Protocol of the Session on October 26, 2012

(Vincent Kokert, CDU: Ja, das weiß ich, dass Sie das waren. – Zuruf von Michael Andrejewski, NPD)

Die Grundaussagen meiner damaligen Rede wurden von keiner demokratischen Fraktion beanstandet.

(Zuruf aus dem Plenum: Mein Gott, sind Sie eine Heulsuse!)

Insofern gibt es überhaupt keinen Grund dafür, dass es keinen gemeinsamen Antrag gibt.

(Michael Andrejewski, NPD: Fühlen Sie sich irgendwie ausgestoßen?)

Die Grundaussagen gelten bis heute, daran hat sich nichts geändert. Ich appelliere daher an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU-Fraktion, überwinden Sie ihre Abwehrhaltung! Eine Blockadehaltung hier im Parlament wird dem Gedenken an den 17. Juni 1953 nicht gerecht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe …

(Vincent Kokert, CDU: Sind denn die Menschen für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen oder für soziale Gerechtigkeit, Herr Ritter?)

Darauf komme ich noch, Herr Kokert.

Ich habe bereits auf meine Rede aus dem Jahr 2008 verwiesen. Ich will die wesentlichsten Aussagen heute wiederholen.

Damals und heute gilt für DIE LINKE folgende historische und politische Einschätzung über die Ursachen und Hintergründe des Volksaufstandes vom Juni 1953, ich zitiere aus dem Landtagsprotokoll vom 3. Juli 2008: „Im Juli 1952 … fand die 2. Parteikonferenz der SED statt. Verkündet wurde der planmäßige Aufbau des Sozialismus, was im Kern aber nichts anderes bedeutete als eine Stärkung der Staatsmacht nach sowjetischem Vorbild. … Dieser Beschluss wurde vor dem Hintergrund einer schwierigen ökonomischen Situation im Land gefasst. … Als Ergebnis des Kalten Krieges und der damit verbundenen Militarisierung … wuchsen die direkten und indirekten Militärausgaben stetig an und umfassten 1952 schon 11 Prozent des gesamten

Staatshaushaltes. Zusammen mit den Reparations- leistungen an die Sowjetunion banden diese Ausgaben 20 Prozent des Haushaltes der DDR. Die Wirtschaftspolitik der DDR orientierte sich deshalb auf die Schwerindustrie zulasten der Lebensmittel- und Konsumgüterwirtschaft. Das Wohlstandsgefälle zum Westen, wo dem wirtschaftlichen Wiederaufbau in großem Maße der Marshall-Plan zugutekam, vergrößerte sich. Menschen verließen den Osten Richtung Westen,“

(Zuruf von Udo Pastörs, NPD)

„vor allem aufgrund dieser ökonomischen und der sich daraus ergebenden sozialen Probleme. … Als Instrument zum Gegensteuern wurde von der SED-Führung am 13. und 14. Mai 1953 eine Erhöhung der Normen unter dem Motto ‚Mehr Arbeit für gleichen Lohn‘ beschlossen. Dies wurde vom Ministerrat am 28. Mai 1953 bestätigt. Unmut machte sich unter der Bevölkerung breit. Die sowjetische Führung griff hier wieder ein, … bestellte am 2. Juni 1953 eine SED-Delegation nach Moskau … und präsentierte dort Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR. … Dieser Kurswechsel kam jedoch zu spät, der Protest entlud sich auf den Straßen und Plätzen im Osten. Die Proteste wurden niedergeschlagen. … Die sowjetischen Behörden reagierten mit der Verhängung des Ausnahmezustandes, der erst am 11. Juli 1953 wieder aufgehoben wurde. … Mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes übernahm die Sowjetunion offiziell wieder die Regierungsgewalt in der DDR. … Die westlichen Besatzungsmächte reagierten sehr unterschiedlich. Churchill erklärte zum Beispiel, dass die Sowjetunion im Recht gewesen sei, als sie den Aufstand niederschlug.“ Zitatende.

(Zuruf von Udo Pastörs, NPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die aus den Ergebnissen zu ziehenden Schlussfolgerungen für die Politik von heute und morgen habe ich damals im Namen aller Demokraten wie folgt klar skizziert. Im Landtagsprotokoll kann man dazu lesen, ich zitiere: „… ich habe mit dieser kurzen Beschreibung der damaligen Situation deutlich gemacht, dass die Bewertung historischer Ereignisse keine einfache Schwarz-Weiß-Malerei, … sondern von vielen Faktoren abhängig ist. … Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, … das betrifft auch die Frage der Opfer des 17. Juni 1953.“ In einer Projektarbeit der Bundeszentrale für politische Bildung, nachzulesen auf der Internetseite der Bundeszentrale, heißt es, ich zitiere: „Mit den Toten und der Höhe ihrer Zahl wurde in der Vergangenheit Politik gemacht. Die von offizieller DDR-Seite unmittelbar nach dem 17. Juni 1953 veröffentlichten Angaben zu den Todesopfern des 17. Juni 1953 erwiesen sich von Beginn an als zu niedrig, die im Westen spätestens seit Beginn der 90er Jahre als viel zu hoch. … Nach unseren Rechercheergebnissen“, so die Bundeszentrale, „sind 55 Todesopfer durch Quellen belegt“. Zitatende.

(Michael Andrejewski, NPD: Soll das Revisionismus sein?)

Meine Damen und Herren, ich füge heute hinzu, dass es nach Angaben des lesenswerten Begleitheftes der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR

(Zuruf von Udo Pastörs, NPD)

zur Ausstellung „Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern“ 116 Todesopfer aufseiten der Sicherheitskräfte und Funktionäre gegeben hat.

(Michael Andrejewski, NPD: Verdientermaßen, würde ich sagen.)

Auch das gehört zur traurigen Wahrheit.

Ich erwähne diese Publikation deshalb, weil sie einen guten Einblick in die Zeit von damals gewährt. Vor allem die antragstellenden Fraktionen sollten sich vertieft mit dieser Lektüre auseinandersetzen, denn in der Begründung des aus der Feder der CDU stammenden Antrages scheinen die Ursachen des Volksaufstandes nicht ganz konkret erfasst zu werden, auch wenn es in der Rede von Herrn Kokert jetzt schon etwas anders klang.

Forderungen nach Freiheit und Demokratie sollen nach Sichtweise des Antrages in seiner Begründung die Ursachen für die Ereignisse am 17. Juni 1953 gewesen sein. Im Begleitheft wird auf Seite 6 vollkommen zu Recht festgestellt, ich zitiere: „Die Erhöhung der Normen für die Bau- und Industriearbeiter war der Auslöser des Aufstandes“, Zitatende.

(Vincent Kokert, CDU: Unter anderem, Herr Ritter, nicht nur.)

Ich zitierte aus diesem Heft, Herr Kokert. Nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis!

(Wolf-Dieter Ringguth, CDU: Aber auch, weil den Menschen das System bis obenhin über war. – Zurufe von Vincent Kokert, CDU, und Marc Reinhardt, CDU)

Oder nehmen wir die Seite 20 dieses Begleitheftes zu einer Ausstellung, die ich sehr interessant finde. Dort geht es um die Vorkommnisse auf den Werften in Stralsund und Rostock. Ich zitiere: „Die Unzufriedenheit der Arbeiter hatte ihre Wurzeln in der Verteuerung der Lebensmittel und der Fahrpreise, in den gestrichenen Zuschüssen, der extremen Wohnungsnot und den äußert schweren und unbefriedigenden Arbeitsbedingungen. Der Tropfen aber, der das Fass zum Überlaufen brachte, war die Erhöhung der Arbeitsnormen um durchschnittlich 10 Prozent, die im Mai 1953 zur Steigerung der Produktionsergebnisse beschlossen und in den Kommuniqués der Regierung vom 9. und 11. Juni zum Neuen Kurs zunächst nicht zurück genommen worden sind“, Zitat- ende.

(Zuruf von Udo Pastörs, NPD)

In der Begründung des Koalitionsantrages findet sich zu diesen Ursachen leider kein Wort, aber diese Ursachen gehören eben auch mit dazu.

(Zuruf von Vincent Kokert, CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele andere Beschreibungen der damaligen Geschehnisse in diesem Heft, etwa auch in der Landwirtschaft, regen zum Nachdenken an. Zahlreiche Einzelschicksale werden beschrieben. Die hohe Zahl an Verhafteten und Verurteilten lässt sich heute gar nicht mehr genau belegen.

(Vincent Kokert, CDU: Das stimmt.)

Auch die auf Seite 58 aufgeführte Propaganda der SEDFührung, die von einem „Putsch faschistischer Agenten und Provokateure“ sprach, können wir heute nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen.

Etwas schmunzeln musste ich allerdings auf Seite 16. Gestatten Sie mir, dass ich auch das vortrage, weil der Kollege Kokert auf Grabow eingegangen ist. Zu den Vorkommnissen am 16. Juni 1953 auf dem Marktplatz in Grabow heißt es in einem Bericht der SED-Kreisleitung, nachzulesen in dieser Broschüre, wie folgt, ich zitiere: „Der Bürgermeister der Stadt Grabow, Herr Flint (CDU), wandte sich aufgeregt an den Genossen Bierholz mit der Bitte, ihm doch zu helfen, die Einwohner nach Hause zu schicken. Er selbst habe das bereits versucht, man habe ihn ausgepfiffen und nicht zu Worte kommen lassen.“ Zitatende.

(Udo Pastörs, NPD: Recht so.)

Diese Aussage will ich einmal unkommentiert stehen lassen.

(Vincent Kokert, CDU: Ja, wir haben uns zu unserer Verantwortung bekannt, Herr Ritter. Sie auch?)

In der Broschüre kann man das auf Seite 58 nachlesen. Dort findet sich auch folgende interessante Feststellung, ich zitiere: „Die politische und militärische Verantwortung für ganz Deutschlang lag ausschließlich bei den Besatzungsmächten. Weder die Bundesregierung und erst recht nicht die Westalliierten USA, Großbritannien und Frankreich hatten Interesse an einer Unterstützung des Aufstands, der die Verantwortung der vier Besatzungsmächte für Deutschland gefährdet und möglicherweise einen bewaffneten Konflikt mit der Sowjetunion zur Folge gehabt hätte“, Zitatende. Auch diese Tatsache gehört in den historischen Kontext.

(Zuruf von Marc Reinhardt, CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will an dieser Stelle, wie auch bereits im Juli 2008, eines erneut klarstellen: Jedes Todesopfer ist eines zu viel! Alle Opfer des 17. Juni mahnen uns, Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung für immer und überall auszuschließen. Auf Bajonettspitzen lassen sich auf Dauer Frieden und Demokratie nicht durchsetzen. Die Opfer des 17. Juni verdeutlichen aber auch, dass persönliche Freiheitsrechte und soziale Grundrechte einander bedingen und nicht gegeneinander aufgewogen werden dürfen. Das ist die wichtigste Schlussfolgerung für die Mitglieder meiner Partei.

(Vincent Kokert, CDU: Da sind wir sogar wieder zusammen, Herr Ritter.)

Für die Mitglieder meiner Partei gehört deshalb – auch in Auseinandersetzung mit den Ergebnissen des 17. Ju- ni 1953 – der radikale und endgültige Bruch mit dem Stalinismus zum Gründungskonsens unserer Partei.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will abschließend meine Erwartungshaltung an den Umgang mit dem anstehenden 60. Jahrestag hier in Mecklenburg-Vorpom- mern ausdrücken. Ich hoffe, dass wir uns den Ursachen und Auswirkungen der Ereignisse im Juni 1953 im historischen Zusammenhang nähern.

(Zuruf von Stefan Köster, NPD)

Ich hoffe, dass wir an die Stelle einer Instrumentalisierung von damals heute keine andere setzen. Meine Fraktion stimmt daher dem Antrag zu. – Herzlichen Dank.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Das Wort hat jetzt für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Herr Donig.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 17. Juni 1953 haben die Arbeiter in der ganzen DDR ihre Stimme für Demokratie und Freiheit erhoben, nicht nur in der Stalin- allee in Berlin, sondern auch in den Leuna-Werken, dem Uranbergbau und den ehemaligen Krupp-Gruson

Werken in Magdeburg und an vielen Orten der DDR. Die SED hat mithilfe der Sowjetunion die Forderungen der Arbeiter nach Demokratie und Freiheit mit Gewalt niedergeschlagen.

An diese Ereignisse wollen wir anlässlich des 60. Jahrestages des 17. Juni mit einer Veranstaltung durch den Landtag erinnern. Dieser Antrag ist auch deshalb bitter notwendig, denn der 17. Juni 1953 verliert zusehends an Bekanntheit. Er verliert an Bekanntheit, obwohl er Gegenstand des Unterrichts ist und die Landeszentrale und die Bundeszentrale für politische Bildung alljährlich Veranstaltungen zur Thematik des Volksaufstandes ausrichten. Er verliert seine Bekanntheit nicht nur, weil er seit 1991 kein Feiertag mehr ist, denn dieser Trend begann schon vor 1990.