kinder- und Jugendkriminalität nur ein Problem der gefühlten Temperatur, Frau Harms.

(Wulff (Osnabrück) [CDU]: So ist es!)

Ich sage Ihnen: Hier missachten Sie die Opfer. Das würde ich nicht machen.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Es gab - das ist, glaube ich, das kulturelle Problem bei der Debatte - im Umgang mit dem Problem zu lange eine ausschließliche Täterorientiertheit.

(Zustimmung von Wulff (Osnabrück) [CDU])

Wir müssen erkennen, dass das Kind, wenn der Straftäter ein Kind oder ein Jugendlicher ist, das erste Opfer ist. Seine Zukunft geht kaputt. Es gibt aber auch andere Opfer. Was meinen Sie, wie es ist, wenn junge Leute oder auch Erwachsene Angst haben? Wissen Sie, wie viel Lebensqualität Angst kosten kann?

(Frau Pawelski [CDU]: Richtig!)

Das ist eine ganz schlimme Entwicklung für die betroffenen Kinder und Jugendlichen, die sich nicht trauen, den Schulweg zu nehmen, die sich nicht trauen, in der Pause die Schule zu verlassen, die am Nachmittag nicht auf den Bolzplatz gehen, weil dort jemand ist, dem niemand die Grenzen zeigt.

Das nächste Problem ist: Es gibt 15- und 16-Jährige mit hoher krimineller Energie, die Elf- und Zwölfjährige losschicken, weil sie wissen, dass die für die Straftat nicht belangt werden können. Ich sage Ihnen: Dort müssen wir dazwischen gehen. Es darf nicht sein, dass Eltern in Hannover, selbst Mitarbeiter im Jugendbereich und im Sozialbereich, die solchen Themen gegenüber hoch aufgeschlossen, sehr liberal, wirklich nicht konservativ in diesen Fragen sind und sagen: Ich ziehe hier weg. Niemand hilft mir. Vor der Tür finden Straftaten statt. Ich habe mir jetzt eine Gaspistole gekauft. - Daraufhin haben wir ihnen gesagt: Lassen Sie das sein. Im Dunkeln könnte es einer für eine richtige Pistole halten, und die anderen haben vielleicht eine richtige Pistole.

Wissen Sie, warum ich bei diesem Thema angesprungen bin? - Weil ich im Kommunalwahlkampf in ein paar Großstädten von Anwohnerinnen und Anwohnern darauf angesprochen wurde. Ich habe denen gesagt: Ich komme ohne Kamera und ohne Journalisten wieder, und gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten oder den örtlichen Verantwortlichen machen wir eine Stadtteilbegehung. Dann sagen Sie mir einmal, was hier los ist. - Das habe ich gemacht. Daraufhin hat die Polizeidirektion in Hannover die Brandherde ermittelt und eine eigene Strategie entwickelt, um damit umzugehen. Das ist unser Auftrag, Frau Harms. Wir dürfen nicht, nur weil es keinen Spaß macht, in die Schmuddelecken zu gucken, immer wegsehen. Es gibt einen Teil, bei dem wir viel zu lange weggesehen haben. Das ist der Bereich, der dann am Ende beispielsweise zum Kalifatsstaat geführt hat. Hingucken, meine Damen und Herren, das ist unser Job; nicht an den unangenehmen Sachen vorbeigehen!

(Beifall bei der SPD)

Herr Ministerpräsident, Herr Schröder möchte Sie etwas fragen.

Gern, Herr Schröder, bitte!

Herr Ministerpräsident, Ihre Ausführungen geben mir Anlass zur Hoffnung, dass Sie mir darüber Auskunft geben können, was Sie mit Ihrer Pressemitteilung meinten, der Aufstand der Anständigen - dort ging es ja bekanntlich um Rechte und NPD müsse abgelöst werden vom Anstand der Zuständigen. Wie stehen Sie dazu?

Ich habe gesagt: Manchmal ist es wichtiger, bevor man zum Aufstand der Anständigen auffordert, erst einmal den Anstand der Zuständigen herbeizuführen. Damit sind Menschen in Amt und Funktion gemeint, die Geld dafür bekommen und sich um solche Fragen nicht kümmern. Die sind damit gemeint. Hier gibt es zuständige Stellen, die wegschauen. Ich bin froh, dass die jetzt nicht mehr wegschauen. Aber es war nötig, denen einmal zu sagen: Freunde, da gibt es einen Auftrag für euch;

kümmert euch darum. - Das habe ich getan, und das ist auch meine Aufgabe.

Es gibt übrigens, Frau Janssen-Kucz, kein zerstörtes Verhältnis zu den Kommunen bezüglich dieser Frage. Natürlich gibt es auch dort solche Probleme, aber niemand redet gerne darüber; schon gar nicht, wenn er selbst dafür verantwortlich ist. Es gibt doch jemanden hier im Landtag, der im Landkreistag eine wichtige Funktion hat. Die sind doch froh darüber, dass wir mit ihnen darüber reden.

Jetzt zu dem Thema geschlossene Heimunterbringung, Herr Wulff; ein letztes Mal in der heutigen Debatte - ich nehme an, es wird nicht das letzte Mal sein. Ich sage Ihnen, dass wir, solange wir bundesweit geschlossene Heimplätze haben, in die wir einweisen können, in Niedersachsen keine eigenen brauchen. Bevor wir ein eigenes Heim bauen, wäre ich bereit, wenn es an anderen Stellen Kapazitätsengpässe gibt, Verträge mit den dortigen Trägern abzuschließen. Erst, wenn auch das nicht mehr ausreicht, müssten wir eine geschlossene Heimunterbringung haben.

Es ist Unsinn, zu sagen, dass die Bayern uns helfen müssten. Die vier Bundesländer helfen bundesweit aus, weil wir derzeit eben nur sieben Einrichtungen brauchen. Es nützt nichts - deshalb, glaube ich, zäumen Sie das Pferd vom Schwanz auf - zu sagen, dass Plätze gebaut werden müssen. Wir müssen erst die Kultur ändern, damit auch jemand bereit ist, das vor Gericht zu beantragen.

Übrigens: Mir wäre es lieber, dass schon nach dem ersten Fall jemand so reagiert, damit es nicht erst zu 29 Straftaten kommt und wir über geschlossene Heimunterbringung reden müssen, als dass wir zuerst die Plätze bauen, die dann keiner nimmt und wir keine Möglichkeit haben, sie zu füllen. Deswegen sage ich Ihnen: Wir haben da kein Kapazitätsproblem. Hätten wir eines, würde ich Ihnen Recht geben: Dann müssten wir dafür sorgen, dass wir auch diese Einrichtung vorhalten.

Wir müssen, glaube ich, eines festhalten. Ich habe heute einen anderen Eindruck als bei der Debatte vor zwei Jahren. Vor zwei Jahren hatte ich den Eindruck, Sie seien in der Tat auf dem Trip der alten geschlossenen Heime. Sie haben in unseren letzten Debatten ein Stück weit anders argumentiert. Damals hatten Sie noch gesagt: So etwas, was wir wollten, wollten Sie nicht. Da gibt es, wie es in Landtagsdebatten manchmal so ist, ein Hin und Her. Ich sage Ihnen, dass wir dann, wenn wir darin

einig sind, die Heimunterbringung der 50er- und 60er-Jahre nicht mehr zu brauchen, einen großen Schritt weiter sind. Wir brauchen die u. a. deshalb nicht, weil nicht die niedersächsische SPD, sondern Ihr Ministerpräsident Ernst Albrecht und der Kultusminister Werner Remmers am 31. Juli 1982 das letzte dieser Heime für die Fürsorgeerziehung zugemacht haben. Damals sind die letzten 30 Plätze in Niedersachsen in geschlossenen Heimen abgeschafft worden, weil man gesagt hat, dass diese Form der Heimunterbringung nicht das ist, was unsere Kinder und Jugendlichen brauchen.

Was wir miteinander meinen, ist eine befristete Unterbringung - notfalls auch geschlossen -, wo der Übergang organisiert wird, damit die Kinder und Jugendlichen hinterher mit der Freiheit klarkommen, wo eine Nachsorge stattfindet, wo es eine intensive pädagogische Betreuung gibt und nicht das einfache Wegschließen. Sie wollen das doch auch nicht. Das glaube ich jedenfalls zu wissen, dass Sie niemand sind, der die Kinder der Leute einfach wegschließen will. Sie wollen doch, dass mit denen gearbeitet wird, so wie das in den Einrichtungen gemacht wird, die Sie besucht haben. Aber dann lassen Sie uns nur dann solche Plätze schaffen, wenn wir sie wirklich brauchen, und nicht den Popanz des alten Begriffes „geschlossene Heimunterbringung“ als Masseneinrichtung hochhalten. Ich glaube nicht, dass die CDU-Fraktion das will. Die SPD-Fraktion will das ganz bestimmt nicht. Auch die Fraktion der Grünen wird im Einzelfall nicht damit klarkommen, ein Kind in einer solchen Einrichtung unterzubringen. In der Vergangenheit waren da auch niedersächsische Kinder, so wie auch Kinder, die nicht in geschlossene, sondern in offene Einrichtungen müssen, nach Niedersachsen gekommen sind, auch wenn sie hier nicht wohnen.

Wir führen hier eine Debatte - da gebe ich Frau Harms Recht -, bei der wir wirklich aufpassen müssen - es ist ja kein Journalist mehr da; deswegen reden wir vielleicht auch ruhiger -, dass wir nicht immer den Eindruck vermitteln - -

(Zurufe von der CDU und von den GRÜNEN)

- Entschuldigung, Sie waren so vertieft, dass ich Sie nicht sehen konnte.

(Heiterkeit)

Ich nehme das mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück, wenn Sie das gestatten.

(Zuruf von der CDU: Jetzt können Sie wieder scharf werden!)

- Ich habe heute Morgen auf Schärfe scharf geantwortet. Auf einen groben Klotz - das tut mir Leid gibt es einen groben Keil. Es gibt den alten Spruch: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch wieder heraus. So ist das nun einmal.

Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns die Debatte - es handelt sich ja jetzt um die erste Beratung - im Ausschuss weiterführen. Im Ergebnis - zumindest was den Umgang mit diesem Thema angeht glaube ich, dass unsere Meinungen nicht so fürchterlich weit auseinander klaffen. Mir läge viel daran, weil es um Kinder und Jugendliche und - das sage ich ausdrücklich - um das Sicherheitsempfinden unser Bevölkerung geht – da geht es nicht um gefühlte Temperaturen -, wenn es gelänge, miteinander ein Ergebnis zu erzielen. Es ist des Schweißes der Edlen wert, meine Damen und Herren. Ich glaube, wir haben genug Kompetenz, das hinzubekommen. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Das Wort hat Herr Wulff. - Entschuldigung, ich habe mich geirrt. Vorher hatte sich Frau Harms zu Wort gemeldet. Frau Harms, Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Herr Ministerpräsident! Meine Damen und Herren! Ich muss hier eines klarstellen. Das ist vielleicht verloren gegangen, weil ich mich nur positiv auf die Darlegungen von Frau Trauernicht bezogen habe. Auch wir meinen, dass im Einzelfall Kinder in Obhut genommen werden müssen. Das ist unstrittig. Das Problem, das wir in der Debatte der letzten Tage gesehen haben, ist, dass aus einem Einzelfall ein riesiges Problem geworden ist und dass immer wieder dieses Muster funktioniert: Wenn die CDU in einer Wahlkampfsituation aus einem solchen Einzelfall eine Welle von Kinderkriminalität macht, dann neigt die Sozialdemokratie dazu, sich dranzuhängen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Das ist meiner Meinung nach am besten mit „innenpolitisch die Lufthoheit über den Stammtischen erringen“ beschrieben worden. Wenn man versucht, aufgeklärt, rational über den Umgang mit

Gewalt und Kriminalität von Kindern in Niedersachsen zu diskutieren, dann werden einem ganz oft diese Stimmungsmache und die reißerischen Überschriften entgegengehalten. Ich weiß nicht, wie Sie Niedersachsen wahrnehmen. Ich reise viel durch dieses Land. Ich reise mit der Bahn. Manchmal muss ich ein Taxi nehmen. Ich gehe auch oft zu Fuß, weil es mir gut tut. Oft bin ich spät abends in Hannover unterwegs. Ich gehe auch durch schwierige Stadtteile. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich hier so furchtbar verfolgt werde. Wenn ich dann Herrn Pfeiffer höre, wenn er seine Bilanzen und Statistiken vorlegt und sagt „Die Kriminalität geht eigentlich zurück“, dann frage ich mich am Ende einer solchen Debatte: Hatte Herr Pfeiffer heute Vormittag Recht, oder ist es so schlimm, wie Sigmar Gabriel es jetzt wieder anhand eines Einzelfalles geschildert hat?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mit dem Einzelfall werden aber reißerische Schlagzeilen gemacht, Herr Kollege Plaue, und es passiert das, was ich auf den Begriff „die gefühlte Kriminalität wächst“ gebracht habe. Meine Mutter fühlt sich dann auch in Uelzen plötzlich wieder ganz bedroht. Sie ruft mich dann an und fragt. Ich finde, da ist die Politik nicht anständig, und da befinden Sie sich immer wieder im Widerspruch zu den aufgeklärten Ideen der Sozialdemokratie.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Wort hat nun Herr Wulff. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen die Sachlichkeit dieser Debatte außerordentlich, weil wir sie über viele Jahre zu diesem Thema vermisst haben. Bereits im Januar 1998 haben wir dargelegt - darauf habe ich schon hingewiesen -, dass die Unterbringung in geschlossenen Heimen, wie sie in den 60er- und 70er-Jahren praktiziert worden ist, überhaupt nicht unser Anliegen war, sondern eine therapeutische, wie sie dann im nächsten Fortgang der Ereignisse auch angekündigt wurde.

Am 1. Dezember 1999 hat die Deutsche PresseAgentur berichtet, die Landesregierung schaffe 30 Plätze in geschlossenen Einrichtungen für hochgradig kriminelle, auffällige Jugendliche; die Landesregierung würde das Programm, das gestern

- also am 30. November 1999 - in Hannover beschlossen worden sei, jetzt in die Tat umsetzen. Die Frage ist, ob man immer dann, wenn irgendwo das Kind im Brunnen liegt, groß anlaufen kann, erklären kann und so tun kann, als täte man etwas, und nicht auch Rechenschaft dafür ablegen muss, dass man seit Jahren in diesem Lande regiert und die Ankündigung nicht in tatsächliches Tun umgesetzt hat.

(Beifall bei der CDU)

Das ist Aufgabe der Opposition. Diese Art des Nachfassens ist auch vor dem Hintergrund wichtig, dass Sie vielfach Jahre gebraucht haben, um bestimmte Wirklichkeiten anzuerkennen. Erinnern Sie sich einmal an die Diskussion, die wir hier über Schulschwänzen geführt haben. Als wir die ersten Anträge unter Bezugnahme auf Herrn Pfeiffer in seiner damaligen Position gestellt haben, wurde uns vorgeworfen „Ihr wollt Schulschwänzer kriminalisieren“, nur weil wir gesagt haben, die meisten kriminellen Karrieren Jugendlicher haben mit Schulschwänzen angefangen, ohne dass damit jeder Schulschwänzer - wer hat nicht mal die Schule geschwänzt? - zu einem Kriminellen wird. Aber nein, von Ihnen wurde dieser vernünftige Ansatz von Herrn Pfeiffer mit einer unglaublichen Polemik und Demagogie zunichte gemacht. Erst dann, als er hier Platz genommen hatte, konnte das vernünftig auf die Bahn gebracht werden.