Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie zur 91. Sitzung des Landtages. Ich stelle fest, dass der Landtag ordnungsgemäß einberufen wurde und beschlussfähig ist. Die Sitzung ist eröffnet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, uns wurde die traurige Nachricht übermittelt, dass die ehemaligen Mitglieder des Landtages Mecklenburg-Vorpommern Joachim Willhöft und Frank Ronald Lohse verstorben sind. Joachim Willhöft gehörte dem Landtag in der 1. Wahlperiode an und war Mitglied der SPD-Land- tagsfraktion. Frank Ronald Lohse war von 2002 bis 2006 Mitglied des Landtages Mecklenburg-Vorpommern und kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Im Namen des Landtages spreche ich den Angehörigen mein tief empfundenes Beileid aus. Ich darf Sie nun bitten, sich zu Ehren der Verstorbenen kurz von den Plätzen zu erheben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die vorläufige Tagesordnung der 91., 92. und 93. Sitzung liegt Ihnen vor. Im Ältestenrat ist vereinbart worden, zu Tagesordnungspunkt 4 keine Aussprache vorzusehen. Des Weiteren ist im Ältestenrat vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 19 nach dem Tagesordnungspunkt 11 und den Tagesordnungspunkt 12 nach dem Tagesordnungspunkt 18 aufzurufen. Wird der vorläufigen so geänderten Tagesordnung widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Damit gilt die Tagesordnung der 91., 92. und 93. Sitzung gemäß Paragraf 73 Absatz 3 unserer Geschäftsordnung als festgestellt.
Gemäß Paragraf 4 Absatz 3 unserer Geschäftsordnung benenne ich für die 91., 92. und 93. Sitzung die Abgeordnete Frau Dr. Karlowski, den Abgeordneten JohannGeorg Jaeger und den Abgeordneten Dr. Hikmat AlSabty zu Schriftführern.
Die Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN haben die Aufsetzung der Aussprache zum Thema „Humanitäres Leid darf nicht Normalität sein – für ein entschlossenes europäisches Handeln in der Flüchtlingspolitik“ beantragt. Wir werden die Abstimmung über diese Aufsetzung der Aussprache, um die die Tagesordnung erweitert werden soll, nach angemessener Zeit für eine Verständigung innerhalb und zwischen den Fraktionen nach dem Tagesordnungspunkt 2 aufrufen. Ich werde das Wort zur Begründung der Dringlichkeit erteilen sowie die Abstimmung über die Aufsetzung der Aussprache gemäß Paragraf 43 Ziffer 2 der Geschäftsordnung des Landtages durchführen. Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde. Die Fraktion der SPD hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zum Thema „100 Tage gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland“ beantragt.
Ja, sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Landtagsabgeordnete! Nachdem es in fast all unseren Nachbarstaaten schon vor teilweise vielen Jahrzehnten gelungen ist, einen Mindestlohn einzuführen, ist es in Deutschland nun endlich Ende 2013 durch eine Vereinbarung in der Koalition dazu gekommen, dass wir seit 01.01. dieses Jahres einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro eingeführt haben. Diese Vereinbarung war eine grundlegende Voraussetzung seitens der SPD für die Bildung einer Großen Koalition. Das möchte ich hier noch einmal ganz deutlich hervorheben.
Am 10. April waren es genau 100 Tage, dass rund 3,7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland von einer verbindlichen Lohnuntergrenze profitieren. In Mecklenburg-Vorpommern sind ungefähr ein Fünftel aller Vollzeitbeschäftigten positiv betroffen. Die meisten Befürchtungen, die vorher gestreut wurden, haben sich indes nicht bewahrheitet: Hunderttausende Jobs gingen nicht verloren. Es mussten nicht viele kleine Betriebe dichtmachen. Es gab keine massiven Preis- erhöhungen auf breiter Front.
Passiert ist bis jetzt kaum etwas. Ja, im Taxi, beim Bäcker, in Hotels oder Gaststätten müssen Verbraucher zum Teil mehr bezahlen. Aber wenn Jörg Müller, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Friseurhandwerks, in einem „Focus-online“-Interview sagt, dass ein durchschnittlicher Herrenhaarschnitt jetzt etwa 50 Cent teuer ist, kann ich darin wirklich keine Dramatik erkennen.
Sehr geehrte Damen und Herren, zur Wahrheit gehört natürlich, dass es mehr Ausnahmen gibt, als wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollten. Die Union scheint vor allem über die Pflicht, die Arbeitszeit aufschreiben zu müssen, unzufrieden zu sein. Hier wird immer so ein Bürokratiemonster beschworen.
Also ich halte das für ziemlich unrealistisch. In zahlreichen Berufen ist die Dokumentation von Arbeitszeiten seit vielen Jahrzehnten gang und gäbe und die haben das alle gut verkraftet. Ich sehe nicht, dass das ein wirkliches Problem sein sollte.
(Heiterkeit bei Vincent Kokert, CDU: Da waren ja wohl die Berufsdemonstranten unten und haben demonstriert?!)
und zudem für Wirtschaftsbereiche, die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz benannt sind, weil bei ihnen eine ganz besondere Missbrauchsgefahr besteht. Auch aus diesem Grund ist für mich die Aufzeichnungspflicht
einfach unverzichtbar, denn leider wird sich wohl nichts daran ändern, dass einige Arbeitgeber versuchen, Regeln zu umgehen. Das kennen wir ja schon aus anderen Zusammenhängen, wenn tarifliche Verabredungen umgangen werden sollen oder bereits vereinbarte Mindestlöhne, wie es in der Vergangenheit auch schon war, nicht gezahlt werden sollten. Da werden Überstunden nicht bezahlt, die werden gar nicht vereinbart, aber müssen trotzdem geleistet werden. Da werden Verpflegungskosten vom Lohn abgezogen, auch wenn die Verpflegung aus einer Tüte Popcorn besteht. Also der Erfindungsreichtum kennt da keine wirklichen Grenzen.
Aber trotz alledem sage ich noch mal ganz klar und deutlich: Das sind die Ausnahmen. Die meisten Unternehmen machen ihre Arbeit auch in diesem Bereich ordentlich. Es ist auch kein Phänomen, das erst seit Einführung des flächendeckenden Mindestlohns auftritt, dass es natürlich, wie überall, auch Missbrauch und Schieflagen gibt.
Als ich am letzten Samstag mit einer Spargelverkäuferin ins Gespräch kam, sagte die ganz von sich, wie gut sie es getroffen hätte. Sie hätte diesen Job gekriegt für 8,50 Euro Mindestlohn. Sie hielt das für eine ausgesprochen passende Bezahlung und sie erwähnte ein tolles Betriebsklima. Anders sei es in ihrer eigenen Branche. Sie hat Floristin gelernt, hatte ein paar Bewerbungsgespräche in den letzten Monaten und hat einen deutlich geringeren Stundenlohn in Aussicht gestellt bekommen. Sie hat dann gesagt, nein, Lehrberuf und Bezahlung unter Mindestlohn, das nimmt sie nicht an, aber sie hat sich bei ihrem Jobcenter darüber beschwert.
Das Beispiel zeigt einmal mehr, dass es sinnvoll und erforderlich ist, verstärkt Kontrollen durchzuführen. Zuständig ist der Zoll. Bei Verstößen kann dies mit bis zu 500.000 Euro geahndet werden. Die Stellen dafür werden aufgestockt, von 1.600 ist die Rede. In MecklenburgVorpommern sollen ungefähr 150 Zollbeamte die Einhaltung des Mindestlohnes kontrollieren. Medienberichten zufolge scheint hier die Tatsache, dass Zollbeamte bewaffnet und in Uniform ihre Pflicht tun, den größten Anstoß auszulösen.
Seit seiner Einführung hat die Bundesregierung mit einigen Klarstellungen für Rechtssicherheit im Umgang mit dem Mindestlohn sorgen müssen. Über die Nichtanwendung bei ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeiten haben wir hier bereits diskutiert. Auf die Übergangsregelungen wie etwa für Branchen mit Tarifverträgen mit deutlich unter 8,50 Euro bis zum 31. Dezember 2016 oder auf die Verschiebung der Einführung für Zeitungsausträger werde ich hier nicht näher eingehen, dafür ist mir die Zeit zu knapp.
In Bezug auf das sechsmonatige Aussetzen des Mindestlohns für Langzeitarbeitslose möchte ich jedoch anmerken, dass Mitte 2016 geprüft wird, ob diese Regelung tatsächlich dazu beiträgt, Arbeitslosen den Weg in den ersten Arbeitsmarkt zu ebnen. Das war ja der Vorwand, unter dem das eingeführt wurde. Eine erste DGB-NordKurzstudie, auf die ich noch zurückkommen werde, konnte dafür allerdings keinen Beleg finden.
Die Überprüfung der Höhe des Mindestlohns obliegt nun einer Kommission. Sie besteht aus einem oder einer Vorsitzenden und sechs Stimmberechtigten sowie zwei beratenden Personen aus der Wissenschaft. Diese Mindestlohnkommission untersucht nach bestimmten Para
metern fortlaufend die Auswirkungen des Mindestlohns. Zum 30. Juni 2016 wird die derzeitige Höhe des geltenden Mindestlohns erstmals überprüft, dann wird die Kommission darüber beraten, wie hoch dieser ab dem 1. Januar 2017 sein wird. Alle zwei Jahre soll der Mindestlohn angepasst werden.
Das Bundesarbeitsministerium führt zurzeit mit Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften einen sogenannten Branchendialog zum Mindestlohngesetz. In einer Bestandsaufnahme sollen die Beteiligten die positiven und negativen Auswirkungen praktisch aufzeigen, um dann zu gucken, ob in Bezug auf die derzeit geltenden Regelungen noch Änderungsbedarfe vorhanden sind, und diese eventuell einzuleiten. Wenn ich richtig informiert bin, tagt morgen eine Koalitionsrunde, die genau darüber beraten will.
Vor der Einführung des Mindestlohns, also im Mai 2014, stellte eine repräsentative Umfrage von Infratest dimap im Auftrag des DGB fest, dass mit 86 Prozent eine sehr große Mehrheit der Deutschen die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns für richtig hält. Die höchste Zustimmungsrate mit weit über 90 Prozent lag übrigens bei den Anhängern der SPD.
(Heiterkeit bei Vincent Kokert, CDU: Wenn die mal alle zur Bundestagswahl gegangen wären, die ganzen SPD-Anhänger! – Zurufe von Dr. Norbert Nieszery, SPD, und Torsten Renz, CDU – Heiterkeit vonseiten der Fraktionen der SPD und CDU)
Sehr geehrte Damen und Herren, eine Studie, die seit März vorliegt, ebenfalls von Infratest dimap im Auftrag des DGB, belegt ganz klar, dass die Zustimmung auch nach der Einführung keineswegs gesunken ist. Die 86 Prozent, die vorher dafür waren, sind nach wie vor dafür und 94 dieser 86 Prozent sagen ganz klar, auch wenn dadurch erhöhte Warenkosten auf sie zukommen, weichen sie nicht von ihrer Meinung ab. 77 Prozent der Befragten sehen einen Vorteil des gesetzlichen Mindestlohns darin, dass viele Beschäftigte ihr Einkommen jetzt nicht mehr mit Hartz IV aufstocken müssen.
Aber, sehr geehrte Damen und Herren, wir sind natürlich nicht so blauäugig zu glauben, dass ein Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro oder die weiteren Anpassungen wirklich vor Armut schützen. Wir gehen vielmehr davon aus, dass er eine Aufwärtsspirale bei der Lohnentwicklung in Deutschland in Gang setzt, denn je hochwertiger die Arbeitsqualität ist, umso besser muss sie natürlich auch bezahlt werden.
Seit dem 9. April dieses Jahres liegt eine Kurzstudie „Auswirkungen des Mindestlohns auf den Arbeitsmarkt in Mecklenburg-Vorpommern“ des DGB Nord vor. Man kann sie zwar erst als erste Einschätzung werten – der Zeitraum ist einfach nicht lang genug –, aber aus ihr geht ganz klar hervor, dass in Mecklenburg-Vorpommern bis jetzt keinerlei negativen Prognosen eingetreten sind. Im Gegenteil: Die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen war in den letzten drei Monaten rückläufig.
Besonders stark sank die Zahl der Arbeitslosen sogar in Branchen, auf die sich der Mindestlohn besonders negativ auswirken sollte, wie kaufmännische Dienstleistungen, Handel, Vertrieb und Tourismus. Die Entwicklung des Stellenangebotes verläuft positiv, die Auswirkungen insgesamt und auf die Beschäftigen sind positiv, die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver
hältnisse ist gestiegen. Auch das trifft in MecklenburgVorpommern auf die beiden besonders betroffenen Bereiche Handel und Gastgewerbe überdurchschnittlich zu. Das Gastgewerbe liegt sogar an der Spitze des Beschäftigungszuwachses im Branchenvergleich. Das korreliert natürlich mit der sinkenden Zahl der Arbeitslosen in diesem Bereich. Bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten ist die Tendenz rückläufig. Hier können besonders Frauen profitieren, weil sie häufig geringfügig beschäftigt sind.
Insgesamt wird die vorsichtige Vermutung nahegelegt, dass geringfügige Beschäftigungsverhältnisse in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt
Weder zeichnet sich ein Ausweichen in die sogenannte Schwarzarbeit ab, noch werden gering qualifizierte Beschäftigte vom Arbeitsmarkt verdrängt. Auf MecklenburgVorpommern bezogen kommen die Verfasser der Studie wie die Bundesarbeitsministerin zu drei Schlüssen. Bevor ich die unterstreiche, möchte ich noch darauf hinweisen, dass heute in der SVZ eine große Pressemitteilung „Mindestlohn zahlt sich kaum aus“ war,
die sich allerdings ausschließlich auf das Vergabegesetz bezieht, das wir vor drei Jahren eingeführt haben.
Darauf wird mein Kollege Schulte nachher genauer eingehen. Aber wenn hier gesagt wird, dass Löhne mitunter um bis zu 17 Prozent gestiegen sind, sehe ich die negative Auswirkung überhaupt gar nicht oder dass es kaum gezogen hat.
(Beifall vonseiten der Fraktion der SPD – Dr. Norbert Nieszery, SPD: Ein großer Erfolg ist der Mindestlohn. – Vincent Kokert, CDU: Das ist der Erfolg der Wirtschaftspolitik der Union.)
Auch diese Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die befürchteten negativen Auswirkungen nicht eingetreten sind.