Protocol of the Session on March 12, 2020

Allein die geschichtsträchtigen Ereignisse in den vergangenen Wochen in Thüringen belegen, wie fatal es wäre, wenn man weglässt, reduziert oder verallgemeinert. Mut zur Lücke kann hier schreckliche Folgen haben.

Um überhaupt die neuere deutsche und auch internationale Geschichte zu unterrichten, brauchen wir mehr Geschichtsunterricht an den Schulen unseres Landes, brauchen die Kinder wenigstens eine Stunde zusätzlich ab Klasse 5. Der Geschichtsunterricht beginnt nämlich erst in der 6. Klasse. Die 5. Klasse geht da leer aus, fällt hinten runter. Und damit können eben die gesamten Inhalte aus dem Sachunterricht nicht in die Klasse 5 übernommen werden, weil da ein Jahr eine Lücke ist.

Sehr geehrte Damen und Herren, am 8. Mai 1945 trat um 23 Uhr die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches in Kraft. Als am 8. Mai Deutschland vom Nationalsozialismus, vom Faschismus befreit wurde, endete eine Zeit, in der mehr als 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Der deutsche Faschismus endete.

Endete der deutsche Faschismus? Ist er raus aus den Köpfen, dem Handeln, der Sprache? Bis zum heutigen Tag tragen wir Deutschen nicht nur eine Mitschuld, sondern die Schuld am Tod von Müttern und Vätern, die ihre Kinder allein zurückgelassen haben, sich selbst überlassen mussten, die nicht sahen, wie sie aufwuchsen. Wir Deutschen haben Schuld am Tod von Millionen Kindern, und das müssen wir auch im Unterricht vermitteln.

Der 8. Mai ist der Tag der Befreiung. Es ist der bedeutendste Tag in der deutschen Geschichte, denn er beendete das grausamste Kapitel unserer Geschichte. Dieses besondere Datum muss einen besonderen Stellenwert auch während der Schulzeit finden. Es bedarf einer herausgehobenen Bedeutung, um sich seiner herausgehobenen Bedeutung bewusst zu werden. Diese deutsche Geschichte darf sich nicht wiederholen.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen! Dafür müssen wir alle Sorge tragen!

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD und DIE LINKE)

Deshalb schlägt meine Fraktion vor, diese herausgehobene Bedeutung mit dem besonderen Stellenwert eines Projekttages zu verstetigen. Wir gedenken jedes Jahr der Opfer gemeinsam, ob SPD, CDU oder meine Partei. Gemeinsam legen wir Kränze an Mahnmalen nieder, gemeinsam ziehen wir durch Demmin und stoppen mit unserer klaren Haltung den Marsch des braunen Mobs.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Machen wir das alles nicht länger ohne die Schülerinnen und Schüler! Setzen wir in einer Zeit, in der die Grenze des Sagbaren täglich weiter nach rechts verschoben wird, ein Zeichen! Lassen Sie uns den 8. Mai, den Tag der Befreiung, zum Projekttag an allen Schulen Mecklenburg-Vorpommerns machen!

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Sehr geehrte Damen und Herren, diesen Projekttag könnten die Schülerinnen und Schüler dann zum Beispiel in der Mahn- und Gedenkstätte Wöbbelin durchführen. Hier ist es dem Kollegium um Frau Ramsenthaler in einer ganz besonders beeindruckenden Weise gelungen, Projekte und Zeitzeugengespräche zu initiieren, die für alle Klassenstufen, für Grundschüler genau wie für Jugendli

che aus Regionalen Schulen oder Gymnasien, altersgerecht die Geschichte des Nationalsozialismus aufbereiten, pädagogisch wertvoll und hervorragend vermitteln, niemanden überfordern, sondern wirklich alle sensibilisieren.

Dem kann aus mindestens zwei Gründen nichts im Wege stehen, denn zum einen hat das Bildungsministerium das Projekt „Geschichte erfahren – Demokratie gestalten“.

Frau Hesse, als Landtagspräsidentin erwarte ich, dass Sie bei so einem Thema zuhören und nicht von der ersten bis zur letzten Minute hier in der ersten Reihe rumdallern.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Das ist Ihrer Position als Landtagspräsidentin nicht würdig.

(Birgit Hesse, SPD: Danke, Frau Oldenburg!)

Dieses Projekt wurde durch die Universität wissenschaftlich evaluiert. Es wird in Wöbbelin durchgeführt, und zwar ganz erfolgreich mit Grundschulklassen. Und zum anderen fahren jetzt schon jedes Jahr mehrere Grundschulklassen nach Wöbbelin, um hier Geschichte zu lernen und zu erfahren. Jedes Jahr finanziert das auch das Bildungsministerium, obwohl die Richtlinie zur Förderung von Schulfahrten zu KZ-Gedenkstätten besagt, dass in der Regel Schulfahrten erst ab Jahrgangsstufe 7 gefördert werden. Es liegt also auf der Hand, dass das Ministerium die eigene Richtlinie richtigerweise auch so auslegt, dass hin und wieder Grundschulklassen nach Wöbbelin fahren können. Also ich denke, dass die Lehrkräfte genau wissen, was sie tun, dass sie genau auch erfahren haben, wann kann man mit Kindern was unterrichten, alles mithilfe der ausgewiesenen Projekte in Wöbbelin.

Ich denke, wir sollten das pädagogische Handeln nicht reglementieren, wir sollten die Altersbegrenzung erweitern. In den vergangenen Jahren sind nämlich über 200 Fahrten jedes Jahr zu den Gedenkstätten durch das Land finanziert worden, und zwar mit einem sehr enormen bürokratischen Aufwand. Sie müssen Selbstverständlichkeiten notieren. Damit werden wirklich die Lehrkräfte belastet mit einer Papierflut, die es bei Klassenfahrten zum Beispiel nicht gibt. Und so verhindern wir eigentlich erst einmal durch das zu geringe Geld, was bereitgestellt wird, obwohl es jedes Jahr mehr wird, und das ist sehr, sehr löblich, dass alle Klassen tatsächlich im Laufe der Schulzeit die Möglichkeit haben, eine Mahn- und Gedenkstätte zu besuchen, also an Orte der Geschichte zu gehen, um Geschichte dort zu lernen.

Wir schlagen vor, das Budget für diese Fahrten auf mindestens 500.000 Euro aufzustocken – ein Hundertstel, Herr Dahlemann, vom Strategiefonds, den Sie vorhin gerade erwähnten. Und dann, mit den 500.000 Euro, könnte jedes Kind, jeder Jugendliche einmal während der Schulzeit kostenlos eine Fahrt machen zur Mahn- und Gedenkstätte, denn das alles kann kein Geschichtsbuch, kein Film, keine Dokumentation und kein digitales Medium ersetzen – das Erleben von Geschichte.

Und dazu gehört natürlich auch das Gespräch mit den Zeitzeugen. Hier könnten wir ganz hervorragend mit der Landeszentrale für politische Bildung zusammenarbeiten, denn die Zeitzeugen gibt es nur noch sehr, sehr selten.

Ich möchte zum Ende einen Zeitzeugen zitieren:

„Liebe Lehrer …

Ich bin ein Überlebender eines Konzentrationslagers. Meine Augen haben gesehen, was niemand je sehen sollte.

Gaskammern, gebaut von gelernten Ingenieuren. Kinder, vergiftet von ausgebildeten Ärzten. Säuglinge, getötet von geschulten Krankenschwestern. Frauen und Babys, erschossen und verbrannt von Hochschulabsolventen.

Deshalb bin ich mißtrauisch gegenüber Erziehung. Meine Forderung ist, daß Lehrer ihren Schülern helfen, menschlich zu werden. Ihre Anstrengungen dürfen niemals führen zu gelernten Ungeheuern, ausgebildeten Psychopaten, studierten Eichmanns.

Lesen, Schreiben und Rechnen sind nur wichtig, wenn sie dazu dienen, unsere Kinder menschlicher werden zu lassen.“

Ende des Zitats.

Wenn wir mit der Landeszentrale für politische Bildung Dokumentationen dann tatsächlich auch dauerhaft installieren, dann kann den Lehrkräften, den Kindern und auch den Jugendlichen geholfen werden, niemals zu vergessen und uns immer daran zu erinnern, menschlich zu bleiben.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE und Torsten Renz, CDU)

Im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 58 Minuten vorzusehen. Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Für die Landesregierung hat um das Wort gebeten – in Vertretung für die Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur – Frau Hoffmeister, die Justizministerin.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat, mir obliegt, die Rede der Bildungsministerin vorzutragen.

Das Geschichtsbewusstsein zu stärken, wie Sie es in Ihrem Antrag formulieren, ist angesichts einer auseinanderdriftenden Gesellschaft und von zunehmend alltäglich werdendem Hass und Hetze gegen einzelne Personen oder ganze Gruppen ein Anliegen, das wir alle teilen sollten. Und natürlich sollten wir dabei auch besonders die Kinder und Jugendlichen in den Blick nehmen, schließlich wird ihre Haltung die Art und Weise unseres künftigen Miteinanders prägen. Schwierig findet es die Bildungsministerin, diese Forderung so eng damit zu verbinden, dass sich 2020 der 8. Mai zum 75. Male jährt. Das lässt diesen Antrag ein bisschen nach Aktionismus und Effekthascherei aussehen.

Den jungen Generationen ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein zu vermitteln, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und wir täten gut daran, genau das zu

betonen, anstatt immer mehr Verantwortung bei den Schulen abzuladen. Überall im Land leisten die Lehrerinnen und Lehrer, auch im Fach Geschichte, gute und engagierte Arbeit, die auf ihre Schülerinnen und Schüler überspringt. Dieser Antrag suggeriert einen Mangel an unseren Schulen, den es so nicht gibt.

(Peter Ritter, DIE LINKE: Ich glaube, da irrt Frau Bildungsministerin.)

Der Stoff im Geschichtsunterricht wird immer eine Auswahl sein. Was dabei zählt, ist die Qualität, die in den vorhandenen Unterrichtsstunden steckt, denn darüber werden Interesse und Bewusstsein geweckt, nicht über einfach eine Stunde mehr. Und um diese Qualität kümmern sich die Lehrkräfte Tag für Tag an den Schulen.

Wie viele das sind, schreibt die aktuelle Kontingentstundentafelverordnung übrigens nicht konkret vor. Sie schreibt lediglich Gesamtbudgets für das gesamtgesellschaftliche Aufgabenfeld fest, also für Arbeit/Wirtschaft/Technik, Geografie, Geschichte und Sozialkunde. Und mit dem Gesamtbudget liegen wir im Bundesvergleich gut. Wer mehr fordert, dem muss klar sein, dass dafür andere Fächer beschnitten werden müssten,

(Beifall Horst Förster, AfD)

und das ist in jedem Fall eine heikle Debatte.

Dass der Geschichtsunterricht in Mecklenburg-Vorpommern erst in der Orientierungsstufe beginnt, hat Gründe, die nichts mit irgendwelchen Stundenkontingenten oder der Schulorganisation zu tun haben, sondern damit, wie weit das Denken der Kinder entwickelt ist. Geschichte und Geschichtsbewusstsein lassen sich nicht beliebig früh vermitteln. Abstrakte Begriffe, wie zum Beispiel „Herrschaft“, „Gesellschaft“ oder „Schicht“, müssen erst mit einer Vorstellung hinterlegt sein.

(Präsidentin Birgit Hesse übernimmt den Vorsitz.)

Rheinland-Pfalz etwa fängt genau deshalb sogar erst in Klasse 7 mit dem Geschichtsunterricht an. Entsprechend geht auch die Gleichung, früher anfangen, dann ist nach hinten raus mehr Zeit für zusätzlichen Stoff, nicht auf. Geschichte ist nun einmal keine Meterware, die sich hin- und herschieben lässt, so die Bildungsministerin.

Wofür sie jedoch plädiert, ist, dass im Bereich der Demokratiebildung und mit sozialkundlichen Inhalten früher begonnen wird, und das fächerübergreifend und natürlich altersgerecht. Auch Ihre Idee eines obligatorischen Projekttages krankt nicht zuletzt an dieser Stelle. Gerade jüngeren Schülerinnen und Schülern bringt eine solche Eintagesveranstaltung im Zusammenhang mit einem so vielschichtigen Thema eher wenig.

Meine Damen und Herren von der Fraktion DIE LINKE, die Bildungsministerin kann Ihr Ansinnen schon auch nachvollziehen. Der 8. Mai ist ein entscheidendes Datum unserer Geschichte und eines, das unser Selbstverständnis prägt. Was aber ist mit dem Internationalen HolocaustGedenktag am 27. Januar? Was ist mit dem 17. Juni, an dem sich der Volksaufstand in der DDR jährt? Was machen wir mit dem Weltfriedenstag am 1. September und erst recht mit dem 9. November, der gleich drei historische Ereignisse der deutschen Geschichte auf sich vereint?

Die Schulen können nicht zu einem Projekttag nach dem nächsten verpflichtet werden und wollen das auch nicht. Schule braucht Gestaltungsräume und die liefert ihnen zum Beispiel die Europawoche, in die im Übrigen auch der 8. Mai fällt. Dass es keinen festen Projekttag gibt, bedeutet ja auch nicht, dass an den Schulen keine Projekte stattfinden. Und es bedeutet auch nicht, dass diese wichtigen Daten unserer Geschichte keine Rolle spielen in unseren Schulen und bei dem, was unsere Kinder dort lernen.

Schauen Sie zum Beispiel an die Europaschule Rövershagen, wo die Projektgruppe „Kriegsgräber“ seit Jahren tolle Arbeiten auf die Beine stellt. Eine davon ist das Projekt „Leben nach der Shoah“, für das die Schülerinnen und Schüler drei Jahre lang unter anderem zum Leben der Shoah-Überlebenden Miriam Bruderman und ihrer Familie recherchiert haben. Die Gruppe hat vor zwei Jahren die damalige Retterin von Frau Bruderman, Mathilde Böckelmann aus Pustow in Vorpommern, ermittelt, die daraufhin posthum als Gerechte unter den Völkern geehrt wurde. Im Anschluss recherchierte die Projektgruppe vom Neuanfang der Familie in Israel. Die Gruppe reiste dorthin und führte Interviews mit Miriam Bruderman und ihrer Familie. Im vergangenen Jahr wurde die Autobiografie von Miriam Bruderman mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung und der Stiftung für Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement Mecklenburg-Vorpommern aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt und als Buch und auf der Homepage der Schule in Rövershagen veröffentlicht. Außerdem wird ein Kurzfilm zu Miriam Bruderman und ihrem Bruder für die Homepage der Schule produziert.

In ähnlicher Weise hat sich die Projektgruppe mit dem Leben des Holocaust-Überlebenden Noah Klieger auseinandergesetzt, ihn mehrfach zu Zeitzeugengesprächen eingeladen und seine Erinnerungen als Buch publiziert. Sie sehen, es geht.