Protocol of the Session on August 28, 2002

Meine Damen und Herren, es ist keine Rede mehr von mangelndem ehrenamtlichen Engagement und keine Rede mehr von der Ellenbogengesellschaft ohne Verantwortungsgefühl für den Nächsten. Die Menschen haben in diesen Tagen und Wochen nicht nur den Kampf gegen die Flut gewonnen, sondern auch den Kampf gegen Vereinzelung, Egoismus und Ellenbogengesellschaft. Das ist ein wirklich ermutigendes Zeichen für unser Land.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN – Zustimmung bei der CDU)

Mir geht es wie vielen von Ihnen: Mir haben sich in den vergangenen Tagen beeindruckende und bewegende Erlebnisse und Bilder tief ins Gedächtnis eingeprägt. Da sind Bilder von langen Menschenketten, die ohne Unterlass Sandsäcke weiterreichen - der Feuerwehrmann neben der Schülerin, der Polizist neben dem Punker, die Dorfbewohnerin neben dem Soldaten, Kinder, Jugendliche, ganze Schulklassen, Betriebe und Behörden, die sich sogar von weit her auf den Weg gemacht haben, um zu helfen - Menschen, die nicht abseits stehen wollen, wenn ganze Städte, Dörfer und Menschen von den Fluten bedroht sind.

Eine Klasse der Polizeihochschule in Hann.Münden sagt ihre Klassenreise ab und fährt statt nach Prag, was derzeit ohnehin schwierig gewesen wäre, zusammen mit 400 jungen Auszubildenden der Polizei aus den Fachhochschulen geschlossen zum Hochwassereinsatz. Jugendfeuerwehren verlegen ihre Sommercamps in die Hochwassergebiete, Sportvereine schicken komplette Mannschaften an die Deiche, zahlreiche Schulen haben sich gemel

det, um zu helfen. Asylbewerberinnen und Asylbewerber melden sich und wollen helfen. Da gibt es Männer und Frauen, die zu Fuß oder per Fahrrad gekommen sind, den eigenen Spaten in der Hand, um Sandsäcke zu füllen oder zu schippen.

Meine Damen und Herren, in Deutschland wird manchmal darüber gestritten, ob wir auf etwas stolz sein dürfen. Ich denke: Alle diese Menschen dürfen zu Recht stolz sein auf das, was sie in diesen Tagen für die Menschen in Niedersachsen geleistet haben.

(Starker Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN – Zustimmung bei der CDU)

Wie ist die Lage in Niedersachsen? Die aktuelle Hochwassersituation an der Elbe hat sich entspannt. Die Gefahr eines Deichbruchs wird nicht mehr gesehen. Der Katastrophenfall für die Landkreise Lüneburg, Lüchow-Dannenberg und Harburg konnte gestern um 16 Uhr aufgehoben werden. Die Deichverteidigung liegt damit wieder in den Händen der Deichverbände. Im Amt Neuhaus verbleiben zunächst noch vorsorglich 100 Feuerwehrleute. Bis Donnerstagmittag werden zudem 1 600 Soldaten dort verbleiben, um die Sandsäcke von den Deichkronen herunter zu transportieren. Anschließend steht die Bundeswehr auf Anforderung für Hilfeleistungen weiterhin zur Verfügung.

Auch in der letzten Nacht gab es vor Ort keine unliebsamen Überraschungen. Die Pegelstände sinken derzeit in 24 Stunden im Durchschnitt um 25 cm bis 30 cm. In Hitzacker betrug der Pegelstand heute Morgen um 6 Uhr 6,37 m, in Bleckede betrug er 10,44 m und in Schnackenburg 6,03 m.

Meine Damen und Herren, die Schäden in Niedersachsen betreffen nach unserem derzeitigen Kenntnisstand vor allem die Innenstadt von Hitzacker, wo ca. 500 Häuser vollgelaufen sind, andere Orte wie Alt-Wendischthun und Laasche, die unter Wasser standen. Wo Deiche zu brechen drohten, mussten Viehherden evakuiert werden. Auf ca. 5 000 ha Grünland ist das Wasser unter den Deichen durchgedrungen oder das Grundwasser gestiegen. Dort kann weder geweidet noch Heu geerntet werden. Der für die Region wichtige Tourismus ist durch das Hochwasser mitten in der Hochsaison zum Erliegen gekommen. Viele Tourismusbetriebe stehen jetzt vor großen Problemen.

Welche genauen Schäden etwa bei der Verkehrsinfrastruktur entstanden sind, lässt sich zum ge

genwärtigen Zeitpunkt nicht genau sagen. Viele Schäden werden erst abzuschätzen sein, wenn das Wasser abgelaufen ist.

Auch wenn wir weitgehend verschont geblieben sind - wo Hilfe notwendig ist, wird geholfen. Die Landesregierung zahlt seit Wochenbeginn bei akuter oder drohender Unterbringungsnot bis zu 5 000 Euro Soforthilfe an Familien, Einzelpersonen sowie gewerbliche oder landwirtschaftliche Betriebe aus. Diese Hilfen werden den Hochwasseropfern an der Elbe jetzt genauso schnell und unbürokratisch zugeleitet wie zuvor bei den Opfern des JuliHochwassers, beispielsweise in Horneburg. Ich denke, das sind wir den Menschen dort schuldig.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, dass die Schäden in Niedersachsen geringer sind, als angesichts der Flutgewalt im Oberlauf der Elbe angenommen werden konnte, haben wir aber nicht nur den Helferinnen und Helfern zu verdanken, sondern auch der Entscheidung der Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt zur Öffnung der Havel-Polder.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Unsere Experten der Wasserwirtschaft nehmen an, dass durch diese Entlastung zwischen dem 20. und 22. August die Flutwelle in Niedersachsen mehr als 30 cm niedriger ausfiel. Das war wirklich eine enorme Hilfe für die Deichverteidiger.

Für die Wasserwirtschaft unseres Landes war klar: Nur Brandenburg und Sachsen-Anhalt gemeinsam konnten diese Entscheidung aufgrund ihres Staatsvertrages und der Vorschläge ihrer gemeinsamen Fachkommission treffen. Und es war verständlich, dass vor allem Sachsen-Anhalt – in den ersten Gesprächen - die Frage beraten wissen wollte, ob dadurch mehr Schaden im eigenen Land entstehen würde als Entlastung in den Nachbarländern.

Um so mutiger war es, diese Entscheidung beider Länder vorzuziehen und bereits kurz nach unserer dringenden Bitte aus Niedersachsen nach Öffnung der Havel-Polder dieser Entlastung in unserem Elbbereich zuzustimmen.

Meine Damen und Herren, einer, der dazu maßgeblich beigetragen hat, war der Brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Er hat dafür - mehr als andere - im eigenen Land insbesondere in der Landwirtschaft viel Kritik einstecken müssen. Aber es waren wohl seine persönlichen Erfahrungen aus dem Oder-Hochwasser, die ihn schneller als erwartet zu einer Zusage veranlasst haben.

Ihm ist dafür ganz persönlich auf der Ministerpräsidentenkonferenz beim Bundeskanzler vor allem durch Mecklenburg-Vorpommern, SchleswigHolstein und auch Niedersachsen gedankt worden. Diesem Dank will ich mich heute genauso anschließen, wie wir den Dank an die Landesregierung von Sachsen-Anhalt heute bekräftigen wollen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, obwohl wir die Flutkatastrophe noch nicht ausgestanden haben, wird bereits heute wieder über den Aufbau der zerstörten Landesteile diskutiert - und für die Zukunft geplant. Eine erste Aufbruchstimmung macht sich bemerkbar. Dies alles ist im Wesentlichen dem entschlossenen und kraftvollen Krisenmanagement der Bundesregierung zu verdanken.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Unser Land hat erfahren, dass es auch in schwierigen Zeiten von einem tatkräftigen und zupackenden Bundeskanzler mit einer guten Regierungsmannschaft regiert wird.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Lachen bei der CDU – Unruhe - Glocke des Präsidenten)

- Ich würde an dieser Stelle nicht dazwischenrufen, weil der Dank für dieses Handeln u. a. in der Ministerpräsidentenkonferenz auch vom Sächsischen Ministerpräsidenten, Herrn Milbradt, der der CDU angehört, ausdrücklich ausgesprochen worden ist.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Mit der Entscheidung der Bundesregierung, die zweite Stufe der Steuerreform um ein Jahr zu verschieben und zusätzlich 1,2 Milliarden Euro aus der Europäischen Union zu bekommen, ist eine solide und wirksame Finanzierungsgrundlage in

Höhe von rund 10 Milliarden Euro geschaffen worden.

Gegen diese Entscheidung wird von der Opposition eingewandt, dass dadurch vor allem der Mittelstand und damit das wirtschaftliche Wachstum beeinträchtigt würden.

Trotz aller Einigkeit im Ziel - nämlich den Menschen in den betroffenen Regionen schnell und wirksam zu helfen - kann man sicherlich unterschiedlicher Meinung über die richtigen Wege zu diesem Ziel sein.

Aber die Argumente müssen auch stimmen - und da, finde ich, lässt die Kritik an dem Vorschlag der Bundesregierung einiges zu wünschen übrig:

Meine Damen und Herren, noch vor wenigen Tagen war die Steuerreform der Bundesregierung angeblich mittelstandsfeindlich. Nun wird das, was vorher so energisch bekämpft wurde, auf einmal zu einem zentralen Element der Wirtschaftspolitik, auf das man nicht verzichten kann.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Möllring [CDU]: Man kann doch nicht den einen Fehler durch einen anderen Fehler wieder gutmachen!)

- Verstehen Sie: Wir tauschen Argumente aus. Ich trage jetzt unsere vor, irgendwann sind Sie an der Reihe, und dann werden wir darüber diskutieren. Das ist ganz einfach!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Möllring [CDU]: Mei- nungen sind absolut frei! Wir haben Meinungsfreiheit!)

Übrigens ist es auch nicht schlimm, dass man das tut. Man darf in Wahlkämpfen, auch darüber hinaus, über Wege streiten. Das ist überhaupt kein Problem. Ich persönlich bin absolut sicher, dass jedes Mitglied Ihrer Partei das gleiche Ziel im Auge hat wie andere demokratische Parteien in Deutschland. Das steht völlig außer Frage!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Aber über die Wege werden wir reden können unaufgeregt, so glaube ich, aber auch mit Deutlichkeit!

Meine Damen und Herren, klar ist auch, dass das zentrale Element der Entlastung des Mittelstandes, nämlich die Gegenrechenbarkeit der Gewerbesteuer gegen die Einkommensteuer, überhaupt nicht von der Verschiebung der zweiten Stufe der Steuerreform betroffen ist. Denn diese Hilfe für den Mittelstand gibt es längst. Vor 1998 wäre der deutsche Mittelstand übrigens froh gewesen, wenn seine damalige Forderung auf Gegenrechenbarkeit der Gewerbesteuer in den 16 Jahren wirklich umgesetzt worden wäre.

(Beifall bei der SPD)

Ich kann verstehen, dass der deutsche Mittelstand weitere Steuer- und Abgabenentlastungen braucht. Ich halte diese Forderung nicht nur für verständlich, sondern durchaus auch für richtig. Aber ich will auch darauf hinweisen, dass diese Entlastungen deshalb nötig sind, weil andere zuvor die Abgaben in vielen Jahren so weit in die Höhe getrieben haben. Ich habe ein Problem, wenn mir diejenigen, die dafür verantwortlich sind, hinterher vorwerfen, unsere Politik würde nicht schnell genug zur Beseitigung der Schäden der früheren Jahrzehnte beitragen. Das halte ich für ein Problem.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Es waren SPD und GRÜNE, die in Berlin dafür gesorgt haben, dass es endlich wieder Entlastungen für Familien und auch für den Mittelstand bei Steuern und Abgaben gibt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Dass wir daran erinnern, wenn heute gegen die Vorschläge der Bundesregierung zur Flutopferhilfe protestiert wird, ist, meine ich, in diesen Zeiten bei aller Einigkeit im Ziel durchaus gestattet.

Was jetzt kommt, ist keine Steuererhöhung, sondern lediglich die Verschiebung einer Steuersenkung um ein Jahr. Niemand wird daran zugrunde gehen, auch nicht der Mittelstand. Was der Mittelstand vor allem im Osten braucht, sind Aufträge. Davon leben Unternehmen - nicht von einer ein Jahr früher eintretenden Senkung der Einkommensteuer. Diese Aufträge bekommt der Mittelstand nicht nur in Ostdeutschland, meine Damen und Herren, insbesondere in der gebeutelten Baubranche. Allerdings - das sage ich hier auch - wäre

es für die niedersächsischen Bauunternehmen gut gewesen, wir wären vor einigen Wochen zu einem bundesweiten Tariftreuegesetz gekommen. Dann wären unsere Chancen dort größer.