Protocol of the Session on October 29, 2020

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Landsleute und verehrte Gäste! Wir haben den provokanten Titel der heutigen Aussprache, „Mecklenburg-Vorpommern nicht zum Armenhaus von Deutschland machen“, unter dem Eindruck der Haushalts- und Finanzpolitik, ja, eigentlich auch der Anti-Corona-Politik der Landesregierung gewählt. Die gestrige Debatte zum zweiten Nachtragshaushalt und die heutige am Vormittag haben wieder einmal mehr deutlich gemacht, es gibt nur eine wirkliche Oppositionskraft in diesem Landtag, nämlich die AfD.

(Beifall Dr. Ralph Weber, AfD)

Wir möchten...

(Heiterkeit bei Wolfgang Waldmüller, CDU)

Sie sind bestimmt keine Opposition, mein Herr!

Wir möchten als solche Opposition die Gelegenheit nutzen und dem Selbstlob der Regierung aus dem September-Plenum mit Fakten und kritischen Bemerkungen entgegentreten und so die Bewertung wieder zurechtrücken. Als stärkste Kraft der parlamentarischen Opposition werden wir heute und in den nächsten Wochen die Aufgabe wahrnehmen, auf drohende Fehlentwicklungen hinzuweisen.

Beginnen wir zunächst mit der Analyse in der Historie. Die Feststellung, dass seit dem friedlichen Umsturz 1989/1990 unser Land über 300.000 Einwohner verloren hat, erfüllt uns mit großer Sorge. Als ehemals jüngstes Bundesland sind wir mittlerweile in die Gruppe der Bundesländer mit dem höchsten Altersdurchschnitt der Einwohner gewechselt. Derzeit beträgt der Anteil der 67-Jährigen und Älteren rund 22 Prozent. In den nächsten Jahren wird dieser Bevölkerungsanteil weiter steigen. Das wird Folgen haben. Es steigt nämlich auch der Bedarf an altersspezifischen Diensten: umfassende medizinische Versorgung, flächendeckende Bus- und Bahnverbindungen, wohnortnahe Einkaufsmöglichkeiten, Pflegeeinrichtungen und vieles mehr.

Der Verlust an Einwohnern, insbesondere der Jüngeren, hat Ursachen, die wesentlich in der unzureichenden wirtschaftlichen Entwicklung und in den schlechteren Verdienstmöglichkeiten zu suchen sind. Neulich sagte mir ein junger Mann ironischerweise, das Land zum Leben, wie es in Werbefilmen des Landesmarketings M-V so schön heißt, ist wohl eher ein Land zum Darben.

Schauen wir einmal zurück! Durch die Treuhand wurde in den 90ern ein Prozess der Deindustrialisierung betrieben. Das ursprünglich proklamierte Ziel „erst sanieren, dann verkaufen“ wurde nicht von der damaligen Landesregierung durchgehalten. Hinzu kamen Privatisierungsmisserfolge. Ich denke dabei zum Beispiel an die Werften mit dem Bremer Vulkan (700 Millionen Verlust durchs Land), an das Faserplattenwerk Ribnitz-Damgarten (280 Millio- nen D-Mark Subventionsverlust), und diverse weitere Betriebe.

(Minister Harry Glawe: Das ist alles aufgearbeitet.)

Die SVZ hat dieses Thema im Dezember letzten Jahres unter Schlagzeilen wie „Ausverkauf im Akkord“ und „Besetzt, geschlossen, abgewickelt“ aufgegriffen. Für viele Menschen bedeutete die Arbeitslosigkeit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und nachfolgend Arbeitslosenhilfe – ich will das gar nicht kleinreden, es war unbedingt notwendig –,

(Heiterkeit bei Wolfgang Waldmüller, CDU)

aber später nach der SPD-Sozialreform Abstieg in die Grundsicherung, das Hartz-IV-System. MecklenburgVorpommern nimmt seit Jahren in der deutschlandweiten Arbeitslosenstatistik Spitzenreiterplätze ein.

(Minister Harry Glawe: Mein Gott!)

Im März 2006 waren über 290.000 Menschen bei uns im Land im Hartz-IV-System erfasst, darunter 72.000 Kinder unter 18 Jahren.

(Wolfgang Waldmüller, CDU: Und heute?)

Heute leben immer noch 130.000 Menschen im Hartz-IVSystem, darunter 38.000 Kinder unter 18 Jahren. Diese Menschen mit ihren gebrochenen Berufsbiografien werden im Alter in die Altersarmut fallen.

Verehrte Frau Ministerpräsidentin, Sie sprachen im September von einem klaren Kurs für soziale Gerechtigkeit Ihrer Politik. Mit sozialer Gerechtigkeit hat die bisherige SPD-Politik nicht wirklich etwas zu tun, vielleicht eher mit Gleichheit in Armut. Aber auch denjenigen, die Arbeit haben, geht es zum Teil nicht unbedingt viel besser. Ich weiß nicht, ob die Regierungsvertreter den Bericht zum Stand der deutschen Einheit gelesen haben. Der bestätigt, was jeder weiß: Es gibt große Unterschiede auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Leider steht M-V auch hier ganz am Ende der Reihe. Wir halten das Schlusslicht. Die Arbeitnehmer in M-V haben den bundesweit geringsten durchschnittlichen Verdienst. Ganze 73 Prozent der Vollzeitbeschäftigten liegen mit dem Verdienst noch unter dem deutschen Durchschnittseinkommen.

Aus dieser Feststellung lässt sich folgerichtig ableiten, dass logischerweise auch die Rentner in M-V zu denen mit den geringsten Renten in Deutschland gehören, wohlgemerkt, wenn man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht, also keine falschen Vergleichsmaßstäbe heranzieht. Ende 2018 erhielten 120.483 Senioren – und Seniorinnen natürlich – in unserem Land eine Rente von weniger als 1.000 Euro ausgezahlt. Die Ministerpräsidentin sagte in ihrer Rede anlässlich der 30 Jahre Einheit, Zitat, „30.000 bis 50.000... Rentner werden in unserem Land“ durch die Einführung der Grundrente zum Januar, 1. Januar 2021, eine „Anerkennung ihrer Lebensleistung bekommen.“ Aber ob die Grundrente zur Finanzierung eines bescheidenen Ruhestandes ausreicht, das sagte sie nicht, und auch nicht, was mit den restlichen 70.000 bis 90.000 Rentnern geschieht, die mit einer Rente von weniger als 1.000 Euro pro Monat auskommen müssen.

Im „Deutschen Ärzteblatt“ vom 20.07.2020 ist ein Artikel veröffentlicht, der die Lebenserwartung der Bevölkerung bis hinunter auf die Kreisebene in Deutschland untersucht. Die Männer und Frauen unseres Landes haben danach eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung. Die Autoren ziehen den Schluss, ich zitiere, „dass Maßnahmen, die die Lebensstandards für ärmere Teile der Bevölkerung verbessern, am ehesten dazu geeignet sind, die existierenden Unterschiede in der Lebenserwartung zu reduzieren“, Zitatende. Dabei ist völlig offen, was als Lebensstandard definiert wird.

Liest man den letzten Gesundheitsbericht für MecklenburgVorpommern, dann fällt auf, dass gerade psychische Erkrankungen in den letzten Jahren deutlich und stetig zunehmen. Dies sollte ein Alarmsignal sein. Offenbar liegt in diesem Land mehr im Argen als allein die Wirtschaft und die Demografie. Solange wir dies nicht offen und ehrlich ohne Tabus analysieren und diskutieren, ohne ideologische Scheuklappen, werden wir nicht wirklich vorankommen.

Zu unseren demografischen Problemen kommt unsere schwache Wirtschaftskraft, und dies, obwohl MecklenburgVorpommern in den Jahren 2005 bis 2019 überdurchschnittlich hohe Einnahmen im Land hatte, und zwar aufgrund der Zuweisungen und Unterstützungen von Bund und Ländern. Es ist den Regierenden und den

Wirtschaftsmanagern aber nicht gelungen, die Wirtschaft in unserem Land an das Niveau der finanzschwachen Flächenländer West heranzuführen. Im Jahr 2009 hatte die Wirtschaftskraft unseres Landes das Niveau der finanzschwachen Flächenländer West im Sinne des nominalen Bruttoinlandsprodukts je Einwohner gerade einmal zu 77,7 Prozent erreicht. Das ist sogar noch im Jahr 2018 abgesackt auf 76,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das entspricht einer Wirtschaftskraft von nur 27.905 Euro je Einwohner. Das ist die geringste Wirtschaftskraft aller deutschen Länder.

Die Bürger in Mecklenburg-Vorpommern haben aufgrund der geringsten Wirtschaftskraft aller deutschen Länder folgerichtig auch die geringsten durchschnittlichen Löhne und Renten. Aber, meine Damen und Herren, dafür tragen sie seit 2019 gemeinsam mit allen Bundesbürgern die weltweit höchste Steuer- und Abgabenlast. Seit 2017 zahlen die Bürger in Mecklenburg-Vorpommern wie alle Bürger aufgrund der EEG-Umlage die weltweit höchsten Strompreise, abgesehen von den Bermudas. Als wenn das noch nicht genug wäre, wird das Klimapaket ab 2021 Brennstoffe und Benzin voraussichtlich um 7 bis 8 Cent pro Liter verteuern, ab 2025 sollen deren Preise sogar um 15 bis 18 Cent pro Liter steigen.

Meine Damen und Herren, Mecklenburg-Vorpommern ist ein Flächenland. Bezahlbare individuelle Mobilität ist ein besonders wichtiges Gut für die Bürger. Denken wir nur an die vielen Berufspendler!

(Beifall Jörg Kröger, AfD)

Aber es geht noch weiter. Die Krankenkassen haben bereits angekündigt, dass die Mehrkosten aufgrund der Corona-Krise unter den heutigen Bedingungen nicht aus Steuern finanziert werden können, sondern dass die Krankenkassenbeiträge der Versicherten wohl werden steigen müssen. Das Gleiche wurde bereits für die Pflegeversicherungskosten in Aussicht gestellt. Ich befürchte, dass manche EU-, Bundes- und Landespolitiker sich in ihrer Kreativität noch viel mehr Kostensteigerungen ausmalen können, um ihre ideologischen Lieblingsprojekte wie Klimarettung, Massenmigration und Gendergerechtigkeit umsetzen zu können.

(Beifall vonseiten der Fraktion der AfD)

Aber kommen wir zurück zur konkreten Finanzpolitik im Land. Im September letzten Jahres habe ich den Entwurf des Doppelhaushaltes 2020/2021 als unsolide kritisiert. Die Regierung hat die allgemeine Ausgleichsrücklage und Sicherheitsabschläge im Haushalt verbraucht. Sie hat dauerhaft anfallende konsumtive Kosten generiert, ohne dass deren nachhaltige Finanzierung abgesichert war. Ich sprach damals salopp davon, dass die Landesregierung „einen tüchtigen Schluck aus der Pulle“ der Finanzreserven genommen hat.

Mit dem Zweiten Nachtragshaushalt 2020 hat die Regierung nun begonnen, ein wenig zurückzurudern. Sie bietet „Haushaltsverbesserungen“ – übrigens eine nette Bezeichnung für Haushaltskürzungen – an. Diese Korrekturen belaufen sich für 2020 auf 235 Millionen Euro. Angesichts der drohenden Steuerausfälle und Ausgabensteigerungen aufgrund der Anti-Corona-Maßnahmen reicht diese Größenordnung aus unserer Sicht bei Weitem nicht aus. Doch soll die Regierung nicht an Hilfen für Betroffene sparen, sondern bei sich selbst, in der überbordenden

Verwaltung und bei den ideologischen Lieblingsprojekten ohne Nachhaltigkeit.

Die Regierung will mit den beiden Nachtragshaushalten 2020 den Berg aus Schulden, Bürgschaften und nicht gedeckten Versorgungslasten auf 24 Milliarden Euro anwachsen lassen. „Frisst Corona beitragsfreie Kita, Kultur und Soziales?“, titelte die „Ostsee-Zeitung“ am 24. Oktober. Und genau dies wird in den nächsten Jahren drohen. In den nächsten 25 Jahren müssen bereits jetzt 8,3 Milliarden Euro nicht gedeckter Versorgungslasten und 700 Millionen Euro aus dem ersten Nachtrag getilgt werden. Der zweite Nachtrag wird diese Lasten noch einmal überdeutlich erhöhen. Und das, was Sie heute hier beschlossen haben, wird es noch einmal erhöhen. Risiken aus den Bürgschaften des Landes sind dabei noch gar nicht mal berücksichtigt.

Ich frage die Landesregierung: Wo bleibt die Generationengerechtigkeit? In 25 Jahren werden in MecklenburgVorpommern laut Bevölkerungsprognose rund 100.000 Menschen weniger leben als heute.

(Minister Harry Glawe: Wo bleiben Ihre Vorschläge?)

Mit welcher Berechtigung belastet die Landesregierung die kommenden Generationen in unserem Land derart verantwortungslos mit Schulden?

(Beifall vonseiten der Fraktion der AfD)

Die Fraktion der AfD hat bereits mehrfach die Regierung aufgefordert, eine jährliche Fortschreibung der Mittelfristigen Finanzplanung vorzulegen. Auch mit dem zweiten Nachtragshaushalt ist dies wieder nicht erfolgt. Die derzeitige Regierung will offensichtlich keine Auskunft darüber geben, wie künftige Parlamente die sogenannten Handlungsbedarfe, voraussichtlich in Milliardenhöhe, ab 2022 einsparen sollen. Ebenso wenig kann ich ein Konzept der derzeitigen Regierung erkennen, wie die Steuermindereinnahmen 2022 bis 2025 ausgeglichen werden können.

Ich sehe, ich habe hier die rote Lampe, deshalb danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. Das wars!

(Beifall vonseiten der Fraktion der AfD und Holger Arppe, fraktionslos)

Für die Landesregierung hat ums Wort gebeten der Finanzminister. Bitte schön, Herr Meyer!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die rote Lampe eben war, glaube ich, gar nicht schlecht,

(Heiterkeit vonseiten der Fraktion der CDU)

weil, Herr Dr. Jess, das war schwer zu ertragen.

(Zuruf von Jörg Kröger, AfD)

Wenn es für den Haushalt nicht so schwierig wäre, dann müsste man Sie glatt zum Depressionsbeauftragten der Landesregierung ernennen.

(Heiterkeit vonseiten der Fraktionen der CDU und DIE LINKE)

Aber da möchte ich dann doch von abraten.

Also, was wir gerade gehört haben, war zum einen sehr interessant, was die Taktik der AfD angeht – will ich gleich noch was zu sagen –, und zum anderen, ein Sammelsurium von Dingen, die nicht neu sind, kamen zum Schluss auch Anmerkungen zur Haushaltspolitik, die nicht neu sind, aber wo alle Landesregierungen seit 30 Jahren sehr hart an den Themen arbeiten.

Dass wir einen demografischen Wandel haben, dass wir Überalterung haben, dass wir Einwohnerverluste haben – der übrigens sehr stark abgenommen hat, sondern wir kommen wieder in die Balance –, das ist ja keine Neuheit.

(Wolfgang Waldmüller, CDU: Ja.)

Und wenn es darum gehen sollte, was machen wir, das einfach als Fakt so in den Raum zu schmeißen, ohne zu sagen, was tun, dann hilft das auch noch nicht bei der Oppositionsarbeit. Ich könnte ja jetzt sagen, der Männerriege der AfD, anregen, wir bräuchten mehr Nachwuchs, aber untereinander wird das nicht funktionieren, also müssen wir das auch auf einem anderen Wege tun.