Mein schriftlicher Bericht zur Beschlussempfehlung macht die unterschiedlichen Positionen der Fraktionen im Sozialausschuss hinsichtlich der Gründe für ihr Votum deutlich. Ich nehme an dieser Stelle Abstand davon, die einzelnen Positionen noch einmal mündlich vorzutragen und näher zu erläutern. Das werden gleich die Fraktionen im Rahmen der Aussprache tun.
Ich bedanke mich bei allen Beteiligten, dass wir diesen ambitionierten Zeitplan einhalten konnten, weil auch wir unter erheblichem Zeitdruck aus Gründen der gesetzlichen Bestimmungen zum Ablauf einer Beratung über die Volksinitiative standen. Abschließend bitte ich Sie, der Beschlussempfehlung des Sozialausschusses zu folgen und den Antrag der Volksinitiative gemäß Artikel 59 der Verfassung abzulehnen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 90 Minuten vorzusehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Die Einführung eines bundesweit einheitlichen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes ist ein Gebot der Stunde. Tarifflucht und die originäre Ausweitung des Niedriglohnes in Verbindung mit der Agenda 2010 und der damit verbundenen Einführung von Hartz IV haben bundesweit und auch in Mecklenburg-Vorpommern zu vierfach anzutreffender Armut trotz Arbeit geführt. Der Druck auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, jede Arbeit anzunehmen, wurde dabei bis ins Unerträgliche forciert.
Gleichzeitig haben alle Bundesregierungen seit 1964 nichts unternommen, um die Sozialcharta der EU und ab 1989 die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der EU in der Bundesrepublik Deutschland umzusetzen. In diesen Dokumenten verpflichten sich die Staaten, Arbeitsentgelte zu garantieren, die einen angemessenen Lebensstandard oberhalb der nationalen Armutsgrenze sichern. Es gibt also seit Langem auf EU-Ebene eine vereinbarte Mindestlohnklausel und die Volksinitiative für einen Mindestlohn von 10 Euro in Bund und Land ist ein erneuter Anlauf zur Umsetzung dieses Ziels in der Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, wir alle fordern doch immer, dass die Bürgerinnen und Bürger sich einmischen sollen, und in diesem Fall haben das deutlich mehr als 15.000 Bürgerinnen und Bürger unseres Landes getan. Umso bedauerlicher ist die zweifelhafte Rechtsauffassung, die der Kollege Renz bei der Einbringung der Volksinitiative hier vorgetragen hat, als er selbige als reine Parteiveranstaltung
Sehr geehrter Herr CDU-Abgeordneter, selbst wenn alle drei Initiatoren und auch alle Unterstützerinnen und Unterstützer Mitglieder der Partei DIE LINKE wären,
(Torsten Renz, CDU: Nein, man kann sich aber schön in die Irre führen durch Vorlage von Zettelchen. – Helmut Holter, DIE LINKE: Na, na, na, na!)
hätten diese das verfassungsmäßige Recht, eine Volksinitiative ins Leben zu rufen. Man darf Bürger und Mitglied einer Partei gleichzeitig sein. In Ihrer weisen Großzügigkeit haben Sie ja den Initiatoren wenigstens zugestanden, dass Sie, Herr Renz, nichts dagegen haben, dass diese für die Partei oder die Landtagsfraktion arbeiten. Da haben die Initiatoren wohl gerade noch mal Schwein gehabt.
Herr Renz, was Sie hier im August von sich gegeben haben, das war schlicht und einfach gesagt daneben, und ich finde, dafür sollten Sie sich entschuldigen.
Es kann aber auch sein, dass Sie nach Ihrer Recherche ein tiefsitzender Ärger darüber verleitet hat, so zu reden, wie Sie es taten, weil seit 1990 von links nach Ihrer Recherche ja bereits vier Volksinitiativen eingebracht wurden und von der CDU nach eigener Recherche keine einzige.
Nun gut, welche sollten das auch sein? „Rente frühestens ab 70 Jahre und nur auf Sozialhilfeniveau“ oder vielleicht „keine Hüft-OP für über 75-Jährige“? Ich weiß nicht, ob das Forderungen sind, die mit dem Grundgesetz in Einklang stehen, sinnvoll sind und die Menschen begeistern.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nicht nur die Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn beschäftigt die Menschen, nein, 86 Prozent der Bevölkerung halten ihn für sinnvoll und für notwendig. Wahrscheinlich liegt das daran, dass viel zu viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mittlerweile zu Löhnen arbeiten müssen, die weder ihr eigenes Auskommen noch das ihrer Familie sichern. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft und die Gerechtigkeitslücke dadurch immer größer wird. Vielleicht liegt es daran, dass die Menschen erkannt haben, dass sie am Reichtum, den sie selber tagtäglich produzieren, nicht mehr adäquat partizipieren, so, wie das noch in den 60er- und 70er-Jahren der Fall war.
Vielleicht liegt es daran, dass die beziehungsweise der Einzelne aufgrund der Rahmenbedingungen, der Lohndrückerei, des Erpressungspotenzials von Hartz IV und anderer Umstände einen angemessenen armutsfesten Lohn schon bei der Aufnahme ihres Arbeitsverhältnisses nicht mehr aushandeln können. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Menschen erkannt haben, dass die Sozialausgaben, in diesem Fall also der Transferbedarf trotz Vollzeitarbeit, einfach zu hoch sind und sich das Prinzip „Lohn plus Aufstockung vom Amt“ in vielen Fällen zu einem für die Gesellschaft nicht mehr akzeptablen Unternehmenskonzept entwickelt hat. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Tarifflucht der letzten Jahre die Wirkung der Tarifverträge, also der ausgehandelten Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Gewinn, derart stark nachgelassen hat, dass die Beschäftigten nur noch in einer gesetzlichen Regelung eine Lösung sehen, so, wie es in mittlerweile 20 von 27 europäischen Staaten der Fall ist.
Zur Erinnerung: Luxemburg hat als erstes europäisches Land 1944 einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt, Frankreich folgte 1950, die Niederlande 1968, Belgien 1975, Großbritannien 1999. Hätten wir eine Tarifbindung von bundesweit 90 Prozent wie in Skandinavien oder Österreich, dann wäre eine gesetzliche Regelung wahrscheinlich überflüssig. So aber brauchen wir sie dringend.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Anhörung hat eine deutliche Zustimmung auch der meisten Expertinnen und Experten zur Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes ergeben. Lediglich die beiden Kammervertreter von IHK und HWK haben diese eindeutig abgelehnt. Beide Vertreter gehen aber davon aus, dass alle ihre Mitglieder faire und auskömmliche Löhne zahlen würden. Die Nachfrage, wie sie denn in diesem Zusammenhang „fair und auskömmlich“ definieren würden, konnten sie nicht beantworten. Völlig zu Recht haben aber auch beide Kammervertreter darauf aufmerksam gemacht, dass sie keine Tarifvertragsparteien sind. Ich glaube, da hat wohl die benennende Fraktion den Überblick verloren.
Sie haben ausgeführt, dass Deutschland die europäische Sozialcharta aus dem Jahr 1964 unterschrieben hat, wo ja die Mindestlohngrenze definiert ist. Sie beträgt 60 Prozent des durchschnittlichen Nettolohnes im Lande. Können Sie mir sagen, wie hoch dieser Wert im Jahr 2012 ist?
Also, Herr Kollege, ich komme darauf zurück. Nach der Definition von der Armutsgefährdungsgrenze, die bei 60 Prozent des Nettolohnes liegt, bräuchten Sie einen Bruttostundenlohn von 12,24 bis 12,40 Euro, um sozusagen existenzsichernd über die Runden kommen zu können.
Bei dem Wert, den Sie angeben, 12,24 bis 12,40 Euro, ergibt sich ein Wert von 8,12 Euro. Inwiefern setzen Sie das dann gleich mit den geforderten 10 Euro, die Sie hier einbringen?
Herr Kollege, vielleicht warten Sie noch einen Moment, ich komme auf die unterschiedlichen Lohngrenzen zurück, was die Definition von Armutsgefährdung als auch von Armutsschwelle und so weiter angeht, und vielleicht können Sie dann in Ihrem Beitrag darauf Bezug nehmen.
Die kommunalen Spitzenverbände haben in der Anhörung erstaunlicherweise erklärt oder haben sich gar nicht geäußert, so muss ich es korrekt formulieren, da sie sich von der Forderung nicht direkt berührt fühlten. Der Landesseniorenbeirat – vor dem Hintergrund der Rentenentwicklung – und die Dienstleistungsgesellschaft ver.di unterstützen die Forderung der Volkinitiative im Grundsatz und auch in der Höhe von 10 Euro. Der stellvertretende Vorsitzende des DGB Nord schloss sich dem an und hat die Initiative auch selbst mit seiner Unterschrift unterstützt.
Der DGB hatte bereits 2006 existenzsichernde Entgelte gefordert und einen entsprechenden Beschluss gefasst. Auf dem 19. Bundeskongress im Jahr 2010 wurde dieser Beschluss dann weiterentwickelt und auf 8,50 Euro erhöht, und zwar mit folgender Maßgabe, ich zitiere: „Sollte der Mindestlohn nicht bis zum 1. Mai 2011 … gesetzlich abgesichert sein, wird der DGB-Bundesvorstand beauftragt, die Forderung entsprechend der Entwicklung in den führenden europäischen Industrieländern anzupassen.“ Zitatende. Ich gebe das hier an dieser Stelle nur deshalb so ausführlich wieder, weil es unter den Abgeordneten der Koalition Unsicherheit darüber gab, wo der DGB aktuell steht, und man dem stellvertretenden DGBVorsitzenden ganz offensichtlich nicht glaubte.
Meine Damen und Herren Abgeordnete, nach Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes, WSI, einem der weiteren zur Initiative angehörten Experten, liegt der notwendige Bruttolohn pro Stunde, um die Armutsschwelle von 50 Prozent des durchschnittlichen Bruttolohns zu überschreiten, im Jahr 2011 bei 10,74 Euro. Man setzt also hier sozusagen den Mindestlohn ins Verhältnis zum Bruttolohn. Internationale Forschung geht davon aus, dass der Durchschnittslohn in der Bundesrepublik bei 21,48 Euro liegt. Um auch die Armutsgefährdungsgrenze überwinden zu können, ist dem WSI zufolge ein Bruttostundenlohn zwischen 12,24 und 12,40 Euro notwendig. Ich wiederhole noch einmal: Um also die EUMindestvorgaben zu erfüllen, benötigen wir einen bundesweiten Bruttomindestlohn in Höhe von 10,74 Euro.
Meine Damen und Herren, meine Fraktion wird sich der Anhebung der Mindestlohnforderung der Volksinitiative nicht verweigern, wenn Sie diese beantragen sollten. Diese Diskussion spielte in der Anhörung und der anschließenden Befassung im federführenden Ausschuss nur eine untergeordnete Rolle. Ein Begleitgremium ähnlich der Low Pay Commission in Großbritannien und anderen Ländern würde die regelmäßige notwendige Anhebung begleiten.
Fakt ist, wir brauchen armutsfeste Löhne nicht nur, um die EU-Vorgaben zu erfüllen, sondern auch um den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine würdige, armutsfeste Entlohnung zu sichern und damit die Chancen für Kinder und Familien auf Teilhabe an der Gesellschaft zu erhöhen und im Gegenzug die Sozialausgaben zu minimieren.
Ihre Argumentation, Kollege Heydorn, dass ein Mindestlohn in Höhe von 10 Euro für Mecklenburg-Vorpommern zu hoch wäre, bedient letztendlich die Argumentation
für einen branchenspezifischen und regional unterschiedlichen Lohn und weicht damit auch von Ihrer eigenen bundespolitischen Linie ab. Und genau darum geht es, es geht um eine bundeseinheitliche Regelung und nicht um einen Mindestlohn speziell für Mecklenburg-Vor- pommern. Die dabei oft genutzte hilfeweise Bezugnahme auf die nach wie vor angeblich niedrigere Produktivität in Mecklenburg-Vorpommern gegenüber anderen Bundesländern ist unter Heranziehung der Investitionen in den letzten 20 Jahren stark anzuzweifeln und auch die Heranziehung des Kaitz-Index ist nur bedingt tauglich. Letztendlich wissen wir doch alle, wie Politik funktioniert. Was politisch gewollt ist, wird auch durchgesetzt und schlussendlich finanziert.
Und in den jüngsten Studien, ob international oder national, selbst in den Studien im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Wirkung von Branchenmindestlöhnen, konnte eine negative oder eine arbeitsplatzvernichtende Wirkung gar nicht nachgewiesen werden. Im schlimmsten Fall war die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in den anderen europäischen Ländern arbeitsplatzneutral, im besten Fall wurden zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen.
Ein Mindestlohn von 10 Euro würde das Realeinkommen der Beschäftigten um 17,7 Milliarden Euro erhöhen, die dieses auch nicht auf die hohe Kante legen würden, sondern für alltägliche Ausgaben in der Region verwenden, also vor Ort konsumieren. Und das kommt dann überwiegend der lokalen Wirtschaft zugute. Der Staatshaushalt würde um circa 2,5 Milliarden Euro für aufstockende Leistungen im Rahmen des SGB II entlastet und würde zudem ebenso wie die gesetzlichen Sozialversicherungen höhere Einnahmen generieren. Die Lohnsteigerung würde im Zweifelsfall die Gewinne schmälern und für Unternehmen, die durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 10 Euro eine besondere Belastung erfahren, kann man zeitweilig Entlastungsregelungen schaffen.
Meine Damen und Herren, es gibt nicht nur für meine Fraktion ausreichend Gründe, den gesetzlichen Mindestlohn, so, wie er von der Volksinitiative gefordert wird, zeitnah einzuführen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Das gilt für den Mindestlohn, das gilt für armutsfeste Renten, das gilt für die Angleichung der Renten Ost an West, die frühkindliche Bildung, auch für die Arbeitsmarktpolitik, aber das ist ein anderes spannendes Thema.
Zum Schluss, meine Damen und Herren Abgeordnete, muss ich aber auch noch mal auf die Arbeitsministerin zurückkommen. Statt getrieben von einem scheinbar endlos anhaltenden Verlust- und Phantomschmerz wegen der verlorenen OB-Wahl in Schwerin fortwährend die Oberbürgermeisterin der Landeshauptstadt zu attackieren, sollten Sie sich, Frau Ministerin, um Ihre eigenen Hausaufgaben kümmern und Ihrer eigenen Verantwortung gerecht werden. Sie, Frau Ministerin, haben hier an diesem Pult schon mehrfach versucht, gegen die linke OB der Landeshauptstadt zu schießen, unter anderem auch beim Thema Mindestlohn.
Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass Sie mit dafür verantwortlich sind, dass keine verpflichtende Mindestlohnbindung für kommunale Auftragsvergaben im Gesetz verankert wurde. Dann haben Sie uns und der Oberbürgermeisterin hier von diesem Pult aus am 29. August vorgeworfen, dass wir dort, wo wir Verantwortung tragen, diese beim Beispiel Mindestlohn nicht wahrnehmen. Wie haben Sie, respektive die Landesregierung, jedoch auf meine Kleine Anfrage unter dem Titel „Anwendung eines vergabespezifischen Mindestlohns in Mecklenburg-Vorpommern“ auf Drucksache 6/1104 einen Monat später geantwortet? Ich zitiere: „Es wird darauf hingewiesen, dass seit Inkrafttreten der Mindestlohnregelung im Vergabegesetz von Mecklenburg-Vorpommern erst gut zwei Monate vergangen sind.“ Zitatende.